Entscheidungsstichwort (Thema)

Beweiswürdigung. Arzt. Sachverständiger

 

Orientierungssatz

Hat ein medizinischer Sachverständiger eine multiple Sklerose diagnostiziert, so hätte sich das Berufungsgericht bei ordnungsgemäßer Beweiswürdigung mit der Aussage dieses sachverständigen Zeugen auseinandersetzen müssen. Berücksichtigt das Gericht diese Aussage nicht, so hat es seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen und § 128 SGG verletzt.

 

Normenkette

SGG § 128

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.09.1965)

SG Würzburg (Entscheidung vom 25.09.1962)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. September 1965 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Der am 16. Mai 1928 geborene Ehemann und Vater der Klägerinnen, H B (B.) - er ist während des Revisionsverfahrens am 4. Januar 1966 gestorben -, leistete vom 2. Februar bis 8. Mai 1945 Wehrdienst und war anschließend bis zum 19. Juni 1946 in russischer Kriegsgefangenschaft. Von 1947 an arbeitete er zunächst als Bauarbeiter und Landarbeiter; er war ferner von 1949 bis 1955 als Bergarbeiter tätig. Im August 1958 stellte B. einen Antrag auf Versorgung wegen "chronischem Rheuma und Wasser". Mit Schreiben vom 28. Oktober 1958 teilte er mit, daß im Jahre 1954 seine jetzige Krankheit - eine multiple Sklerose -, die 1956 in der Neurologischen Universitätsklinik W festgestellt wurde, in Erscheinung getreten sei. Er habe bei seiner Heimkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft an chronischem Rheuma gelitten, das sich bis heute noch auswirke. B. legte ferner ärztliche Bescheinigungen des Dr. H vom 28. Oktober 1958 und des Dr. A vom 14. Oktober 1959 vor. Das Versorgungsamt (VersorgA) zog die Krankenblätter der Neurologischen Universitätsklinik W bei, aus denen sich ergibt, daß B. dort in den Jahren 1956 und 1959 wegen multipler Sklerose behandelt wurde. In einem nervenfachärztlichen Gutachten vom 23. Oktober 1959 führte Versorgungsarzt Dr. L aus, daß nach den Angaben des B. gegenüber der Neurologischen Universitätsklinik W die multiple Sklerose Ende 1955 erstmals in Erscheinung getreten sei. Bei der jetzigen Untersuchung sei von Gelenkschwellungen und "Wasser" vermutlich nach Dystrophie, womit wohl Ödeme gemeint seien, nicht zu erkennen. B. habe im übrigen auf ausdrückliches Befragen angegeben, daß er nie Gelenkschwellungen gehabt habe. Die multiple Sklerose sei keine Schädigungsfolge, weil kein zeitlicher Zusammenhang mit dem Wehrdienst bestehe. Es sei auch kein ursächlicher Zusammenhang vorhanden, selbst wenn der Kläger eine Hungerdystrophie und Rheuma in der russischen Kriegsgefangenschaft durchgemacht haben sollte; denn diese Erkrankungen seien sicher schon lange vor Auftreten der multiplen Sklerose abgeklungen gewesen. Diese Erkrankungen könnten im übrigen auch nicht als Ursache für die Nervenerkrankung angesprochen werden. Mit Bescheid vom 2. November 1959 lehnte das VersorgA W den Antrag des B. wegen Fristversäumnis ab und führte zusätzlich aus, daß die versorgungsärztliche Untersuchung durch Dr. L weder einen ursächlichen noch einen zeitlichen Zusammenhang der multiplen Sklerose mit dem Wehrdienst und der Gefangenschaft ergeben habe, weil diese Erkrankung erstmals im Jahre 1955 in Erscheinung getreten sei. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid des LVersorgA Bayern vom 20. Januar 1960).

