Entscheidungsstichwort (Thema)
Widerlegung der Vermutung nach § 589 Abs. 2 S. 1 RVO
Leitsatz (amtlich)
Die Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Quarzstaublungenerkrankung und Tod des Versicherten (RVO § 589 Abs 2 S 1) ist nicht schon dann widerlegt, wenn die Ursachen der zum Tode führenden Erkrankung medizinisch ungeklärt sind.
Orientierungssatz
1. Die Widerlegung der Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs wird nicht durch eine lediglich theoretische Möglichkeit gehindert. Auch reichen für die Widerlegung der Vermutung bloße Zweifel nicht aus, sie genügen den Anforderungen der Offenkundigkeit nicht.
2. Die objektive Beweislast für die Offenkundigkeit trägt der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung; zu seinen Lasten geht also die mangelnde Offenkundigkeit. Sie ist nicht schon dann anzunehmen, wenn der ursächliche Zusammenhang unklar ist, denn die Vermutung gilt gerade für diesen Fall.
3. Zur Frage der Widerlegung der Vermutung des § 589 Abs 2 S 1 RVO bei malignem Lymphomen.
Normenkette
RVO § 589 Abs 2 S 1 Fassung: 1963-04-30; RVO § 589 Abs 2 S 2 Fassung: 1963-04-30; BKVO 7 Anl 1 Nr 34
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Klägerin Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zusteht.
Der am 14. Februar 1976 verstorbene Ehemann der Klägerin hatte zu seinen Lebzeiten von der Beklagten seit 1952 die Vollrente wegen einer Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) bezogen. Mit Bescheid vom 29. Juli 1976 lehnte die Beklagte es ab, Hinterbliebenenrente zu zahlen, weil der Versicherte an den Folgen eines bösartigen Tumorleidens verstorben sei. Damit sei offenkundig, daß sein Tod nicht mit der Berufskrankheit in ursächlichem Zusammenhang gestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen nach § 589 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren (Urteil vom 10. Oktober 1979). In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) hat sich die Beklagte bereit erklärt, falls eine sie bindende Entscheidung zur Gewährung von Witwenrente ergehe, der Klägerin auch die einmaligen Hinterbliebenenleistungen zu gewähren. Die Klägerin hat sich damit einverstanden erklärt und im Berufungsverfahren nur noch die Witwenrente begehrt.
Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung vom 15. April 1980 hat es im wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe die allein noch streitige Witwenrente nicht zu, weil offenkundig sei, daß der Tod ihres Ehemannes nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der anerkannten Berufskrankheit gestanden habe. Der Versicherte sei unmittelbar an einem Herz-Kreislaufversagen nach Teiloperation eines Retikulosarkoms im Koma verstorben. Die Ursachen der malignen Lymphome, an denen er gelitten habe, seien ungeklärt. Damit scheide die Vermutung einer unmittelbaren Ursachenverknüpfung zwischen Berufskrankheit und Krebserkrankung aus. Auch bestünden keine Zweifel am Fehlen eines mittelbaren Zusammenhanges.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie sieht die Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO nicht als widerlegt an.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung
der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird (§ 170 Abs 2 SGG). Die festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Im Hinblick auf die Erklärung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht, sie begehre nur noch Witwenrente, hat das LSG ausschließlich über diesen Anspruch befunden. Der Gesetzgeber hat im § 589 Abs 2 Satz 1 RVO die Vermutung aufgestellt, daß der Tod eines Versicherten, der an einer der in dieser Vorschrift genannten Berufskrankheiten mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH oder mehr gelitten hat, durch die Berufskrankheit verursacht worden ist. Der Ehemann der Klägerin litt an einer als Berufskrankheit anerkannten Quarzstaublungenerkrankung im Sinne der Nr 34 (jetzt Nr 4101) der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) mit einer MdE um 100 vH. Diese Vermutung kann zwar widerlegt werden, aber nur unter den Anforderungen des § 589 Abs 2 Satz 2 RVO mit seiner besonders verstärkten Beweislastverlagerung (vgl BSG in SozR Nr 7 zu § 589 RVO).
Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO materiell-rechtlichen Charakter hat oder ob sie dem Prozeßrecht zuzuordnen ist. Handelt es sich um eine Rechtsfrage, wann offenkundig der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang steht, dann ist sie vom LSG verkannt worden. Im anderen Falle hat es verfahrensfehlerhaft den vermuteten Ursachenzusammenhang als offenkundig widerlegt angesehen, was von der Klägerin hinreichend gerügt worden ist.
Nach der Rechtsprechung des Senats (BSG in SozR Nr 4 zu § 589 RVO) ist der nach § 589 Abs 2 Satz 1 RVO vermutete ursächliche Zusammenhang mit dem Grade der Offenkundigkeit widerlegt, wenn die Quarzstaublungenerkrankung mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit nicht rechtlich wesentliche Ursache des Todes ist. Das LSG hat ausgeführt, ernsthafte Zweifel am Fehlen derartiger Kausalbeziehungen könnten nicht schon durch ganz entfernte, lediglich theoretische Möglichkeiten geweckt werden, es müsse sich vielmehr um konkrete und ernsthafte Möglichkeiten handeln, wonach die Berufskrankheit die unmittelbar zum Tode führende Gesundheitsstörung beeinflußt und daher zum Tode des Versicherten beigetragen haben könnte. Das entspricht nicht der Rechtsprechung des Senats (BSG in SozR Nr 4 zu § 589 RVO), wonach keine Bedenken bestehen, bei einer nur ganz entfernten, dh einer lediglich theoretischen Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Silikose und dem Tod des Versicherten anzunehmen, daß der Tod ohne jeden ernsthaften Zweifel nicht durch die Silikose verursacht worden ist. Das LSG hat insoweit die Entscheidung des Senats vom 18. Dezember 1973 - 5 RKnU 31/72 -, auf die es sich beruft, nicht zutreffend wiedergegeben. Darin ist eine Verletzung des § 589 Abs 2 RVO verneint worden, weil das Berufungsgericht beim Bestehen einer konkreten und ernsthaften Möglichkeit des Kausalzusammenhangs die Vermutung als nicht widerlegt angesehen hat.
Die Widerlegung der Vermutung des ursächlichen Zusammenhangs wird also nicht durch eine lediglich theoretische Möglichkeit gehindert. Im Unterschied dazu stellt es das LSG darauf ab, daß Zweifel am Fehlen derartiger Kausalbeziehungen nicht durch lediglich theoretische Möglichkeiten geweckt werden könnten. Das aber ist eine verfehlte Sicht der Problematik, denn für die Widerlegung der Vermutung reichen bloße Zweifel nicht aus, sie genügen den Anforderungen der Offenkundigkeit nicht. Die ernsthafte Möglichkeit, daß die Berufskrankheit zum Tode beigetragen haben könnte, kann immer nur die Widerlegung der Vermutung scheitern lassen, nie aber die Widerlegung begründen. Wenn das LSG konkrete und ernsthafte Möglichkeiten des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Berufskrankheit und den zum Tode führenden Gesundheitsstörungen für erforderlich hält, dann prüft es damit nicht die Widerlegung der Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO sondern fordert für ihre Anwendung im Gesetz nicht enthaltene Voraussetzungen. Die Vermutung ist aber nicht daran geknüpft, daß ernsthafte Möglichkeiten des Zusammenhangs aufgezeigt werden.
Das LSG hat festgestellt, die Ursachen maligner Lymphome seien ungeklärt. Daraus hat es den Schluß gezogen, die Vermutung einer unmittelbaren Ursachenverknüpfung zwischen der Berufskrankheit und der Krebserkrankung scheide aus, weil derartige Erwägungen rein theoretischer Natur seien und sich auf keinerlei konkrete naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse über solche Möglichkeiten des Ursachenzusammenhangs gründeten. Zu Recht greift die Klägerin insoweit das angefochtene Urteil an.
Die Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO gilt immer dann, wenn die silikosebedingte MdE mindestens 50 vH beträgt. Sie beseitigt mit rechtlichen Mitteln die Ungewißheit über den ursächlichen Zusammenhang und ist nur dann widerlegt, wenn das Fehlen der Kausalität offenkundig ist. Die objektive Beweislast für die Offenkundigkeit trägt der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung; zu seinen Lasten geht also die mangelnde Offenkundigkeit. Sie ist nicht schon dann anzunehmen, wenn der ursächliche Zusammenhang unklar ist, denn die Vermutung gilt gerade für diesen Fall. Fordert man - wie das LSG - konkrete naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnisse über solche Möglichkeiten eines Ursachenzusammenhangs, dann folgt die Ablehnung der Witwenrente schon aus der Anwendung der generell im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Regeln für die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs. Die Beweislastverlagerung in § 589 Abs 2 RVO bezweckt aber, die Gewichte der üblichen Kausalitätsprüfung anders zu verteilen. Die Vermutung soll eine Entscheidung zugunsten der Hinterbliebenen des Versicherten ermöglichen, wenn die Ursache seines Todes nicht positiv oder negativ festgestellt werden kann. Sind die Ursachen einer Erkrankung - wie der malignen Lymphome - ungeklärt, so kann daraus allein nicht auf das Fehlen einer realen Möglichkeit der Verursachung durch die Silikose geschlossen werden. Generell kann nämlich nicht gesagt werden, daß die Ungeklärtheit nur eine theoretische Möglichkeit der Kausalität zulasse; die reale Möglichkeit kann dann möglicherweise gerade wegen der Ungeklärtheit nicht ausgeschlossen werden.
Auch wenn die Ursachen maligner Lymphome ungeklärt sind, so läßt sich daraus nicht ohne weiteres herleiten, daß die Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO nicht mit dem Grade der Offenkundigkeit widerlegt werden kann. In solchen Fällen ist bei der Prüfung nach Satz 2 der genannten Vorschrift zunächst die Frage zu stellen, ob sich die Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Berufskrankheit und den malignen Lymphomen mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit verneinen läßt. Kann das nicht festgestellt werden, so muß der Versuch unternommen werden, die Möglichkeit der kausalen Verknüpfung zu qualifizieren. Läßt sich beweiskräftig aussagen und begründen, daß es sich nur um eine ganz entfernt liegende, rein theoretische Möglichkeit handelt, so kann die Vermutung als widerlegt angesehen werden. Ist dagegen die Reduzierung der Möglichkeit auf das erwähnte Maß nicht zu beweisen, so bleibt es bei dem Grundsatz des Satz 1, wonach Witwenrente zu gewähren ist. Die Aussage darüber, ob ursächliche oder teilursächliche Zusammenhänge zwischen Quarzstaublungenerkrankung und malignen Lymphomen nicht angenommen werden können, weil sie nicht bekannt sind, bringt für die Widerlegung der Vermutung nicht die entscheidenden Erkenntnisse. Es kommt vielmehr darauf an, ob sich trotz der Unklarheiten über die Ursachen dieser Systemerkrankung, der malignen Lymphome, Klarheit über das Ausmaß der Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs mit der Quarzstaublungenerkrankung gewinnen läßt. Etwas anderes läßt sich auch nicht aus dem Urteil des BSG vom 12. Februar 1970 - 7/2 RU 288/86 - entnehmen. Dort ist trotz der Unklarheiten über die Ursachen von Krebserkrankungen im konkreten Fall als bewiesen angesehen worden, daß offenkundig die Silikose den Tod des Versicherten im medizinischen Sinne nicht in erheblichem Maße verursacht hat.
Das LSG wird daher weitere Feststellungen darüber zu treffen haben, ob der Tod des Versicherten offenkundig in keinem mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit der Silikose gestanden hat.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen