Orientierungssatz
Zur Frage, ob die bei einer truppenärztlich angeordneten Behandlung mit Röntgenstrahlen im Strahleninstitut einer Universitätsklinik erlittenen Gesundheitsstörungen als Folge einer Schädigung iS des BVG § 1 angesehen werden können.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 2. Juni 1964 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Mit Bescheid vom 7. Januar 1949 wurde dem Kläger wegen verschiedener Gesundheitsstörungen eine Rente nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H. bewilligt, die Anerkennung der auf eine nicht sachgemäße Behandlung mit Röntgenstrahlen zurückgeführten Gesundheitsstörungen aber abgelehnt, weil diese nicht die Folge von Einflüssen des Wehrdienstes seien. Dieser Bescheid ist bindend geworden. Im Januar 1950 trug der Kläger vor, er sei Soldat gewesen, als er von seiner Dienststelle zur Bestrahlung nach M geschickt worden sei, und ein Kamerad bescheinigte am 13. Januar 1950, daß der Kläger vom Truppenarzt dem Bestrahlungsinstitut in M überwiesen worden sei. Das Strahleninstitut der Universität M bestätigte am 15. Oktober 1950, der Kläger sei im März 1943 und von Mai bis August 1943 in Abständen von 8 Tagen mit Radium- und Röntgentiefenbestrahlungen behandelt worden; weitere Bestrahlungen hätten von Februar bis Juni 1944 und von August 1944 bis Februar 1945 stattgefunden. Die Anfrage, ob im Strahleninstitut der Universität M eine Strahlenschädigung festgestellt worden sei, wurde mit Schreiben vom 6. Januar 1951 verneint. Dr. K lehnte danach den ursächlichen Zusammenhang ab, weil keine Strahlenschädigung vorliege und die Veränderungen Folgen der ursprünglichen Erkrankung seien. Mit Bescheid vom 9. September 1951 wurde unter Übernahme der bisher anerkannten Schädigungen die Rente in der bisherigen Höhe nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) bewilligt. Auf Grund weiterer Untersuchungen durch die Chirurgische Klinik und Poliklinik der Universität G, die zusätzlich noch eine Äußerung der Röntgen- und Strahlenabteilung der Medizinischen und Nervenklinik G herbeiführte, vertraten Dozent Dr. H und Dr. J in den Gutachten vom 30. April und vom 17. Mai 1956 die Auffassung, die Veränderungen müßten fast ausschließlich als Folgen einer Bestrahlung mit unzweckmäßiger, sehr hoher Strahlendosis betrachtet werden. Der Strahlenschaden gehe auf die Behandlung in den Jahren 1943/1944 zurück, der Beginn der Erkrankung falle in den Sommer 1949, eine erhebliche Verschlimmerung sei seit Ende 1953 eingetreten, durch den Strahlenschaden werde eine MdE um 20 v. H. verursacht. Am 6. November 1956 teilte das Strahleninstitut mit, es habe nie als Wehrmachtslazarett gegolten, die Überweisung sei am 5. März 1943 von der Standortambulanz ausgesprochen worden und der letzte Arztbericht sei dem Luftschutzgerätelager A in K mitgeteilt worden. Dr. K vom Versorgungsamt (VersorgA) K war der Meinung, die auf die Strahlenschäden zurückzuführende Erkrankung sei durch den Wehrdienst weder entstanden noch verschlimmert worden, die Diagnose der Wehrmachtsärzte und die von ihnen vorgeschlagene Behandlung seien nicht falsch gewesen, und die Strahlentherapie sei auch nicht von einem der Wehrmacht unterstellten Institut vorgenommen worden. Mit Bescheid vom 5. Juni 1957 lehnte das VersorgA die Anerkennung der Strahlenschäden gemäß § 85 BVG ab, weil deren ursächlicher Zusammenhang mit schädigenden Einwirkungen des Wehrdienstes schon durch den Bescheid vom 7. Januar 1949 bindend abgelehnt worden sei. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg. Die Klage gegen die nicht mehr auf § 85 BVG, sondern auf eine sachliche Nachprüfung gestützte Ablehnung wurde abgewiesen, weil bei der ärztlichen Behandlung in der Wehrmacht keine Versäumnisse begangen worden, die Kunstfehler bei der Strahlentherapie nicht der Wehrmacht anzulasten und die gleichen Fehler auch bei einem vom Kläger selbst ausgewählten Arzt möglich gewesen seien.
In dem Gutachten vom 28. Dezember 1962 schätzten Dr. H und Oberarzt Dr. G von der Chirurgischen Universitätsklinik H die MdE infolge einer Harnröhrenstriktur ohne nachweisbare Nebenwirkungen ab 1. Dezember 1955 auf 10 v. H. Dr. K und Prof. Dr. B vom C.-Krankenhaus für Strahlenbehandlung der Universität H stellten in ihrem Gutachten vom 6. Februar 1963 fest, die Überschreitung der Strahlentoleranz habe zu bleibenden Gewebsveränderungen geführt, der ursächliche Zusammenhang zwischen der in den Jahren 1943 bis 1945 durchgeführten Radium- und Röntgenbestrahlungen müsse bejaht werden und die MdE infolge des Strahlenschadens sei ab Dezember 1955 mit 20 v. H., ab Anfang 1960 mit 30 v. H. zu bewerten. Durch Urteil vom 2. Juni 1964 hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des Sozialgerichts (SG) sowie den Bescheid vom 5. Juni 1957 mit dem Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 1957 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, die durch den Strahlenschaden bedingten Gesundheitsstörungen als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und dem Kläger ab 1. August 1952 Rente nach einer MdE um insgesamt 60 v. H., ab 1. Januar 1957 nach einer MdE um 70 v. H. zu gewähren. In der Begründung hat das LSG ausgeführt, der Beklagte habe nach Erstattung der Gutachten der Universität H in seinem Schriftsatz vom 26. März 1963 den Zusammenhang der jetzt bestehenden Beschwerden mit den 1943 bis 1945 durchgeführten Radium- und Röntgenbestrahlungen eingeräumt. Streitig sei nur noch, ob diese Schädigung den dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnissen im Sinne des § 1 BVG zuzurechnen sei. Dies müsse bejaht werden, weil der Kläger sich der von dem Truppenarzt für erforderlich erachteten Behandlung im Strahleninstitut der Universität M nicht habe entziehen können. Die Unmöglichkeit, den Arzt und die Art der Behandlung selbst zu wählen, sei eine Folge der dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnisse. Jede infolge einer solchen Behandlung eintretende Gesundheitsstörung sei daher "dienstbedingt", es sei denn, der Betroffene wäre auf die Möglichkeit einer Schädigung hingewiesen worden und trotzdem mit der Art der Behandlung ausdrücklich einverstanden gewesen, was hier aber nicht der Fall sei. In Übereinstimmung mit der vom Reichsversorgungsgericht in seiner Entscheidung vom 15. April 1921 ( RVersG 2, 38) vertretenen Auffassung seien daher die Strahlenschäden als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen dieses am 30. Juli 1964 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 31. Juli 1964 Revision eingelegt. Er beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 2. Juni 1964 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Kassel vom 17. Dezember 1959 zurückzuweisen.
In der Revisionsbegründung vom 11. September 1964, die am 15. September 1964 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen ist, rügt der Beklagte eine unrichtige Anwendung des § 1 Abs. 1 BVG. Er hält die Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts im vorliegenden Fall nicht für anwendbar, weil dieser ein anderer Sachverhalt, nämlich eine Behandlung durch Militärärzte zugrunde gelegen habe. Der Kläger sei aber von den Militärärzten sachgerecht beraten und es sei ihm die Heilbehandlung in einer Universitätsklinik ermöglicht worden, wobei er noch zwischen den Kliniken von G und M habe wählen können. Soweit bekannt, seien für nachteilige Folgen der Behandlung nicht schädigungsbedingter Leiden Versorgungsansprüche bisher nur zuerkannt worden, wenn die Schädigungen auf Versäumnisse von Wehrmachtsärzten zurückzuführen gewesen seien. Näher liege die Anwendung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHZ 4, 138 und 9, 145), wonach sich die rechtliche Verpflichtung des Fürsorgeträgers in der Gewährung der Krankenhilfe erschöpfe, während für Fehler der Behandlung ausschließlich der Dienstherr der damit befaßten Krankenanstalten haftbar sei. Im vorliegenden Falle habe aber keine Pflichtverletzung der Wehrmachtsärzte vorgelegen und Kunstfehler der zivilen Ärzte könnten nicht den dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnissen zugerechnet werden, auch wenn die Behandlung während der militärischen Dienstleistung stattgefunden habe. Dazu komme, daß der Kläger sich in einer Universitätsklinik habe behandeln lassen können, wo eine medizinisch vollendete Einrichtung und eine ärztlich vollkommene Therapie habe erwartet werden können.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Revision ist durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft und, da sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden ist, auch zulässig (§§ 164, 166 SGG). Sie ist aber nicht begründet, weil das LSG die durch eine unsachgemäße Behandlung mit Röntgenstrahlen erlittenen Gesundheitsstörungen im Ergebnis zutreffend als eine Schädigung infolge des Wehrdienstes im Sinne des § 1 BVG angesehen hat.
Es besteht kein Streit mehr darüber, daß die Gesundheitsstörungen, deren Anerkennung der Kläger begehrt, auf Fehler der vom Truppenarzt angeordneten Bestrahlung zurückzuführen sind, der sich der Kläger während seines Wehrdienstes im Strahleninstitut der Universität M unterzogen hat. Streitig ist nur, ob diese gesundheitliche Schädigung auch infolge eines im § 1 Abs. 1 BVG bezeichneten Vorganges eingetreten ist, wonach eine Versorgung nur für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung, durch einen Unfall während der Ausübung militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse erlittenen Schädigung gewährt wird.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG ist die Behandlung des damals im Wehrdienst befindlichen Klägers mit Röntgenstrahlen in den dafür in Betracht kommenden Einrichtungen einer der beiden dem Standort benachbarten Universitäten G oder M vom Truppenarzt angeordnet worden. Insoweit hat für den Kläger ein militärischer Befehl vorgelegen, der seinem Inhalt nach nicht nur die Art der Behandlung, sondern auch deren Durchführung in einer mit entsprechenden Einrichtungen versehenen Universitätsklinik vorschrieb. Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, daß der Truppenarzt dem Kläger die Wahl zwischen den Universitäten G oder M gelassen hatte. Entscheidend ist der Inhalt der ihm erteilten Anordnung, welche die Behandlung mit Röntgenstrahlen in einem Institut einer der genannten Universitäten zum Ziele hatte und auf Grund deren der Truppenarzt den Kläger wunschgemäß dem Strahleninstitut der Universität M zur ambulanten Behandlung mit Röntgenstrahlen überwiesen hat. Diesem Befehl konnte sich der Kläger als Angehöriger der Wehrmacht aber nicht entziehen. Mit seiner Befolgung hat er eine militärische Obliegenheit erfüllt und sich damit in einer militärischen Dienstverrichtung befunden. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die vom Truppenarzt befohlene Behandlung eine im Wehrdienst erworbene Erkrankung betraf oder der Wiederherstellung der vollen Dienstfähigkeit diente. Es ist auch unerheblich, ob die Behandlung im Strahleninstitut eines Lazaretts der Wehrmacht oder eines anderen Krankenhauses durchgeführt wurde. Wenn auch das Strahleninstitut in M und dessen Ärzte nicht der Wehrmacht unterstanden, so sind die behandelnden Ärzte doch für die Wehrmacht tätig geworden, denn der Truppenarzt hat sich ihrer zur Durchführung der von ihm angeordneten Strahlenbehandlung bedient. Es kann daher keinen Unterschied machen, ob die schädigende Strahlenbehandlung durch Militärärzte oder solche Zivilärzte ausgeführt worden ist, die der Kläger befehlsgemäß in Anspruch nehmen mußte. Der Kläger hat sonach während seines Wehrdienstes durch Befolgung eines militärischen Befehls und damit durch eine militärische Dienstverrichtung eine Schädigung erlitten, indem er sich der vom Truppenarzt befohlenen ambulanten Behandlung mit Röntgenstrahlen im Strahleninstitut der Universität Marburg unterwarf und sich dabei Gesundheitsschädigungen infolge einer nicht sachgemäßen Behandlung in diesem Institut zuzog. Darum besteht schon aus diesem Grunde ein Versorgungsanspruch nach § 1 BVG. Unter diesen Umständen kann außer Betracht bleiben, ob die zu dem gleichen Ergebnis führende Auffassung des LSG zutrifft, es bestehe eine auf die dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnisse zurückzuführende Schädigung, und ob die im angeführten Urteil des Reichsversorgungsgerichts gegebene Begründung für den vorliegenden Fall zutrifft.
Der Versorgungsanspruch des Klägers wird durch die in den Entscheidungen BGHZ 4, 138 und 9, 145 dargelegten Grundsätze, auf die der Beklagte hinweist, in keiner Weise berührt. In den erwähnten Entscheidungen sind die Ansprüche einer durch ärztliche Kunstfehler in einem Krankenhaus geschädigten Person gegen den Krankenhausträger erörtert, nicht aber die Ansprüche der geschädigten Person gegen die einweisende Stelle. Abgesehen davon können die auf der Grundlage einer Haftung nach bürgerlichem Recht getroffenen Erörterungen keine Bedeutung haben für den Versorgungsanspruch des Klägers nach dem BVG, der im vorliegenden Fall auf § 1 des BVG gestützt ist, wonach der Versorgungsanspruch für die bei einer militärischen Dienstverrichtung erlittene Schädigung zu gewähren ist, gleichgültig, ob die Schädigung auf einem schuldhaften Verhalten dritter Personen beruht oder nicht. Ebensowenig lassen sich aus dem Urteil des BSG vom 17. Mai 1962 - 11 RV 398/61 (vgl. BSG in SozR BVG § 1 Nr. 59) - Parallelen zum vorliegenden Fall ziehen. Die völlig andersartige Sachlage besteht hier in dem Umstand, daß die Schädigung bei einer militärischen Dienstverrichtung eingetreten ist. Im Gegensatz zu dem angeführten Urteil sind daher auch auf ganz anderer rechtlicher Grundlage Erörterungen notwendig geworden.
Das LSG hat somit die bei der truppenärztlich angeordneten Behandlung mit Röntgenstrahlen im Strahleninstitut der Universität M erlittenen Gesundheitsstörungen des Klägers im Ergebnis zutreffend als Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG angesehen. Die Revision ist somit nicht begründet und war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen