Leitsatz (amtlich)
Ein längerer Zwischenaufenthalt in einem Nichtvertreibungsland (hier: Österreich) beendet in der Regel die Flucht; dies gilt ausnahmsweise nicht, wenn für den Flüchtling während des Zwischenaufenthalts keine Möglichkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit bestand, etwa weil ihm eine notwendige Arbeitserlaubnis versagt worden ist oder andere hoheitliche Maßnahmen die Flüchtlingsgruppe, der er angehörte, von der Teilnahme am allgemeinen Erwerbsleben ausgeschlossen haben.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 31. Oktober 1974 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die 1909 geborene Klägerin, deutsche Staatsangehörige und anerkannte Vertriebene, bezog seit April 1909 von der Beklagten eine Erwerbsunfähigkeitsrente und erhält inzwischen Altersruhegeld (Bescheid vom 27. März 1974). Bei der Rentenberechnung wurde für die Zeit nach Kriegsende zunächst nur die pauschale Ersatzzeit des § 28 Abs. 1 Nr. 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) bis zum 31. Dezember 1946 berücksichtigt (Bescheid vom 24. Juni 1969). Während des Klageverfahrens erkannte die Beklagte darüber hinaus auch die Zeit vom 1. Januar 1947 bis 18. September 1953 nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG als Ersatzzeit an. Die Klägerin lebte während dieser Zeit - im Anschluß an ihre Flucht aus Jugoslawien - in verschiedenen Flüchtlingslagern in Österreich, das sie erst nach Klärung ihrer Staatsbürgerschaft, d. h. nach Erhalt eines deutschen Passes verlassen konnte. Sie war anschließend vom 19. September 1953 bis 31. Mai 1955 in der Bundesrepublik Deutschland in verschiedenen Flüchtlingslagern untergebracht. Die Klägerin will erreichen, daß ihr auch diese Zeit rentensteigernd angerechnet wird. Eine versicherungspflichtige Beschäftigung hat sie seitdem nicht mehr aufgenommen.
Die Klage war in den Vorinstanzen ohne Erfolg. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) hat die Flucht der Klägerin aus dem jugoslawischen Vertreibungsgebiet mit der Begründung eines ständigen Aufenthalts in Österreich ihr Ende gefunden. Die zum Verlassen von Jugoslawien nötigende Zwangslage habe in Österreich nicht fortbestanden. Die geltend gemachte Arbeitslosigkeit im Bundesgebiet schließe sich deshalb nicht an Zeiten der Vertreibung oder Flucht im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG an. Ein längerer Aufenthalt in einem Nichtvertreibungsland - hier Österreich - sei insoweit nicht anders zu behandeln als ein Zwischenaufenthalt im Gebiet der heutigen DDR. Die Zeit von September 1953 bis Mai 1955 sei aber auch nicht als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG anrechenbar, weil es hierzu an den notwendigen Voraussetzungen fehle.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei der Rentenberechnung die Zeit vom 19. September 1953 bis 31. Mai 1955 rentensteigernd zu berücksichtigen,
hilfsweise, den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Sie rügt die Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG. Wenn die Beklagte die Zeit in Österreich von 1947 bis September 1953 nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG berücksichtigt habe, so bedeute das die Anerkennung der Tatsache, daß die Klägerin zwangsweise an der Fortsetzung ihrer Flucht in das Bundesgebiet gehindert worden sei. Die Auffassung des LSG, daß die Flucht der Klägerin bereits mit der Begründung eines ständigen Aufenthalts in Österreich ihr Ende gefunden habe, sei deshalb nicht haltbar.
Die Beklagte beantragt,
die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist insofern begründet, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist.
Nach § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG wird als Ersatzzeit auch eine Zeit unverschuldeter Arbeitslosigkeit angerechnet, die sich an Zeiten der Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung anschließt. Die Frage, ob die streitige Zeit von September 1953 bis Mai 1955 als eine solche Ersatzzeit unverschuldeter Arbeitslosigkeit berücksichtigt werden kann, hängt daher davon ab, ob die Flucht der Klägerin erst mit ihrer Aufnahme in einem Flüchtlingslager in der Bundesrepublik Deutschland ihr Ende fand oder schon vorher. Das läßt sich aufgrund des vom LSG festgestellten Sachverhalts nicht abschließend beantworten.
In § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG ist der Begriff der Flucht nicht erläutert. Der Begriff ist wie die anderen dort verwendeten Begriffe offenbar aus dem Bundesvertriebenengesetz (BVFG) übernommen worden, in dessen § 1 die Flucht einen Unterfall der Vertreibung bildet. Dauer und Ende der Flucht spielen jedoch nach dem BVFG keine Rolle. Soweit das Bundesversorgungsgesetz (BVG) Entschädigung für Folgen einer Flucht (§ 5 Abs. 1 Buchst. c) vorsieht, endet nach BSG 3, 263 der Fluchtweg mit dem Finden einer Unterkunft, in der ein längeres Verweilen zumutbar ist; dabei kann eine kurze Eingewöhnungszeit zugestanden werden. Diese Auslegung ist nicht ohne weiteres für § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG zu übernehmen, weil sie die besondere Zielsetzung des BVG berücksichtigt und darauf abstellt, ob der Betroffene besonderen gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt war.
Allerdings wird man auch bei der Auslegung von § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG dem LSG darin zustimmen müssen, daß der Begriff der Flucht nicht auf das in der Regel überstürzte Verlassen von Heimatort und Heimatland zu beschränken ist. Die Flucht kann vielmehr darüber hinaus andauern. Dafür spricht nicht nur, daß die Vergünstigungen des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG und die des BVFG vor allem Personen zuteil werden sollen, die als Vertriebene (Flüchtlinge) schließlich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme gefunden haben; auch der Zweck der Ersatzzeiten, Versicherte vor rentenversicherungsrechtlichen Nachteilen zu bewahren, die ihnen durch die Ersatzzeittatbestände, hier: durch Vertreibung und Flucht entstehen können, erfordert es, als Zeiten der Flucht auch Zeiten zu werten, in denen nach dem Verlassen des Heimatlandes noch kein neuer ständiger Aufenthalt gefunden war; bis dahin war den Vertriebenen (Flüchtlinge) nämlich die Aufnahme oder Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit regelmäßig nicht möglich. Das heißt jedoch nicht, daß eine Flucht immer erst mit Erreichen des Gebietes der Bundesrepublik als beendet anzusehen wäre. Zwar wird man nicht kleinlich verfahren dürfen und darum verhältnismäßig kurze Zwischenaufenthalte auf dem Wege nach dem Verlassen des Vertreibungslandes in die Zeit der Flucht einbeziehen müssen. Anders ist es dagegen bei einem Zwischenaufenthalt, der - wie hier - insgesamt rd. acht Jahre umfaßt hat. Ein solcher Aufenthalt dürfte in der Regel die Flucht beenden.
Das gilt freilich nicht ausnahmslos. Zwar kann es nicht darauf ankommen, ob, wie lange und aus welchen Gründen ein solcher Flüchtling an der Weiterreise in die Bundesrepublik verhindert war; daß die Klägerin nicht in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen konnte, weil zunächst ihre Staatsangehörigkeit nicht geklärt war, ist daher nicht entscheidend; ebensowenig ist es erheblich, ob sie schon beim Verlassen Jugoslawiens das Gebiet der Bundesrepublik zu erreichen erstrebte. Eine Ausnahme kann vielmehr nur vom schon dargelegten Sinn und Zweck der Ersatzzeit des § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG her gerechtfertigt sein. Danach muß aber selbst ein längerer Zwischenaufenthalt noch als Zeit der Flucht anerkannt werden, wenn während der ganzen Zeit des Zwischenaufenthalts dem Flüchtling ständig eine Erwerbstätigkeit nicht möglich war, etwa weil ihm eine hierfür notwendige Arbeitserlaubnis versagt worden war oder weil andere hoheitliche Maßnahmen für die Flüchtlingsgruppe, der er angehörte, die Teilnahme am allgemeinen Erwerbsleben ausschlossen. In diesem Falle bedarf er ebenfalls des Schutzes vor den durch die Flucht entstehenden rentenversicherungsrechtlichen Nachteilen.
Das LSG hat zwar zutreffend angenommen, es bestehe kein sachlicher Grund, die Fälle des längeren Aufenthalts von Vertriebenen in einem Nichtvertreibungsland anders zu behandeln als die Fälle eines zwischenzeitlichen Aufenthalts im Gebiet der heutigen DDR (vgl. Verbandskomm. zur RVO § 1251 Anm. 25 S. 49); es hat aber nicht festgestellt, ob Möglichkeiten zur Erwerbstätigkeit für die Klägerin während ihres Aufenthalts in dem Flüchtlingslager in Österreich bestanden. Auch wenn es wenig wahrscheinlich erscheint, daß das für die gesamte Aufenthaltszeit in Österreich zu verneinen ist, ist es ohne dahingehende konkrete Feststellungen dem Senat nicht möglich zu beurteilen, wann die Flucht der Klägerin beendet war. Nur wenn der Klägerin infolge ihrer Festhaltung in österreichischen Flüchtlingslagern ebenso wie auch den anderen dort befindlichen Flüchtlingen während der Gesamtdauer ihres dortigen Aufenthalts schlechthin die Möglichkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit genommen war, stünde der Annahme, daß ihre Flucht erst mit dem Erreichen des Gebietes der Bundesrepublik Deutschland beendet war, nichts entgegen und könnte die anschließende Zeit in deutschen Flüchtlingslagern als Ersatzzeit berücksichtigt werden, sofern die Klägerin in dieser Zeit unverschuldet arbeitslos war.
Unter diesen Umständen war das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Das LSG hat zwar ferner geprüft, ob die streitige Zeit als Ausfallzeit im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG anrechenbar ist; es hat dies verneint, weil die zeitliche Lücke zwischen der letzten Beschäftigung in Jugoslawien und dem Beginn einer Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik sich nicht durch Heranziehung des § 29 des Fremdrentengesetzes (FRG) schließen lasse. Wenn das LSG auch mit Rücksicht auf hierbei zusätzlich aufgeworfene Fragen von grundsätzlicher Bedeutung die Revision zugelassen hat, so sieht der Senat jedoch keinen Anlaß, im jetzigen Stadium des Verfahrens hierzu schon Stellung zu nehmen. Denn Feststellungen darüber, ob die Klägerin die für die Anrechnung einer Ausfallzeit im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG sonst notwendigen Voraussetzungen (Meldung beim Arbeitsamt, Leistungsbezug, Halbbelegung) erfüllen würde, sind vom LSG bisher nicht getroffen worden; außerdem hat die Klägerin im Revisionsverfahren nur die Verletzung von § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG gerügt; es ist daher nicht ersichtlich, daß die Entscheidung des Rechtsstreits auch von der Beantwortung der zu § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen abhängt.
Das LSG wird bei seinem abschließenden Urteil auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen