Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit des AFG § 44 Abs 4. unechte Rückwirkung
Orientierungssatz
Verfassungsmäßigkeit des AFG § 44 Abs 4 - unechte Rückwirkung:
1. AFG § 44 Abs 4 idF des AFGHStruktG und seine Heranziehung für die Fälle, in denen der Antragsteller sich bereits in einer laufenden Maßnahme befindet, verstößt nicht gegen GG Art 14 und 20 .
2. Eine unechte Rückwirkung ist nur dann verfassungswidrig, wenn sie in einen Vertrauenstatbestand eingreift und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse des Einzelnen am Fortbestand des bisherigen Zustandes nicht übersteigt (vgl BVerfG 1973-10-03 1 BvL 30/71 = BVerfGE 36, 73 ).
Normenkette
AFG § 44 Abs 4 Fassung: 1975-12-18; AFGHStruktG Art 1 § 2 Nr 4 Fassung: 1975-12-18; GG Art 14 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Abs 3 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 29.11.1977; Aktenzeichen L 1 Ar 61/77) |
SG Kassel (Entscheidung vom 30.11.1976; Aktenzeichen S 5 Ar 48/76) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. November 1977 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten höheres Unterhaltsgeld (Uhg) für die Zeit nach dem 9. Januar 1976. Die Beteiligten streiten über die Höhe des Betrages, der von dem Einkommen des Klägers nach Inkrafttreten des Haushaltsstrukturgesetzes (HStruktG-AFG) vom 18. Dezember 1975 - BGBl I 1975, 3113 - gemäß § 44 Abs 4 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) anzurechnen war.
Der Kläger nahm in der Zeit vom 1. April 1974 bis März 1977 an einer Umschulungsmaßnahme zum Krankenpfleger an der Krankenpflegerschule am Stadtkrankenhaus A teil. Während der Maßnahme erhielt er von der Stadt A eine Ausbildungsvergütung, die zuletzt brutto 965,06 DM betrug.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger für die Dauer der Maßnahme Uhg, das in der Folge mehrfach neu festgesetzt wurde. Mit Wirkung vom 9. Januar 1976 setzte die Beklagte das Uhg insoweit neu fest, als sie von dem anzurechnenden Einkommen des Klägers nur noch einen Freibetrag von wöchentlich 15,- DM abzog (vor Inkrafttreten des HStruktG-AFG: 50,- DM wöchentlich) - Bescheid vom 12. Januar 1976; Widerspruchsbescheid vom 29. Januar 1976 -.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. November 1976). Es hat die Berufung zugelassen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29. November 1977 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt:
Nach dem neugefaßten § 44 Abs 4 AFG iVm Art 1 § 2 Abs 4 HStruktG-AFG sei mit Beginn des ersten Zahlungszeitraums nach dem 1. Januar 1976 lediglich noch ein Freibetrag von 15,- DM wöchentlich dem Bildungswilligen zugute zu halten. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Anwendung der Übergangsregelung beständen nicht. Es handele sich hier um einen Fall der unechten Rückwirkung. In einem solchen Falle sei das Vertrauen des Einzelnen auf den Fortbestand einer bestimmten gesetzlichen Regelung mit der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit abzuwägen. Das Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Durchführung des HStruktG-AFG übersteige hier das Interesse des Klägers an einem Fortbestand der alten Rechtslage.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des Art 1 § 2 Nr 1 HStruktG-AFG sowie des § 44 Abs 4 AFG , Er ist der Auffassung, daß er sich im Interesse einer langfristigen und sinnvollen Planung auf eine Fortgeltung des ursprünglichen § 44 Abs 4 AFG habe einrichten dürfen.
Er beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil und das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 9. Januar 1976 ein Unterhaltsgeld zu zahlen, das unter einer Anrechnung der Ausbildungsvergütung bei einem Freibetrag von 50,- DM wöchentlich errechnet sei.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt ( § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung eines Uhg ab 9. Januar 1976, das von einem anrechnungsfreien Betrag der Ausbildungsvergütung von 50,- DM wöchentlich ausgeht. Nach § 44 Abs 4 des AFG idF des am 1. Januar 1976 in Kraft getretenen HStruktG-AFG wird auf das Uhg Einkommen, das der Bezieher von Uhg aus einer unselbständigen oder selbständigen Tätigkeit erzielt, angerechnet, soweit es nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge, der Beiträge zur Bundesanstalt und der Werbungskosten 15,- DM wöchentlich übersteigt.
Gemäß Art 1 § 2 Nr 1 HStruktG-AFG sind die §§ 34 bis 49 des AFG für die Antragsteller in der alten Fassung anzuwenden, die bei Inkrafttreten des Gesetzes bereits an einer laufenden beruflichen Bildungsmaßnahme teilnehmen und vor diesem Zeitpunkt Leistungen beantragt haben. Ausdrücklich ausgenommen ist aber ua der § 44 Abs 4 AFG . Gemäß Art 1 § 2 Nr 4 HStruktG-AFG ist § 44 Abs 4 AFG mit Beginn des ersten Zahlungszeitraumes nach Inkrafttreten des Gesetzes in der Neufassung anzuwenden. Das war nach den bindenden Feststellungen des LSG bei dem Kläger der 9. Januar 1976. Die Beklagte hat insoweit das Gesetz richtig angewendet.
Gegen § 44 Abs 4 AFG in der Neufassung und seine Heranziehung für die Fälle, in denen der Antragsteller sich bereits in einer laufenden Maßnahme befindet, bestehen keine Bedenken in verfassungsrechtlicher Hinsicht.
Zwar kann der Anspruch auf Uhg als ein vermögenswertes subjektivöffentliches Recht angesehen werden, das Merkmale des Eigentumsbegriffes iS von Art 14 Grundgesetz (GG) aufweist, weil es von Beitragsmitteln der Versicherten finanziert wird (vgl BVerfGE 11, 221, 226 ; 14, 288, 293 ; 22, 241, 253 ; 29, 22, 33 f; 31, 185, 189 ff). Die Einbeziehung des Unterhaltsgeldanspruchs in den Schutzbereich des Art 14 GG bedeutet jedoch nicht, daß der Gesetzgeber nicht befugt wäre, in gewissem Umfange in eine dem Anspruchsberechtigten daraus erwachsene Position einzugreifen. In Art 14 Abs 1 Satz 2 GG ist die Inhaltsbestimmung des Eigentums ausdrücklich dem einfachen Gesetzgeber aufgegeben. Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentumsrechts ist infolgedessen auf den Kernbereich der erworbenen öffentlich-rechtlichen Rechtsposition beschränkt, weil ein starres Festhalten an den jeweils durch Gesetz oder Satzung festgelegten Beträgen oder Leistungen die einfache Gesetzgebung weitgehend blockieren und eine Anpassung des Rechts an die Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse verhindern würde (vgl Urteil des Senats vom 15. Februar 1979 - 7 RAr 69/78 -; Wannagat, Bundesarbeitsblatt 1974, 261, 264). Eingriffe sind deshalb zulässig. Es muß lediglich abgewogen werden, ob die Einschränkung des Grundrechts zur Erreichung des vom Gemeinwohl gedeckten Zieles geeignet und notwendig und nicht übermäßig belastend und deshalb unzumutbar ist ( BVerfGE 21, 150, 155 ; Maunz/Herzog/Düring/Scholz, Kommentar zum GG, Art 14 RdNr 38). Weiterhin ist innerhalb der Eigentumsgarantie der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden ( BVerfGE 26, 215, 222 ; Meydam, Soziale Sicherheit, 1975, 292, 295).
Der Unterhaltsgeldanspruch des Klägers wird aufgrund der Neuregelung durch das HStruktG-AFG nicht in seinem Kernbereich berührt; denn nach der Übergangsregelung des Art 1 § 2 Abs 1 und 4 HStruktG-AFG wird lediglich ein höherer Teil des eigenen Einkommens angerechnet, so daß weiterhin gewährleistet bleibt, daß dem Kläger neben dem Uhg, das die Beklagte ihm zahlt, ein gewisser Teil des eigenen Einkommens verbleibt. Zu berücksichtigen ist dabei, daß das Uhg dazu bestimmt ist, denjenigen den Lohn zu ersetzen, die während und wegen der Maßnahme keine eigenen Einkünfte haben. Ein erheblicher Teil der Personen, die von der Beklagten mit der Zahlung von Uhg gefördert werden, hat somit lediglich das Uhg zur Verfügung, von dem er anstelle des bisher bezogenen Lohnes leben muß. Dem Kläger verbleibt demgegenüber neben dem Uhg trotz der erhöhten Anrechnung seines Einkommens immer noch ein Teil dieses Einkommens. Die neue Regelung im HStruktG-AFG sollte einer defizitären Entwicklung der Arbeitslosenversicherung entgegenwirken, die auf Dauer zu einer Überbeanspruchung der Kreditmärkte durch die öffentliche Hand geführt hätte (siehe zur allgemeinen Zielsetzung des HStruktG-AFG die BT-Drucks VII/4127 S 1). Weiterhin sollte die Höhe des Uhg an die aktuellen arbeitsmarktpolitischen Erfordernisse und Zielsetzungen angepaßt werden (s Begründung zu Art 20 des Regierungsentwurfs, BT-Drucks VII/4127 S 47 f).
Im Verhältnis zu dieser für das Gemeinwohl außerordentlich wichtigen Zielsetzung der gesetzgeberischen Neuregelung liegt in der nur geringfügigen Beeinträchtigung der Rechtsposition des Klägers keine unzumutbare Belastung (vgl BVerfGE 31, 229, 242 ). Art 14 GG ist deshalb mit der Änderung des § 44 Abs 4 AFG durch das HStruktG-AFG nicht verletzt worden.
Die neue Regelung steht ferner nicht im Widerspruch zum Rechts- und Sozialstaatsprinzip iS von Art 20 GG . Aus den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ergeben sich allerdings verfassungsrechtliche Grenzen auch für Gesetze mit unechter Rückwirkung, also für Normen, die zwar unmittelbar nur auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirken. Um einen solchen Sachverhalt handelt es sich hier.
Eine unechte Rückwirkung ist aber nur dann verfassungswidrig, wenn sie in einen Vertrauenstatbestand eingreift und die Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit das Interesse des Einzelnen am Fortbestand des bisherigen Zustandes nicht übersteigt ( BVerfGE 36, 73, 82 ). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Ein Vertrauen des Klägers darauf, daß sich die Höhe des Uhg nach Beginn der Bildungsmaßnahme nicht ändern würde, konnte berechtigterweise nicht entstehen. Das Uhg ist erst durch das 7. Änderungsgesetz zum Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 10. März 1967 (BGBl I 266) in das Recht der Arbeitsförderung eingeführt worden. Seit dem Inkrafttreten des AFG ist es sowohl in der Berechnungsweise als auch in der Höhe mehrfach abgeändert worden (vgl die Darstellung bei Hennig/Kühl/Heuer, Kommentar zum AFG Anm 1 zu § 44). Ein Vertrauen in einen unveränderten, stetig gleichbleibenden Fortbestand der vor dem Inkrafttreten des HStruktG-AFG bestehenden Ausgestaltung des Uhg konnte beim Kläger somit nicht entstehen. Es liegt infolgedessen keine Beeinträchtigung des Prinzips der Rechtssicherheit in der Form des Vertrauensschutzes vor.
Auch das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat lediglich, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung überhaupt zu sorgen. Die Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips im einzelnen obliegt aber im wesentlichen dem Gesetzgeber ( BVerfGE 1, 97, 105 ; 8, 274, 329 ; 36, 73, 84 ). Der Gesetzgeber kann aus berechtigten Gründen Änderungen der Sozialgesetze vornehmen.
Ferner ist das Grundrecht auf freie Berufswahl iS des Art 12 GG nicht verletzt. Der Kläger erhält weiterhin Uhg und wird damit weiterhin in die Lage versetzt, seine Ausbildung fortzuführen und abzuschließen.
Die Revision muß daher als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG .
Fundstellen