Leitsatz (amtlich)
Zum Versicherungsschutz auf dem Weg vom Ort der Tätigkeit bei Verletzung aufgrund eines aus der Zurücklegung des Weges entstandenen Streits.
Normenkette
RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 19.05.1980; Aktenzeichen S 69 U 451/77) |
Tatbestand
Der im Jahre 1951 geborene Kläger, der als Ordner in einer Berliner Diskothek beschäftigt war, verließ am 24. September 1976 nach dem Ende der Arbeitszeit gegen 8.15 Uhr die Arbeitsstelle, um mit seinem Pkw zu der von ihm und seiner damaligen Verlobten gemeinsam unterhaltenen Wohnung zu fahren. Unterwegs wurde er, eine Geschwindigkeit von etwa 50 bis 60 km/h einhaltend, von dem hinter ihm fahrenden Pkw-Fahrer S. durch akustische und optische Zeichen aufgefordert, schneller zu fahren. Schließlich fuhr S. mit erhöhter Geschwindigkeit rechts an dem Kläger vorbei und zog sein Fahrzeug kurz nach der Beendigung des Überholvorgangs scharf in die Fahrspur des Klägers zurück, so daß dieser nur durch eine sofortige Vollbremsung einen Anstoß vermeiden konnte. Als beide Fahrzeuge an einer Verkehrsampel nebeneinander anhalten mußten, stieg der Kläger aus und trat an den Pkw des S. heran. Durch die geöffnete Scheibe der Fahrertür langte der Kläger, nachdem er S. Vorhaltungen wegen dessen rücksichtslosen Verhaltens gemacht hatte, in den Innenraum, wodurch S. einen Schlag ins Gesicht erhielt.
Auf der weiteren Fahrt wurde der Kläger von S. verfolgt. Nachdem er seinen Pkw in der Nähe der Wohnung abgestellt und verlassen hatte, wurde er, auf dem Fahrdamm stehend, von S. mit unverminderter Geschwindigkeit absichtlich überfahren und dabei schwer verletzt.
Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Entschädigung ab, weil der Kläger durch sein Verhalten einen mit seiner betrieblichen Tätigkeit nicht zusammenhängenden besonderen Gefahrenbereich geschaffen und dadurch den Unfall erlitten habe (Bescheid vom 26. April 1977). Der Streit, in den er mit S. geraten sei, falle in den unversicherten privaten Bereich (Widerspruchsbescheid vom 28. September 1977).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte, dem Antrag des Klägers entsprechend, verurteilt, Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren (Urteil vom 19. Mai 1980). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Der Kläger habe den Unfall auf einem mit seiner versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg von der Arbeitsstätte (§ 550 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) erlitten. Die Beweggründe des S. für den Angriff auf den Kläger hätten ihren Ursprung nicht im privaten Bereich der Beteiligten gehabt. Sie seien vielmehr aus dem verkehrsgefährdenden Verhalten des S. und der darauffolgenden Reaktion des Klägers und somit verkehrsbezogen erwachsen. Dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der Zurücklegung des Weges und der Verletzung stehe nicht entgegen, daß es zu der Tätlichkeit nicht gekommen wäre, wenn der Kläger das verkehrswidrige Verhalten des S. hingenommen hätte. Denn auch ein schuldhaftes Handeln des Verletzten schließe die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht aus. Das Verhalten des Klägers bei der Auseinandersetzung mit S. sei schließlich auch nicht so unvernünftig gewesen, daß daraus auf eine selbstgeschaffene Gefahr geschlossen werden könne.
Mit der vom SG im Urteil zugelassenen Sprungrevision macht die Beklagte geltend: Es fehle an dem Zusammenhang des Streits mit der versicherten Tätigkeit. Der Streit sei eigentlich durch das Verhalten des Klägers ausgelöst worden, der sich nicht auf einen Zuruf oder eine Anzeige beschränkt habe, sondern tätlich geworden sei. Damit habe der private Charakter der Auseinandersetzung die Oberhand gewonnen; der Kläger sei aus rein persönlichen Gründen verfolgt worden. Auch unter dem Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr habe kein Versicherungsschutz bestanden, da der Kläger die Reaktion des S. durch seinen tätlichen Angriff provoziert habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache an das zuständige Gericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Der Kläger befand sich auf einem mit seiner versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg vom Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO), als er von dem Pkw-Fahrer S. absichtlich angefahren und dabei schwer verletzt wurde. Davon geht zutreffend auch die Beklagte aus. Nach der ständigen Rechtsprechung, der im Schrifttum zugestimmt wird, kommt es bei tätlichen Auseinandersetzungen, Überfällen, Raufhändeln - wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung - darauf an, ob zwischen dem schädigenden Ereignis und der versicherten Tätigkeit ein ursächlicher Zusammenhang besteht (s ua Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-9. Aufl, S 484 v ff; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 60, § 550 Anm 8, Stichwort "Überfälle"; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 114 S. 2, 121 S. 1 - jeweils mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Der Versicherungsschutz ist in solchen Fällen nicht nur gegeben, wenn eine Auseinandersetzung auf dem Betriebsweg oder auf dem Weg vom Ort der Tätigkeit aus der Betriebstätigkeit unmittelbar hervorgegangen, sondern auch, wenn sie aus der Zurücklegung des Weges erwachsen ist (s BSGE 18, 106, 109; Brackmann aaO S. 484 v; Lauterbach aaO § 550 Anm 8, Stichwort "Überfälle").
Im vorliegenden Fall entzündet sich die Auseinandersetzung, die schließlich zu der Verletzung des Klägers auf seinem Heimweg führte, an der Behinderung und Gefährdung durch das rücksichtslose Verhalten des Pkw-Fahrers S., der den Kläger nach Rechtsüberholen und anschließendem "Schneiden" zu einer Vollbremsung zwang, weil es sonst zu einem Zusammenstoß gekommen wäre. Sachverhalte dieser und vergleichbar Art bieten häufig Anlaß zu Streitigkeiten unter Verkehrsteilnehmern. Aus ihnen können sich - wie im vorliegenden Fall - Anwendungsfälle für die Bejahung des Versicherungsschutzes wegen einer aus der Zurücklegung des Weges erwachsenen Tätlichkeit ergeben (vgl BSGE 18, 106, 109). Die von der Beklagten im Revisionsverfahren vertretene Auffassung würde auf das in der Rechtsprechung und im Schrifttum nicht gebilligte Ergebnis hinauslaufen, daß der Versicherungsschutz bei Verletzungen, die sich aus einem mit der Zurücklegung des Weges zusammenhängenden Streit ergeben, stets oder doch grundsätzlich ausgeschlossen wäre, wenn das Opfer den Streit begonnen oder auch nur sich auf einen solchen eingelassen hat (vgl BSGE 18, 106, 108). Ein Versicherungsschutz im Unfallzeitpunkt kann somit nicht - nach den tatsächlichen Feststellungen des SG über das Verhalten des Klägers auch nicht unter dem in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur mit besonderer Zurückhaltung verwendeten Gesichtspunkt der sog selbstgeschaffenen Gefahr - verneint werden, weil der Kläger das ihn gefährdende Fahrverhalten des S. nicht einfach hingenommen und darauf auch nicht lediglich - wie die Revision beispielhaft anführt - mit einem Zuruf oder einer Strafanzeige, sondern "tätlich" reagiert hat. Für die versicherungsrechtliche Beurteilung kommt es vielmehr darauf an, ob die Streitigkeit ihren unmittelbaren Ursprung in den mit der Zurücklegung des Weges zusammenhängenden Umständen gehabt und behalten hat. Dies war hier der Fall. Davon geht im Grunde auch die Beklagte aus, die allerdings meint, durch die Tätlichkeit des Klägers im Zusammenhang mit den Vorhaltungen wegen des gefährlichen Fahrverhaltens des S. habe der private Charakter der Auseinandersetzung Oberhand gewonnen, die Beweggründe des S. für die Verfolgung und die Schädigung des Klägers hätten von da an im rein persönlichen Bereich gelegen. Die diesem Vorbringen der Revision zu entnehmende Auffassung, der mit dem den Kläger gefährdenden Verhalten des S. begonnene und mit der absichtlichen Schädigung des Klägers endende Geschehensablauf habe durch die Reaktion des Klägers eine den Versicherungsschutz im Unfallzeitpunkt ausschließende Zäsur erfahren, wird den tatsächlichen Verhältnissen nicht hinreichend gerecht. Nach den Umständen des vorliegenden Falles ist vielmehr die gesamte Auseinandersetzung, die sich aus der Verkehrsgefährdung durch S. entwickelt hat, als Ganzes zu sehen und der versicherungsrechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen (s BSGE 18, 106, 110). Ihren unmittelbaren Ursprung hatte die Schädigung des Klägers durch das anfängliche Fahrverhalten des S., durch welches der Kläger bei der Zurücklegung seines Heimweges gefährdet worden war. Die Schädigung ist daher wesentlich darauf zurückzuführen, daß der Kläger auf seinem Heimweg der Gefahr ausgesetzt worden ist, nicht aus persönlichen, dem unversicherten privaten Bereich zuzurechnenden Gründen, sondern aus mit der Durchführung der Heimfahrt von dem Ort der Tätigkeit zusammenhängenden Gründen durch einen gewalttätig reagierenden Verkehrsteilnehmer verletzt zu werden.
Hiernach handelt es sich vorliegend nicht um einen Fall, in dem der Zusammenhang einer Schädigung mit der Zurücklegung des Weges an Bedeutung verliert, wenn ein Überfall aus Beweggründen durchgeführt worden ist, die ausschließlich in der Person des Überfallenen liegen und deshalb wesentlich nur auf betriebsfremde Beziehungen zwischen den Beteiligten zurückzuführen sind (BSG Urteil vom 31. März 1965 - 2 RU 7/63 - in Lauterbach-Kartei Nr 5824 zu § 548 Abs 1 Satz 1 RVO mwN). Anders als hier hatte nach dem der vorstehend angeführten Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt der Geschädigte sowohl durch seine Fahrweise eine Streitigkeit ausgelöst als auch durch sein anschließendes Verhalten bewirkt, daß die zwischen den Streitenden entstandenen privaten Beziehungen maßgebend für die Verletzung geworden sind.
Das die folgenschwere Auseinandersetzung auslösende verkehrsgefährdende Verhalten des S. war eine rechtlich wesentliche Bedingung für die vorsätzliche Schädigung des Klägers; das Unfallgeschehen hat sich nicht lediglich "vor dem Hintergrund" der vorangegangenen Gefährdung des Klägers durch S. abgespielt (s BSG SozR Nr 11 zu § 548 RVO - Urteil vom 30. Juli 1968 - 2 RU 91/67 -).
Das SG hat somit zu Recht die Beklagte zur Entschädigungsleistung verurteilt. Die Revision war danach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1661221 |
Breith. 1982, 391 |