Das Sozialgericht (SG) hat zunächst Auskünfte über die Erkrankungen des B. bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) L, der Landkrankenkasse M, der AOK G und der Innungskrankenkasse A eingeholt. Der behandelnde Arzt Dr. H hat in seiner Bescheinigung vom 8. Februar 1962 gegenüber dem SG angegeben, er könne sich nur noch daran erinnern, daß B. in seiner Praxis gewesen sei und Anzeichen einer Polysklerose vorgelegen hätten. Das SG hat ferner das Bergbautauglichkeitszeugnis vom 25. Mai 1951 beigezogen, in dem B. als "bergbautauglich" bezeichnet wurde. Ferner hat dem SG das Gesundheitszeugnis der Ruhrknappschaft vom 5. Februar 1954 vorgelegen, in dem B. als "gedingetauglich" angesehen wurde. Auf Ersuchen hat Dr. B in seiner Bescheinigung vom 2. Oktober 1960 dem SG mitgeteilt, daß B. im Jahre 1947 bei ihm in ärztlicher Behandlung gewesen sei. Nach seiner Erinnerung habe er B. nach seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft wegen eines schweren Eiweißmangelschadens, sekundärer Anämie und rheumatischer Beschwerden behandelt. Die Wiederherstellung des B. habe sich über eine lange Zeit hin erstreckt. Endlich hat das SG noch ein Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. J vom 22. September 1962 eingeholt. Der Sachverständige hat die Auffassung vertreten, daß sich die Annahme, die rheumatischen Beschwerden, die von B. seit der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Jahre 1946 geklagt wurden, seien sehr wahrscheinlich bereits der Beginn der multiplen Sklerose, weder belegen noch entsprechend begründen lasse. Nach dem Krankenblatt der HNO-Klinik W über die Behandlung vom 12. bis 21. Dezember 1950 und vom 4. bis 10. Januar 1951 wegen chronischer Tonsillitis habe B. zur Vorgeschichte angegeben, daß er im Jahre 1945 an Gelenkrheumatismus erkrankt sei, seit zwei Jahren dauernd Anginen habe und auch jetzt gelegentlich leichte rheumatische Schübe aufgetreten seien. Eine Behandlung des B. wegen rheumatischer Beschwerden im Jahre 1947 werde in der Bescheinigung des Dr. B vom 2. Oktober 1960 bestätigt. Irgendwelche Hinweise auf Residuen einer gelenkrheumatischen Erkrankung ließen sich jedoch aus den über den Gesundheitszustand orientierenden Befundunterlagen der Folgezeit ebensowenig entnehmen wie etwaige Folgen einer während der Gefangenschaft aufgetretenen Dystrophie. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, daß B. auf Grund der im Staatlichen Gesundheitsamt Würzburg am 25. Mai 1951 erhobenen Untersuchungsbefunde als bergbautauglich und in dem Gesundheitszeugnis vom 5. Februar 1954 als gedingetauglich beurteilt worden sei. In den bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Unterlagen befänden sich keine Anhaltspunkte für irgendwelche dem Krankheitsbild der multiplen Sklerose zuzuordnenden Erhebungen oder auch nur Verdachtsmomente in dieser diagnostischen Richtung. Vielmehr gehe aus den Krankenunterlagen hervor, daß sich die multiple Sklerose erst nach dem 5. Februar 1954 klinisch manifestiert habe. Die Ausführungen in dem Bericht des Dr. H vom 8. Februar 1962 seien nicht verwertbar, weil sie keine Angaben mit Befunden und Daten enthielten. Das SG Würzburg hat sich diesem Gutachten des Dr. J angeschlossen und die Klage durch Urteil vom 25. September 1962 abgewiesen.

Auf die Berufung des B. hat das Landessozialgericht (LSG) eine schriftliche Auskunft von dessen ehemaligem Kriegskameraden H F vom 24. Januar 1965 eingeholt, der mitgeteilt hat, er sei von Ende Mai bis Mitte Juli 1945 mit B. im Kriegsgefangenenlager H gewesen. B. sei etwa Ende Juni 1945 erkrankt und habe über Rücken- und Gliederschmerzen sowie Müdigkeit und Schwindel im Kopf geklagt. Er sei dann im Juli 1945 ins Lazarett gekommen; er selbst - F - sei kurz darauf abtransportiert worden. Das LSG hat ferner den früheren behandelnden Arzt des B. Dr. H durch das Amtsgericht Bonn vernehmen lassen. Dieser hat ausgesagt, er könne sich persönlich an B. nicht erinnern; in seiner Kartei befänden sich keine Unterlagen mehr, er könne jedoch nicht ausschließen, daß er B. ein- oder zweimal behandelt habe; wann diese Behandlung stattgefunden habe, könne er nicht mehr sagen. Aus seiner Bescheinigung vom 8. Februar 1962 sei zu ersehen, daß keine sicheren Anzeichen einer Polysklerose bei B. vorgelegen hätten. Er könne sich heute nicht mehr erinnern, auf Grund welcher Umstände er die im Arztbericht vom 8. Februar 1962 bekundeten Tatsachen festgestellt habe. Wenn er aber angegeben habe, daß B. in seiner Praxis war und Anzeichen einer Polysklerose hatte, so habe er das auf Grund eigener Untersuchung festgestellt. Die Behandlung könne annähernd zehn Jahre zurückliegen, weil er heute keine Karteiunterlagen mehr habe.

Durch Urteil vom 9. September 1965 hat das Bayerische LSG die Berufung des B. gegen die Entscheidung des SG Würzburg vom 25. September 1962 zurückgewiesen; es hat die Revision nicht zugelassen. Das Berufungsgericht hat in den Entscheidungsgründen im wesentlichen ausgeführt, B. leide unstreitig an einer multiplen Sklerose, über deren Wesen und Ursache in der medizinischen Wissenschaft noch keine einheitliche Auffassung bestehe. Es sei jedoch sicher, daß eine konstitutionsbedingte Krankheitsbereitschaft unerläßliche Voraussetzung für die Entstehung dieser Krankheit sei und daß exogene Faktoren als Teilursache nur dann in Erwägung gezogen werden könnten, wenn ein enger zeitlicher Zusammenhang nachweisbar sei. Bei B. habe sich im Jahre 1954 eine Gehbehinderung im rechten Bein eingestellt, die sich 1956 auf das linke Bein ausgedehnt und im Jahre 1957 durch weitere Verschlimmerung zur Arbeitsunfähigkeit geführt habe. Damit müsse der ursächliche Zusammenhang des Leidens mit wehrdienstlichen Einflüssen als ausgeschlossen angesehen werden, weil vom Zeitpunkt der Beendigung dieser Einflüsse am 19. Juni 1946 (Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft) bis zum Auftreten der Krankheit ein Zeitraum von etwa acht Jahren verflossen sei. Da B. gewisse Krankheitserscheinungen in der Kriegsgefangenschaft und im unmittelbaren Anschluß daran angegeben habe, sei noch zu prüfen gewesen, ob sichere Brückensymptome für die Zeit von der Kriegsgefangenschaft bis 1954, nachweisbar seien. Der Zeuge F habe im Schreiben vom 24. Januar 1965 berichtet, daß B. im Sommer 1945 in der Kriegsgefangenschaft über Rücken- und Gliederschmerzen sowie über Müdigkeit und Schwindel geklagt habe; B. selbst habe ein chronisches Rheuma angenommen. Da die Kriegsgefangenen damals ohne genügende Bekleidung auf blanker Erde schliefen und die Ernährung äußerst dürftig war, könne ein chronisches Rheuma und starke Unterernährung in der Kriegsgefangenschaft angenommen werden. Auch habe Dr. B in seiner Bescheinigung vom 2. Oktober 1960 erklärt, er habe B. nach seiner Erinnerung im Jahre 1947 wegen Dystrophie, Anämie und Rheumatismus behandelt. Damit sei das Fortbestehen der Beschwerden aus der Kriegsgefangenschaft lediglich für die Zeit bis 1947 nachgewiesen. Über den Gesundheitszustand des B. in der Folgezeit bis 1954 gäben die Aufstellung des Arbeitsamts A und die Mitteilungen der verschiedenen Krankenkassen lückenlose Auskunft. Danach seien in den sieben Jahren bis Dezember 1954 keine Gesundheitsstörungen, die als Vorboten oder Anzeichen einer multiplen Sklerose gewertet werden könnten, aufgetreten. Erst ab Dezember 1954 seien Zeiten der Arbeitsunfähigkeit wegen Lumbago gemeldet, die später rückblickend von den Ärzten als erstes Zeichen der multiplen Sklerose gewertet worden sei. Es seien somit Brückensymptome zwischen der Erkrankung an multipler Sklerose im Jahre 1954 und den zuletzt im Jahre 1947 nachgewiesenen gesundheitlichen Folgen der Kriegsgefangenschaft nicht vorhanden. Damit sei entsprechend den Gutachten der Dres. L und J der für die Anerkennung einer multiplen Sklerose als Schädigungsfolge i. S. einer Teilursache geforderte enge zeitliche Zusammenhang nicht gegeben. Diese Auffassung werde durch die Tatsache bestärkt, daß bei B. an Wirbelsäule, Lunge, Herz und Gliedmaßen bei der Bergbautauglichkeitsuntersuchung am 25. Mai 1951 keine Krankheitsbefunde erhoben worden seien und daß bei einer weiteren Untersuchung im Auftrag der Ruhrknappschaft am 5. Februar 1954 B. für gedingetauglich erklärt worden sei, wobei insbesondere Herz und Nerven keinen Befund gezeigt hätten.

Gegen dieses am 29. September 1965 zugestellte Urteil des LSG hat B. mit Schriftsatz vom 25. Oktober 1965 Revision eingelegt und mit den Schriftsätzen vom 26. und 28. Oktober 1965, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 27. bzw. 29. Oktober 1965, den Antrag gestellt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 9. September 1965 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H. wegen multipler Sklerose als Schädigungsfolge i. S. der Entstehung zuzusprechen,

hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

B. hat die Revision mit Schriftsatz vom 17. November 1965, auf den Bezug genommen wird, begründet; er rügt Verstöße gegen die §§ 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG. Hierzu trägt er insbesondere vor, das LSG hätte in dem angefochtenen Urteil die Angaben des Zeugen F nicht würdigen und verwerten dürfen, weil sie nicht unter eidesstattlicher Versicherung ihrer Richtigkeit abgegeben worden seien. Der sachverständige Zeuge Dr. H habe bei seiner Vernehmung am 4. März 1965 angegeben, er habe bei der Behandlung des B. auf Grund eigener Untersuchung Anzeichen einer Polysklerose bemerkt. Diese Zeugenaussage sei in dem angefochtenen Urteil überhaupt nicht verwertet worden, wahrscheinlich weil die Zeitangaben des Zeugen zu ungenau gewesen seien. Aus der Auskunft der AOK in Bad G hätte das LSG jedoch eindeutig entnehmen müssen, daß B. bei Dr. H vom 17. Januar bis 22. Januar 1953 in Behandlung gewesen sei. Damit sei erwiesen, daß die multiple Sklerose entgegen der Feststellung des LSG nicht erst im Jahre 1954, sondern bereits im Januar 1953 in Erscheinung getreten sei. Aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. J vom 22. September 1962 gehe ferner hervor, daß B. nach seinen Angaben gegenüber der HNO-Klinik W noch Ende 1950 und Anfang 1951 unter Rheumatismus gelitten habe. Das Berufungsgericht habe somit zu Unrecht angenommen, daß die Beschwerden aus der Kriegsgefangenschaft nur bis 1947 fortbestanden hätten, sie seien vielmehr mindestens bis 1951 festgestellt worden. Damit lägen aber Brückensymptome für die Zeit von 1946 bis 1953 vor.

Der Beklagte beantragt die Verwerfung der Revision als unzulässig; er hält die gerügten Verfahrensmängel und eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht für gegeben.

B. ist am 4. Januar 1966 gestorben und nach dem Erbschein des Amtsgerichts Lohr vom 28. Januar 1966 von den Klägerinnen je zur Hälfte beerbt worden. Mit Schriftsatz vom 2. Februar 1966 haben die Klägerinnen das durch den Tod des B. unterbrochene Verfahren aufgenommen.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Die Klägerinnen haben das durch den Tod des früheren Klägers B. unterbrochene Verfahren unter Vorlage eines Erbscheins ordnungsgemäß aufgenommen. Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung i. S. des Bundesversorgungsgesetzes das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). In der Revisionsbegründung werden Verstöße gegen die §§ 103, 106, 128 SGG gerügt und ferner eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG geltend gemacht. Hierbei genügt es für die Statthaftigkeit der Revision, wenn eine der erhobenen Rügen durchgreift; in einem solchen Falle braucht auf weitere Rügen, welche die Revision ebenfalls nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG statthaft machen könnten, nicht mehr eingegangen zu werden (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Nr. 122).

Im vorliegenden Falle hat das LSG - wie mit der Revision zutreffend gerügt worden ist - § 128 SGG verletzt. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In seinem Urteil hat es die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Ein Mangel des Verfahrens in bezug auf die Beweiswürdigung liegt insbesondere dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (BSG 1, 91) ist allerdings für eine hinreichende Würdigung der Sach- und Rechtslage in dem Urteil des Berufungsgerichts ein ausführliches Eingehen auf jedes einzelne Vorbringen der Beteiligten und eine ausdrückliche Auseinandersetzung damit nicht notwendig, sofern sich aus dem Urteil ergibt, daß das LSG alle für seine Entscheidung maßgebenden Umstände sachentsprechend gewürdigt hat. Das ist aber dann nicht der Fall, wenn das Gutachten eines Sachverständigen oder die Aussage eines Zeugen in einem für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentlichen Punkt in den Urteilsgründen übergangen worden ist und das Urteil deshalb nicht erkennen läßt, daß sich das Gericht seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet hat (BSG in SozR SGG § 128 Nr. 10). Diese Grundsätze für eine ordnungsgemäße Beweiswürdigung hat das LSG in dem angefochtenen Urteil nicht hinreichend beachtet.

Das Berufungsgericht ist in dem angefochtenen Urteil davon ausgegangen, daß die multiple Sklerose des B. als Schädigungsfolge nur dann anerkannt werden könnte, wenn sichere Brückensymptome für die gesamte Zeit seit der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft am 19. Juni 1946 bis zum Jahre 1954, in dem sich nach den eingeholten Gutachten der Sachverständigen diese Krankheit eindeutig manifestiert hat, nachweisbar sind. Es hat hierzu festgestellt, daß nach den Angaben des Zeugen F bei B. während der Kriegsgefangenschaft ein chronisches Rheuma und starke Unterernährung vorgelegen haben und daß das Fortbestehen der Beschwerden aus der Kriegsgefangenschaft nach der Bescheinigung des Dr. B vom 2. Oktober 1960 für die Zeit bis 1947 nachgewiesen ist. Das Berufungsgericht hat weiter festgestellt, daß nach 1947 in den folgenden sieben Jahren bis Dezember 1954 Gesundheitsstörungen, die als Vorboten oder Anzeichen einer multiplen Sklerose gewertet werden könnten, nicht aufgetreten und erst ab Dezember 1954 Zeiten der Arbeitsunfähigkeit wegen Lumbago gemeldet sind, die später rückblickend von den Ärzten als erstes Zeichen der multiplen Sklerose gewertet worden ist. Diese Feststellung des LSG, daß für die Zeit von sieben Jahren keine Brückensymptome für die multiple Sklerose vorhanden gewesen sind, hat die Revision insbesondere mit der Rüge einer Verletzung des § 128 SGG angegriffen. Diese Rüge greift durch.

B. hat in der Revisionsbegründung vorgetragen, daß LSG habe die Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. H, der am 4. März 1965 durch das Amtsgericht Bonn vernommen worden ist, überhaupt nicht gewürdigt. Der Zeuge habe angegeben, daß er bei der Behandlung des B. auf Grund eigener Untersuchung Anzeichen einer Polysklerose bemerkt habe, daß er aber eine genaue Angabe über die Behandlungszeit nicht machen könne. Aus der Auskunft der AOK in Bad G vom 26. Januar 1962, die sich in den Akten des SG befinde, hätte jedoch das LSG entnehmen müssen, daß B. von Dr. H im Januar 1953 behandelt worden ist. Im Zusammenhang mit dieser nachgewiesenen Behandlung bei Dr. H und dessen Aussage am 4. März 1965 hätte somit das LSG zu der Feststellung gelangen müssen, daß bereits im Januar 1953 Anzeichen für eine multiple Sklerose vorgelegen haben.

Das LSG hat zwar in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ausgeführt, daß exogene Faktoren als Teilursachen für die Entstehung der multiplen Sklerose nur dann in Erwägung gezogen werden können, wenn ein enger zeitlicher Zusammenhang nachweisbar ist. Es hat hierbei aber nicht zum Ausdruck gebracht, nach welchem Zeitraum im einzelnen ein solcher enger zeitlicher Zusammenhang nicht mehr angenommen werden kann; es hat vielmehr lediglich die Auffassung vertreten, daß bei einem Zeitraum von sieben Jahren ohne nachweisbare Brückensymptome ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der multiplen Sklerose des B. mit schädigenden Einflüssen seines Wehrdienstes oder der Kriegsgefangenschaft nicht gegeben ist. Nach der Auffassung des LSG kam es somit für seine Entscheidung wesentlich darauf an, ob in der Zeit von 1947 bis Dezember 1954, dem Zeitpunkt, in dem B. an Lumbago erkrankt war, Gesundheitsstörungen vorlagen, die als Anzeichen einer multiplen Sklerose gewertet werden können. Der sachverständige Zeuge Dr. H hat bei seiner Vernehmung am 4. März 1965 ausgesagt, daß er aus Anlaß der Behandlung des B. Anzeichen einer multiplen Sklerose festgestellt habe. Da das LSG bei sachgemäßer Würdigung des gesamten Ergebnisses des Verfahrens aus der Auskunft der AOK in Bad G vom 26. Februar 1962 hätte entnehmen müssen, daß B. im Januar 1953 von Dr. H behandelt worden ist, hätte es die Aussage dieses Arztes nicht übergehen dürfen; es hätte vielmehr würdigen müssen, ob nach dessen Aussage im Zusammenhang mit der Auskunft der AOK in Bad G nicht erst im Dezember 1954, wie das LSG angenommen hat, sondern schon im Januar 1953 - also fast zwei Jahre früher - Anzeichen für eine multiple Sklerose vorhanden gewesen sind. Mangels einer Feststellung des LSG, ob auch bei einem kürzeren Zeitraum als sieben Jahre der Mangel an Brückensymptomen zu einer Ablehnung des geltend gemachten Versorgungsanspruchs führen muß, war die Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. H für die Entscheidung des vorliegenden Falles nicht ohne weiteres ohne Bedeutung, so daß etwa aus diesem Grunde eine Würdigung der Zeugenaussage im Zusammenhang mit der durch die Auskunft der AOK in Bad G nachgewiesenen Behandlungszeit im Januar 1953 unterbleiben konnte. Hierbei kann dahinstehen, welches Ergebnis eine Würdigung der Zeugenaussage in dem angefochtenen Urteil durch das LSG gehabt hätte und ob es ohne Überschreitung der Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung zu der tatsächlichen Feststellung hätte gelangen können, es seien für die gesamte Zeit von 1947 bis Dezember 1954 keine Brückensymptome für eine multiple Sklerose nachgewiesen. Jedenfalls hätte sich das Berufungsgericht bei ordnungsgemäßer Beweiswürdigung mit der Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. H auseinandersetzen müssen. Da das LSG somit bei seiner Feststellung, es seien Brückensymptome für eine multiple Sklerose in der Zeit von 1947 bis Dezember 1954 nicht nachgewiesen, seine Überzeugung nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat, ist § 128 SGG verletzt.

Mit der Revision hat B. ferner vorgetragen, der Sachverständige Dr. J habe auf Seite 3 seines Gutachtens vom 22. September 1962 Angaben aus der Vorgeschichte in dem Krankenblatt der HNO-Klinik W, in der B. vom 12. bis 21. Dezember 1950 und vom 4. bis 10. Januar 1951 behandelt wurde, wiedergegeben, aus denen zu ersehen sei, daß B. im Jahre 1945 an Gelenkrheumatismus erkrankt gewesen sei, seit zwei Jahren dauernd Anginen gehabt habe und auch jetzt noch rheumatische Schübe aufträten. Wie Dr. J anschließend in seinem Gutachten ausführt, handelt es sich zwar insoweit nicht um ärztliche Befunde, sondern um Angaben des B. zur Vorgeschichte. Daß die HNO-Klinik W in dieser Hinsicht keine Befunde erhoben hat, erklärt sich jedoch zwanglos daraus, daß B. in der Klinik wegen einer chronischen Tonsillitis tonsillektomiert und eine Septumresektion und Cochotomie wegen stark behinderter Nasenatmung vorgenommen wurde. Immerhin ergibt sich aus den damaligen Angaben des B. zur Vorgeschichte, daß seine seit der Kriegsgefangenschaft bestehenden Beschwerden, die er für rheumatisch hielt, noch 1950/51 bestanden haben. Ob hierin Anzeichen einer multiplen Sklerose erblickt werden könnten, kann dahinstehen. Jedenfalls hätte das LSG, das diese Beschwerden bis 1947 auf Grund der Bescheinigung des Dr. B vom 2. Oktober 1960 für nachgewiesen angesehen und aus diesem Grunde Brückensymptome für die multiple Sklerose erst nach 1947 als nicht mehr vorliegend angenommen hat, die Angaben des B. zur Vorgeschichte im Krankenblatt der HNO-Klinik W in der Richtung würdigen müssen, ob diese Beschwerden als Vorboten einer multiplen Sklerose gewertet werden können. Es hätte in diesem Zusammenhang zumindest auch dazu Stellung nehmen müssen, ob die Angaben des B. glaubwürdig sind, zumal ihm damals die Erkrankung an multipler Sklerose noch nicht bekannt war und er erst im August 1958 einen Versorgungsantrag gestellt hat, so daß seine damaligen Angaben gegenüber der HNO-Klinik W nicht zweckbestimmt gewesen sein können. Da es nach der Auffassung des LSG entscheidend auf das Vorliegen von Brückensymptomen für die multiple Sklerose ankam, hätte es somit insbesondere die Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. H und auch die Angaben des B. über das Fortbestehen seiner Beschwerden über das Jahr 1947 hinaus in dem angefochtenen Urteil würdigen müssen. Die nicht zugelassene Revision ist somit wegen Verletzung des § 128 SGG statthaft.

Die Revision ist auch begründet, weil das angefochtene Urteil auf dieser Verletzung beruht. Es besteht die Möglichkeit, daß das LSG anders entschieden hätte, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens in dem vorstehend dargelegten Sinne berücksichtigt hätte (BSG 2, 197). Da die für die Entscheidung des Rechtsstreits notwendige Feststellung, ob bis zur Manifestierung der multiplen Sklerose Brückensymptome in den vorhergehenden Jahren seit 1947 vorgelegen haben, mit Erfolg angegriffen ist, konnte der Senat nicht selbst entscheiden. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2347555

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