Orientierungssatz
Für einen Grubensteiger ist die Verrichtung der Tätigkeit eines Staubkarteiführers zumutbar (Anschluß an BSG 1966-01-21 5 RKn 92/64 = SozR Nr 14 zu § 46 RKG). Auch eine Verweisung auf einzelne andere Tätigkeiten der Gruppe 2 der kaufmännischen Angestellten des Manteltarifvertrages für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus ist für einen Grubensteiger zumutbar. Ein Abstieg in die niedrigste Gruppe 1 der technischen Angestellten über Tage ist für einen Grubensteiger sozial unzumutbar.
Normenkette
RKG § 46 Abs. 2
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. Januar 1973 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Unter den Beteiligten ist streitig, ob dem im Jahre 1919 geborenen Kläger statt der Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab 1. April 1970 die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen ist.
Der Kläger war - abgesehen von Unterbrechungen durch die Kriegszeit - von Februar 1934 bis Ende Juni 1967 im Bergbau beschäftigt, wo er vom jugendlichen Arbeiter über den Schlepper, Lehrhauer, Hauer, Fahrhauer bis zum Grubensteiger aufstieg. Von September 1953 bis Ende 1964 war er Fahrhauer im Angestelltenverhältnis. Er wurde am 1. Januar 1965 Grubensteiger, ohne die Bergschule besucht zu haben und übte diese Tätigkeit bis Ende Juni 1967 aus. Vom 27. April 1966 bis zum 18. Januar 1967 war er wegen Kreislaufregulationsstörungen und Coronarinsuffizienz arbeitsunfähig krank. Am 5. Dezember 1966 wurde das Dienstverhältnis zum 30. Juni 1967 gekündigt, weil sein Gesundheitszustand einen Untertageeinsatz nicht mehr zuließ und ihm infolge Stillegungsmaßnahmen auch im Übertagebetrieb keine Beschäftigung angeboten werden konnte. Anschließend war er arbeitslos. Seit April 1969 bedient er in einem Warenhaus einen Lastenfahrstuhl.
Einen im März 1970 gestellten Antrag, ihm statt der Bergmannsrente eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. August 1970 ab. Ausgehend vom Beruf des Grubensteigers verneinte die Beklagte das Vorliegen von Berufsunfähigkeit, weil der Kläger noch vollschichtig und regelmäßig leichte Büroarbeit der Gehaltsgruppe 2 im Bergbau, die keine große Verantwortung bedinge, verrichten könne. Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 9. November 1970 zurückgewiesen. Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Dortmund mit Urteil vom 23. August 1971 den Bescheid vom 11. August 1970 und den Widerspruchsbescheid vom 9. November 1970 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. April 1970 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen. Die dagegen eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 30. Januar 1973 zurückgewiesen. Nach den Feststellungen des LSG leidet der Kläger an einer ausgeprägten Gefäßsklerose mit Zeichen einer Cerebralsklerose und bereits vorhandenen Durchblutungsstörungen der unteren Extremitäten, hochgradiger Schwerhörigkeit mit rezidivierenden Eiterungen des linken Ohres mit Schwindelerscheinungen, Silikose und Emphysembronchitis, so daß er vollschichtig nur noch leichte Büroarbeit, die keine große Verantwortung bedingt, verrichten könne. Die Tätigkeit eines kaufmännischen Übertageangestellten der Gruppe 1 der Anlage A zum Manteltarifvertrag für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaues sei ihm sozial nicht zuzumuten. Der Sachverhalt lasse aber auch eine Verweisung des Klägers auf die Tätigkeiten der kaufmännischen Übertageangestellten der Gruppe 2 nicht zu. Es könne schon zweifelhaft sein, ob es sich dabei noch um nur leichte Büroarbeiten ohne damit verbundene größere Verantwortung handele. Ungeachtet dessen würde aber dem Kläger die Umstellung auf eine erstmalige Verrichtung solcher Büroarbeiten im Hinblick auf die Auswirkungen der bei ihm vorhandenen ausgeprägten Gefäßsklerose, der otogenen Schwindelneigung und der deutlichen vegetativen Übererregbarkeit zu schwerfallen, als daß sich eine solche Verweisung vertreten ließe. Er besitze nicht die Kenntnisse und Fertigkeiten, die für diese Büroarbeiten erforderlich seien. Aber selbst wenn er die für eine Verweisung auf Büroarbeiten eines Übertageangestellten der Gruppe 2 erforderlichen gesundheitlichen und fachlichen Voraussetzungen erfüllen würde, könne er nicht darauf verwiesen werden. Denn diese Stellen würden durchweg nur unter dem Gesichtspunkt der betrieblichen Fürsorge mit grubenuntauglich gewordenen Mitarbeitern besetzt. Das sei aber beim Kläger nicht möglich gewesen, weil die Grube, bei der er vorher beschäftigt gewesen sei, stillgelegt worden sei. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der von ihr eingelegten Revision macht die Beklagte geltend, der Kläger könne noch vollschichtig und regelmäßig leichte Büroarbeit verrichten, die keine große Verantwortung bedinge. Daher könne er auf die ihm auch sozial zumutbaren Tätigkeiten der Gruppe K 2 des Manteltarifvertrages für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaues verwiesen werden. Die Ansicht des LSG, der Kläger verfüge nach seinem beruflichen Werdegang nicht über die hierfür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, treffe nicht zu.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. Januar 1973 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23. August 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise:
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er trägt vor, für Bürotätigkeiten der Gruppe K 2 fehlten ihm die Kenntnisse und Fähigkeiten. Außerdem könne er keine derartige Stelle erhalten, weil erfahrungsgemäß die Übernahme eines grubenuntauglich gewordenen Grubensteigers in ein anderes Unternehmen praktisch kaum möglich sei.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Die festgestellten Tatsachen reichen für die Entscheidung, ob der Kläger berufsunfähig ist, nicht aus.
Berufsunfähig ist nach § 46 Abs. 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Hierbei umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs unter besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Seinen bisherigen Beruf als Grubensteiger kann der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Es bleibt zu prüfen, ob es Tätigkeiten gibt, auf die er nach seinem Gesundheitszustand und seinen Kenntnissen und Fähigkeiten zumutbar verwiesen werden kann. Nach den von der Beklagten nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen des LSG kann er aus gesundheitlichen Gründen nur noch leichte Büroarbeit, die keine große Verantwortung bedingt, verrichten. In den Urteilen vom 28. Februar 1974 und vom 27. März 1974 - 5 RKn 38/72 und 5 RKn 27/73 - hat der erkennende Senat entschieden, daß einem ehemaligen Fahrhauer die Arbeiten eines kaufmännischen Angestellten der Gruppe 1 (41) der Anlage A zum Manteltarifvertrag für die Angestellten des r Steinkohlenbergbaues sozial nicht zugemutet werden können. Noch weniger sind diese Arbeiten für einen ehemaligen Grubensteiger zumutbar. Zu den Angestellten der Gruppe 1 zählen nämlich Bürohilfskräfte, die überwiegend schematische Arbeiten verrichten, für die eine kaufmännische Berufsausbildung nicht erforderlich ist. Es handelt sich also um Tätigkeiten, deren Wert in einem bergbaulichen Betrieb ganz erheblich geringer als diejenige eines Grubensteigers ist. Zumutbar i.S. des § 46 RKG ist einem Grubensteiger dagegen, wie der Senat bereits entschieden hat (vgl. SozR Nr. 14 zu § 46 RKG), die Verrichtung der Tätigkeit eines Staubkarteiführers. Das LSG wird nach der Zurückverweisung u.a. auch zu prüfen haben, ob der Kläger noch die mit dieser Tätigkeit verbundene Verantwortung tragen kann. Sozial zumutbar sind einem Grubensteiger auch einzelne weitere Tätigkeiten der Gruppe 2 (42) des Manteltarifvertrages, wie z.B. das Ausfertigen von Bestellungen, Rechnungen, Gutschrifts- und Belastungsaufgaben. Allerdings kommen nur solche Arbeiten in Frage, für die er die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten mitbringt. Das trifft insbesondere auf die unter diese Gruppe fallenden Tätigkeiten im Sicherheitsbüro, in der Dienststelle des Staubbeauftragten, in der Schichtenzettelkontrolle, im Fehlschichtenbüro, im Maschinen- und Materialbestellwesen sowie in der Maschinenkartei zu. Diese Tätigkeiten können im allgemeinen nur Angestellte verrichten, die gründliche Kenntnisse und Erfahrungen über Arbeitsbedingungen und Arbeitsablauf in einem bergbaulichen Betrieb haben. Solche Kenntnisse hat aber ein Grubensteiger auf Grund seiner beruflichen Tätigkeit im besonderen Maße erworben. Andererseits erfordern die genannten Tätigkeiten keine ausgeprägten kaufmännischen Kenntnisse und Fähigkeiten. Das LSG meint allerdings, auf diese zumutbaren Tätigkeiten könne der Kläger gleichwohl nur verwiesen werden, wenn er einen solchen Arbeitsplatz tatsächlich innehabe. Diese Auffassung begründet es damit, daß derartige Arbeitsplätze praktisch nur ehemaligen Aufsichtspersonen unter dem Gesichtspunkt der betrieblichen Fürsorge zur Verfügung ständen. Es trifft zu, daß nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. SozR Nr. 22 zu § 46 RKG) Arbeitsplätze, die speziell zu dem Zweck beschaffen worden sind, Angehörige des eigenen Unternehmens unterzubringen, die z.B. grubenuntauglich geworden sind, für eine "hypothetische und generelle Verweisung" im Rahmen des § 46 RKG auszuscheiden haben, weil derartige Arbeitsplätze dem Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt nicht zugänglich sind. Bei den genannten für den Kläger möglicherweise in Betracht kommenden Tätigkeiten handelt es sich aber nicht um nur zum Zwecke der Unterbringung grubenuntauglicher Betriebsangehöriger eigens geschaffener Arbeitsplätze, sondern um in einem bergbaulichen Betrieb notwendig anfallende vollwertige Bürotätigkeiten, so daß eine Verweisung auf sie möglich ist. Das LSG wird auch zu beachten haben, daß die Frage, ob für einen Versicherten Arbeitsplätze in praktisch nicht nur bedeutungsloser Zahl zur Verfügung stehen, nur unter Berücksichtigung aller diesem Versicherten zumutbaren Tätigkeiten in ihrer Gesamtheit entschieden werden kann, wobei ggf. auch die nur geringe Zahl der für diese Tätigkeit befähigten Interessenten mitberücksichtigt werden muß.
Technische Angestellte vom Rang eines Grubensteigers haben für einen Grubenbetrieb eine derartige Bedeutung, daß ihnen ein Abstieg in die niedrigste Gruppe 1 (11) der technischen Angestellten über Tage sozial nicht zumutbar ist. Bei der Frage, in welcher Anzahl dem Kläger zumutbare Arbeiten zur Verfügung stehen, können aber die Tätigkeiten der technischen Angestellten der Gruppe 2 (12) und höher der Anlage A zum Manteltarifvertrag nicht außer Betracht bleiben. Das LSG wird also auch zu prüfen haben, ob es in diesen Gehaltsgruppen Tätigkeiten gibt, die der Kläger nach seinem Gesundheitszustand und nach seinen im Laufe seines Berufslebens erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten auszuüben vermag. Auch hinsichtlich der rechtlich möglichen Verweisung des Klägers auf Tätigkeiten außerhalb des Bergbaues reichen die Feststellungen des LSG nicht aus, um eine abschließende Entscheidung zu treffen. Da es an einer Feststellung fehlt, welche Tätigkeiten außerhalb des Bergbaues der Kläger gesundheitlich und nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten verrichten kann, läßt sich auch die Frage nicht beurteilen, ob die in Betracht kommenden Arbeiten mit einem unzumutbaren sozialen Abstieg verbunden sind oder nicht.
Da der erkennende Senat die fehlenden Feststellungen nicht treffen kann, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen