Orientierungssatz
Nach SGG § 153 Abs 1, § 71 Abs 6 iVm ZPO § 56 Abs 1 haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit den Mangel der Prozeßfähigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Zwar ist der Mangel der Prozeßfähigkeit grundsätzlich nicht zu vermuten. Bestehen indessen ernsthafte Anhaltspunkte, daß ein Verfahrensbeteiligter nicht prozeßfähig ist, so löst dies die vorbezeichnete Prüfungspflicht aus.
Normenkette
ZPO § 56 Abs. 1; SGG § 153 Abs. 1, § 71 Abs. 6
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 31. Oktober 1973 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der 1893 geborene Kläger, Knappschaftsrentner seit 1968, hatte bereits in den zwanziger Jahren die Anerkennung von Kriegsdienstschäden betrieben. Die ärztlichen Untersuchungen ergaben massive Hinweise auf kriegsdienstunabhängige geistige Erkrankungen (z.B. Gutachten des Direktors der Provinzialheilanstalt G vom 11. Januar 1928, nach welchem es sich beim Kläger um einen "ausgesprochen Geisteskranken" handelt). Im Zuge der Behandlung eines vom Kläger 1957 erneuerten Antrages auf Kriegsopferversorgung wurde ein Defektzustand im Sinne einer endogenen Psychose und psychische Abbauerscheinungen infolge fortschreitender Hirnaderverkalkung festgestellt (Gutachten des Psychiaters N. I vom 28. Mai 1958) und diese Diagnose durch den nervenärztlichen Sachverständigen des Sozialgerichts (SG) Lübeck bestätigt (Gutachten des Dr. H vom 16. Oktober 1959). Das SG Lübeck bestellte dem Kläger einen Prozeßpfleger; am 10. Juni 1960 verwarf das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) in der Versorgungsangelegenheit ein Rechtsmittel des Klägers als unzulässig mit der Begründung, daß der Kläger wegen einer geistigen Erkrankung ohne Zweifel prozeßunfähig sei. Eine vom Amtsgericht-Vormundschaftsgericht-Hamburg im Hinblick auf die vom Kläger betriebenen sozialgerichtlichen Verfahren bestellte Gebrechlichkeitspflegschaft wurde im Jahre 1962 aufgehoben.
Den vom Kläger im Jahre 1969 gestellten Antrag auf Erhöhung des Knappschaftsruhegeldes lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 18. April 1969 ab. Klage und Berufung des nicht vertretenen Klägers blieben ohne Erfolg. Mit dem angefochtenen Urteil vom 31. Oktober 1973 hat das LSG nach Beiziehung u.a. der Verwaltungs- und Streitsachen in der Versorgungsangelegenheit und der amtsgerichtlichen Pflegschaftsakten sowie nach Anhörung von Zeugen die klageabweisende Entscheidung des SG bestätigt. In der Begründung heißt es, die beklagte Knappschaft habe sich nicht davon zu überzeugen brauchen, daß die Behauptung des Klägers zutreffe, er sei von 1933 bis 1940 in seiner ostpreußischen Heimat versicherungspflichtig beschäftigt gewesen und habe rentensteigernd Pflichtbeitragszeiten zurückgelegt.
Das LSG hat die Revision gegen dieses Urteil nicht zugelassen.
Auf den Antrag des Klägers und seines mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragten Rechtsanwaltes hat das Amtsgericht-Vormundschaftsgericht-Hamburg-Bergedorf am 21. Dezember 1973 erneut die Pflegschaft über den Kläger angeordnet und den genannten Anwalt als Pfleger bestellt.
Dieser hat das am 22. November 1973 zugestellte Urteil des LSG am 24. Dezember 1973 mit der Revision angefochten. Er trägt vor, der Kläger sei nach der aus den Akten erkennbaren medizinischen Vorgeschichte und der auch Laien erkennbaren geistigen Gebrechlichkeit eindeutig prozeßunfähig. Unverständlicherweise sei dies, obschon den Vorinstanzen die einschlägigen Akten vorgelegen hätten, im gegenwärtigen Rechtsstreit nicht berücksichtigt und keine Pflegschaft für den Kläger eingerichtet worden.
Der Pfleger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Sie ist der Auffassung, daß zwar der Mangel der ordnungsgemäßen Vertretung einen absoluten Revisionsgrund darstelle. Indessen beweise der Umstand, daß das Vormundschaftsgericht dem Kläger einen Pfleger bestellt habe, noch nicht zwingend, daß dieser im Verfahren vor dem LSG prozeßunfähig gewesen sei. Solange dies noch nicht festgestellt sei, gelte der Kläger als prozeßfähig.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist zulässig und begründet.
Das LSG hat zwar die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Sie ist gleichwohl statthaft, weil der Kläger zutreffend rügt, daß ein wesentlicher Mangel in dem vom LSG geübten Verfahren vorliegt (Nr. 2 aaO).
Nach §§ 153 Abs. 1, 71 Abs. 6 SGG i.V.m. § 56 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit den Mangel der Prozeßfähigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Gegen diese verfahrensrechtliche Prüfungspflicht hat das LSG, wie der Kläger sinngemäß zutreffend rügt, verstoßen. Zwar ist der Mangel der Prozeßfähigkeit grundsätzlich nicht zu vermuten. Bestehen indessen ernsthafte Anhaltspunkte, daß ein Verfahrensbeteiligter nicht prozeßfähig ist, so löst dies die vorbezeichnete Prüfungspflicht aus. Im vorliegenden Fall lagen dem LSG nicht nur Anhaltspunkte in dieser Richtung vor. Aufgrund der fachärztlichen Gutachten, die in den von ihm zu Beweiszwecken beigezogenen Verwaltungs- und Gerichtsakten in der Versorgungsangelegenheit des Klägers enthalten sind und die es zum Teil in den Urteilsgründen verwertet hat, mußte das LSG zumindest erhebliche Zweifel an der Prozeßfähigkeit des Klägers hegen. Nach diesen Gutachten - die oben unter I. näher bezeichnet sind - besteht beim Kläger seit den zwanziger Jahren ein manifester geistiger Defekt, der seit 1958 von mehreren Psychiatern und Nervenärzten als endogene Psychose beschrieben wird, wobei deren Auswirkungen durch psychische Abbauerscheinungen infolge fortschreitender Hirnaderverkalkung noch verstärkt werden. Diese Gutachten sind von solchem Gewicht, daß das SG Lübeck dem Kläger bereits im Jahre 1959 einen Prozeßpfleger bestellen ließ und sich das Schleswig-Holsteinische LSG im Jahre 1960 genötigt sah anzunehmen, daß der Kläger zweifellos prozeßunfähig sei. Bei diesen Gegebenheiten mußte sich das LSG unabweisbar gedrängt fühlen, die Frage der Prozeßfähigkeit des Klägers von Amts wegen zu prüfen. Das hat es nicht getan. Aus dem Umstand, daß das Berufungsgericht in den Urteilsgründen in Bezug auf die Zeit von 1930 bis 1940 ausführt, der Kläger sei "damals geisteskrank" gewesen, läßt sich nicht entnehmen, daß es die Frage der Prozeßfähigkeit für eine spätere Zeit geprüft und bejaht hat. Liegt hiernach der vom Kläger zu Recht gerügte wesentliche Mangel im Verfahren vor dem LSG vor, so ist die Revision zulässig.
Sie ist auch im Rahmen des vom Kläger gestellten Antrages auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet. Die erwähnten psychiatrischen und nervenärztlichen Gutachten sprechen insgesamt eher für als gegen eine seit Jahrzehnten bestehende Prozeßunfähigkeit des Klägers. Das Schleswig-Holsteinische LSG hat bereits im Jahre 1960, wie erwähnt, keinen Zweifel an der Prozeßunfähigkeit des Klägers gehabt. Bei dieser Sachlage muß der erkennende Senat erhebliche Bedenken daran haben, ob die aufgrund umfangreicher Beweisaufnahme zustande gekommenen tatsächlichen Feststellungen des LSG verfahrensfehlerfrei zustandegekommen sind; einem nicht gesetzlich vertretenen Prozeßunfähigen ist im Rahmen der Beweisaufnahme das rechtliche Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes - GG -, §§ 107, 127, 128 Abs. 2 SGG) nicht gewährt, und aus den Angaben eines Prozeßunfähigen dürfen nicht ohne weiteres, wie dies des LSG laut den Gründen des angefochtenen Urteils getan hat, für ihn ungünstige Schlüsse gezogen werden. Zeichnet sich hiernach bereits heute ab, daß der gegenwärtige Rechtsstreit des Klägers abschließend erst entschieden werden kann, nachdem unter Vermeidung von Verfahrensfehlern erneut die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen worden sind, so erscheint es untunlich im Sinne des § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG, daß der erkennende Senat in eigener Zuständigkeit Ermittlungen zur Prüfung der Frage der Prozeßfähigkeit des Klägers einleitet, Es erscheint vielmehr zweckdienlich, das verfahrensfehlerhafte Urteil aufzuheben, die Sache an das LSG zurückzuverweisen und diesem so die Gelegenheit zu geben, sowohl die Prozeßfähigkeit des Klägers abschließend zu prüfen, als auch die gegebenenfalls hiernach erforderlichen neuen Tatsachenfeststellungen zu treffen und sodann abschließend - auch über den Kostenpunkt - zu entscheiden.
Mit dem Einverständnis der Beteiligten hat der Senat ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG).
Fundstellen