Leitsatz (amtlich)

Verwaltungsvorschriften zur Ausführung eines Gesetzes, deren Inhalt in dem Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat, sind für die Auslegung des Gesetzes auch dann nicht von Bedeutung, wenn ihr Inhalt sich deckt mit den Erklärungen von Regierungsvertretern bei der Beratung des Entwurfs des Gesetzes in einem Ausschuß einer gesetzgebenden Körperschaft (Fortführung BSG 1958-01-14 11/8 RV 991/55 = BSGE 6, 252. Fortführung BSG 1957-12-10 11/9 RV 1076/56 = BSGE 6, 175).

 

Normenkette

BVG § 47 Fassung: 1956-06-06, § 33 Fassung: 1956-06-06

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. Januar 1956 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Regierungspräsident - Forstabteilung - in Lüneburg bewilligte den Klägern - den Kindern des im Kriege vermißten Revierförsters Hans W... - und ihrer Mutter Hinterbliebenenbezüge nach den allgemeinen beamtenrechtlichen Vorschriften; der Mutter der Kläger wurde neben dem Witwengeld auch für jedes der Kinder ein Kinderzuschlag zuerkannt.

Das Versorgungsamt (VersorgA.) Köln gewährte den Klägern mit Bescheid vom 23. Juli 1951 die Waisengrundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Waisenausgleichsrente versagte es, weil der Lebensunterhalt der Kläger "auf andere Weise" (§ 47 Abs. 3 BVG) sichergestellt sei. Am 3. Juli 1952 beantragten die Kläger nochmals, ihnen Ausgleichsrente zu gewähren. Den Antrag lehnte das VersorgA. durch Bescheid vom 10. Juli 1952 ab, weil nach den Verwaltungsvorschriften zu § 47 BVG der Kinderzuschlag, der zu den Hinterbliebenenbezügen nach beamtenrechtlichen Grundsätzen gewährt werde, zum Einkommen der Waise zähle. Den Einspruch wies der Beschwerdeausschuß am 14. April 1953 unter Hinweis auf die Verwaltungsvorschrift Nr. 1 Abs. 2 zu § 47 BVG zurück. Das Sozialgericht (SG.) Köln hob durch Urteil vom 23. November 1954 die Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 14. April 1953 und den Bescheid des VersorgA. Köln vom 10. Juli 1952 auf und verurteilte den Beklagten, an die Kläger Ausgleichsrente zu zahlen. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 25. Januar 1956 das Urteil des SG. Köln vom 23. November 1954 auf und wies die Klage ab: Kinderzuschläge, die eine Witwe zu ihren Hinterbliebenenbezügen nach beamtenrechtlichen Grundsätzen erhalte, seien auf die Waisenausgleichsrente anzurechnen; dem stehe nicht entgegen, daß diese Zuschläge rechtlich als Teil des Einkommens der Witwe anzusehen seien; entscheidend sei nicht, wer die Zuschläge erhalte, sondern zu wessen Unterhalt sie bestimmt und verfügbar seien. Die Revision ließ das LSG. zu. Das Urteil wurde den Klägern am 3. Januar 1957 zugestellt. Am 11. Januar 1957 legten sie Revision ein und beantragten,

das Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 25. Januar 1956 sowie den Bescheid des VersorgA. Köln vom 10. Juli 1952 und die Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 14. April 1953 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihnen Waisenausgleichsrente ab 1. Juli 1952 unter Nichtanrechnung der nach beamtenrechtlichen Vorschriften gezahlten Kinderzuschläge zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Am 1. April 1957 begründeten die Kläger - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis 3. April 1957 - die Revision: Das LSG. habe § 47 Abs. 3 BVG nicht richtig angewandt; die Kinderzuschläge seien nicht als "sonstiges Einkommen" auf die Ausgleichsrente der Waisen anzurechnen; es handele sich hierbei nicht um Einkommen der Waisen, sondern um Einkommen der Mutter; nach dem Wortlaut des Gesetzes seien jedoch nur Einkünfte der Waisen auf die Waisenausgleichsrente anzurechnen.

Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG).

II.

Die Voraussetzung für die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Einverständnis der Beteiligten (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG) - ist gegeben.

Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

Nach § 47 Abs. 1 und 3 BVG erhalten Waisen, deren Lebensunterhalt nicht auf andere Weise sichergestellt ist, Ausgleichsrente, soweit sie zusammen mit den für den Unterhalt der Waisen zur Verfügung stehenden sonstigen Einkommen bestimmte Monatsbeträge nicht übersteigt. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 14. Januar 1958 - 11/8 RV 991/55 - entschieden hat, gehören die Kinderzuschläge, die neben dem Witwengeld nach den Vorschriften für die Besoldung der Beamten gezahlt werden, nicht zu dem "für den Unterhalt der Waise zur Verfügung stehenden sonstigen Einkommen" im Sinne von § 47 Abs. 3 BVG. Der Senat sieht keinen Anlaß, von dieser Rechtsauffassung abzuweichen; die Bedenken, die der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) in dem Rundschreiben vom 3. März 1958, BVersorgBl. 1958 S. 38, und Wilke in "Die Kriegsopferversorgung" 1958 S. 41 ff. [43] geltend gemacht haben, greifen nicht durch. Es ist daran festzuhalten, daß die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes und die Verwaltungsvorschriften zur Ausführung eines Gesetzes für die Auslegung nur insoweit Bedeutung erlangen, als die Auffassung, die sich aus ihnen ergibt, im Gesetz erkennbar Ausdruck gefunden hat; die Auslegung muß sich immer im Rahmen des noch "möglichen" Wortlauts, äußerstenfalls des Wortsinns und des Sinnzusammenhangs des Gesetzes, halten. In dem Urteil vom 14. Januar 1958 ist dargelegt, daß dem BVG kein Hinweis darauf zu entnehmen ist, daß die Kinderzuschläge, die der Mutter auf Grund ihres Anspruchs auf Hinterbliebenenbezüge zu dem Witwengeld nach beamtenrechtlichen Vorschriften gezahlt werden, auf die Ausgleichsrente der Waise anzurechnen sind. Unerheblich ist es daher, daß der Bundestagsausschuß für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen bei der Beratung über den Entwurf des BVG "in einer Reihe von Fällen von einer Verankerung seiner Wünsche in Gesetz Abstand genommen" hat, "da durch die Vertreter der Bundesregierung erklärt wurde, daß die Auslegung und Durchführung im Sinne der Ausschußbeschlüsse gewährleistet wird". Die Ansicht, solche Erklärungen der Regierungsvertreter seien "wesentlicher Bestandteil der Gesetzesauslegung" geworden, und die Verwaltungsvorschriften, die mit ihnen übereinstimmen, hätten als "authentische Auslegung des Gesetzes" zu gelten (so das Rundschreiben vom 3.3.1958), ist nicht richtig; Verwaltungsvorschriften haben nicht die Aufgabe, das Gesetz "authentisch" auszulegen; Erklärungen der Regierungsvertreter sind Vorgänge aus der Entstehungsgeschichte; sie können von Bedeutung sein, wenn der Gesetzeswortlaut und der Wortsinn verschiedene Auslegungen zulassen; sie sind aber ohne Bedeutung für die Gesetzesauslegung, wenn die Auffassung, die sie wiedergeben, auch durch den noch "möglichen" Wortsinn und den Zusammenhang der einzelnen Vorschriften nicht gedeckt wird; ist dies - wie hier - der Fall, so ist es auch unerheblich, daß die Erklärungen protokollarisch festgehalten worden sind und daß der Bundestag die Entschließung des 26. Ausschusses vom 19. Oktober 1950 angenommen hat, die lautet: "Der Ausschuß für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen hat bei der Beratung des Entwurfes eines Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz) in einer Reihe von Fällen von einer Verankerung seiner Wünsche im Gesetz selbst Abstand genommen, da durch die Vertreter der Bundesregierung erklärt wurde, daß die Auslegung und Durchführung im Sinne der Ausschußbeschlüsse gewährleistet wird. Diese Erklärungen der Regierungsvertreter sind protokollarisch festgehalten worden. Sie sind damit ein wesentlicher Bestandteil der Gesetzesauslegung geworden. Der Bundestag schließt sich dem Wunsche des Ausschusses an, daß diese grundsätzlichen Erklärungen bei der Auslegung und Durchführung des Gesetzes beachtet werden." Aus dieser Bundestagsentschließung kann auch schon deshalb kein für die Entscheidung der hier zu beurteilenden Frage wesentlicher Gesichtspunkt entnommen werden, weil sie unbestimmt gehalten ist ("in einer Reihe von Fällen") und nicht erkennen läßt, daß gerade die Regelung, die sich aus den Erklärungen der Regierungsvertreter zur Frage der Anrechnung beamtenrechtlicher Kinderzuschläge auf die Waisenrenten ergibt, einem Wunsch des Ausschusses im Sinne der Bundestagsentschließung entsprochen hat; es ist nicht anzunehmen, daß es der Wille von "Ausschuß und Plenum" des Bundestags gewesen ist, daß jede Erklärung oder Erläuterung eines Regierungsvertreters bei den Beratungen des Gesetzesentwurfs "wesentlicher Bestandteil der Gesetzesauslegung" werden sollte. Schon aus diesem Grunde beruft sich der BMA. zu Unrecht auf die Entschließung des Bundestages vom 19. Oktober 1950. Weder Vorgänge aus der Entstehungsgeschichte noch Verwaltungsvorschriften, die ihnen Rechnung tragen, sind für die Auslegung des Gesetzes durch die Gerichte von Bedeutung, wenn die Auffassung, die sich aus ihnen ergibt, im Gesetz keinen Ausdruck gefunden hat; Verwaltungsvorschriften, deren Inhalt sich deckt mit den Erklärungen von Regierungsvertretern bei der Beratung eines Gesetzesentwurfs in einem Ausschuß einer gesetzgebenden Körperschaft, sind für die Auslegung des Gesetzes nicht etwa in höherem Maße rechtserheblich als andere Verwaltungsvorschriften; die Auslegung des Gesetzes, die in Streitfällen den Gerichten obliegt, kann von der Verwaltung nicht durch den Erlaß von Verwaltungsvorschriften vorweggenommen, "präjudiziert" werden. Fehl gehen auch die Hinweise auf gesetzliche Vorschriften anderer Rechtsgebiete, insbesondere auf § 1649 BGB und die Bestimmungen über die Gewährung von Kindergeld. Diese Vorschriften besagen nur, daß in gewissen Fällen Einkünfte, die rechtlich zum Einkommen der Eltern zählen, für den Unterhalt der Kinder zu verwenden sind; aus ihnen ergibt sich aber nichts darüber - und darauf allein kommt es an -, ob solche Einkünfte auf die Waisenausgleichsrente nach dem BVG anzurechnen sind oder nicht. Unzutreffend ist schließlich die Ansicht, der erkennende Senat weiche von der Rechtsauffassung anderer Senate des Bundessozialgerichts ab; über die hier streitige Frage haben andere Senate bisher nicht zu entscheiden gehabt, insbesondere auch nicht der 9. Senat in seinem Urteil vom 5. Dezember 1956, BSG. 4 S. 165, (so zutreffend Geede in "VdK-Mitteilungen" 1958 S. 257 [258]).

Hiernach hat das LSG. den § 47 Abs. 3 BVG unrichtig angewandt (die Verordnung zur Durchführung des § 33 BVG vom 2.8.1958, BGBl. I S. 567, ist erst am 1.5.1957 in Kraft getreten); das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind; das LSG. hat bisher nicht festgestellt, ob etwa Leistungen der Mutter auf Grund ihrer Unterhaltungspflicht als sonstiges Einkommen auf die Waisenausgleichsrente anzurechnen sind (BSG. 4 S. 267 ff.). Die Sache ist unter diesen Umständen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 140

NJW 1958, 1845

MDR 1958, 878

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