Orientierungssatz
1. Zur Frage der Zuordnung von Leistungsgruppen nach dem FRG für eine Volksschullehrerin (Schulleiterin) in der DDR.
2. Eine erneute Studienzeit nach Ende der Flucht ist keine Ersatzzeit iS von AVG § 28 Abs 1 Nr 6 (RVO § 1251 Abs 1 Nr 6).
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; FRG § 22 Anl 1 Buchst. B Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Januar 1978 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin erstrebt eine höhere Einstufung ihrer Beschäftigungszeit als Lehrerin im Gebiet der heutigen DDR nach der Anlage 1, Abschnitt B, zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG), sowie die Berücksichtigung ihrer in der Bundesrepublik Deutschland wiederholten Lehrerausbildung bei der ihr gewährten Rente.
Die 1916 geborene Klägerin war nach dem Abitur von 1937 bis 1944 als Export- und Auslandskorrespondentin versicherungspflichtig beschäftigt. Das danach begonnene Studium der Volkswirtschaft mußte sie wegen der Kriegsereignisse abbrechen. Im August 1945 begann sie im Gebiet der heutigen DDR die Lehrerausbildung. Im Dezember 1947 legte sie die erste, im Dezember 1949 die zweite Lehrerprüfung ab. Neben der Ausbildung war sie von November 1945 bis Mitte Oktober 1947 als Lehramtsbewerberin und dann bis August 1949 als Lehramtsanwärterin an Grundschulen beschäftigt. Anschließend war sie als Lehrerin bis August 1952 und danach bis zu ihrer Flucht in die Bundesrepublik Deutschland im September 1953 als Mittelstufenlehrerin und Schulleiterin tätig. Da die in der DDR abgelegten Lehrerprüfungen nicht anerkannt wurden, unterzog sich die Klägerin einer nochmaligen Ausbildung an der Pädagogischen Akademie in Worms von April 1954 bis März 1955. Sie wurde zum 1. April 1955 als Beamtin in den Schuldienst des Landes Rheinland-Pfalz übernommen und ist seither nicht mehr versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Zum 1. Juni 1972 wurde sie als Oberlehrerin vorzeitig in den Ruhestand versetzt.
In einer Bescheinigung vom 26. August 1966 ordnete die Beklagte die Zeit vom 1. Januar 1946 bis zum 15. Dezember 1949 der Leistungsgruppe 4 und die folgende Zeit bis zum 31. August 1953 der Leistungsgruppe 3 der Angestellten (B) nach der Anlage 1 zum FRG zu.
Im Januar 1972 beantragte die Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte gewährte die Rente mit Bescheid vom 12. September 1974 auf der Grundlage der bisherigen Einstufung. Auf einen Rechtsbehelf der Klägerin erklärte sie sich bereit, die Einstufung für die Zeit von 1946 bis 1953 zu überprüfen und den Rechtsbehelf als Widerspruch anzusehen. Mit Bescheid vom 19. August 1975 wies sie diesen zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Klägerin schon ab Dezember 1947 in die Leistungsgruppe B 3 einzustufen. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung beider Beteiligten die Klage in vollem Umfang abgewiesen: Die Klägerin habe bis zur Ablegung der zweiten Lehrerprüfung die für die Einstufung in die Leistungsgruppe B 3 geforderte "mehrjährige Berufserfahrung" nicht aufgewiesen; insoweit zähle nur die damals kurze Berufserfahrung im Lehrerberuf. Die folgende Tätigkeit bis zur Flucht (September 1953) könne nicht der Leistungsgruppe B 2 zugeordnet werden, weil die Klägerin damals noch keine "besonderen Erfahrungen" im Sinne der Leistungsgruppe B 2 erworben gehabt habe, obwohl sie zuletzt als Schulleiterin eingesetzt worden sei.
Die spätere Ausbildung von April 1954 bis März 1955 sei keine Ersatzzeit iS des § 28 Abs 1 Nr 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Die Klägerin sei während dieser Zeit nicht arbeitslos gewesen; der Gesetzgeber habe die Wiederholung der Ausbildung nicht einer sich an die Flucht anschließenden Arbeitslosigkeit gleichgestellt. Als Ausfallzeit könne die Ausbildung nach der bei Eintritt des Versicherungsfalles noch bestehenden Rechtslage (§ 36 Abs 1 Nr 4 AVG aF) nicht anerkannt werden, weil die Klägerin nach Abschluß der Ausbildung nicht mehr versicherungspflichtig tätig geworden sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,
die Beklagte zu verurteilen, die Beschäftigungszeit vom 1. Dezember 1947 bis zum 19. Dezember 1949 in die Leistungsgruppe B 3 und die Beschäftigungszeit vom 20. Dezember 1949 bis zum 31. August 1953 in die Leistungsgruppe B 2 zu § 22 FRG einzustufen und die weitere Studienzeit vom 27. April 1954 bis zum 31. März 1955 als Ersatzzeit anzurechnen.
Nach Ansicht der Klägerin kann die Regel, die Zeit zwischen erster und zweiter Lehrerprüfung der Leistungsgruppe B 4 zuzuordnen, auf ihren Fall nicht angewandt werden. Ihre Ausbildungsabschnitte seien stark durch praktische Lehrtätigkeit gekennzeichnet. Schon alsbald nach Dienstbeginn sei ihr neben dem Unterricht in der Oberstufe die Leitung einer Mittelschulklasse übertragen worden, sie sei 1947 zur mittleren Reife geführt habe. Nach der ersten Lehrerprüfung habe sie zwei Jahre lang an einer einklassigen Schule mit über 60 Schülern unterrichtet und zusätzlich die Schulleitertätigkeit wahrgenommen. Bei der Betrauung mit diesen Aufgaben sei eine Berufserfahrung vorausgesetzt worden.
Die Zeit nach der zweiten Lehrerprüfung sei der Leistungsgruppe B 2 zuzuordnen. Die Ansicht des Berufungsgerichts, bei kürzerer Berufspraxis besondere Erfahrungen nur denen zuzusprechen, die ein Hochschulstudium abgeschlossen hätten, verstoße gegen Art 3 des Grundgesetzes (GG). Die zweite Ausbildung an der Pädagogischen Akademie in Worms sei gemäß § 28 Abs 1 Nr 6 AVG als Ersatzzeit zu berücksichtigen, da sie damals noch ihren Aufenthalt im Flüchtlingslager gehabt habe. Daß sie nicht arbeitslos geblieben sei, sondern die Zeit zum Studium benutzt habe, dürfe ihr nicht zum Nachteil gereichen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist unbegründet.
1) Die Klägerin kann keine höhere Einstufung nach dem FRG verlangen.
Ihrem Begehren steht zwar die Bindungswirkung der Bescheinigung vom 26. August 1966 nicht entgegen. Denn die Beklagte hat auf die Bindungswirkung verzichtet und im Widerspruchsbescheid erneut über die Einstufung entschieden.
Das Bestreben der Klägerin, für die Beschäftigungszeit zwischen erster und zweiter Lehrerprüfung in die Leistungsgruppe 3 und für die folgende Beschäftigungszeit in die Leistungsgruppe 2 eingestuft zu werden, ist nach den für die Einordnung in diese Leistungsgruppen maßgebenden allgemeinen Definitionen zu beurteilen. Diese sind zwar auf Arbeitnehmer der Privatwirtschaft ausgerichtet und müssen deshalb unter Umständen den Eigenarten eines wie hier von der Klägerin geleisteten öffentlichen Dienstes angepaßt werden. Hiervon können jedoch nicht die Definitionsmerkmale betroffen sein, die die persönliche Qualifikation des Versicherten kennzeichnen; auf Merkmale, die Art und Umfang persönlicher Berufserfahrung betreffen, kann auch im Bereich des öffentlichen Dienstes nicht verzichtet werden (vgl SozR Nrn 3 und 4 zu § 22 FRG).
a) Die Leistungsgruppe B 3 umfaßt nach dem hier allein in Betracht kommenden Satz 1 der Definition "Angestellte mit mehrjähriger Berufserfahrung oder besonderen Fachkenntnissen und Fähigkeiten oder mit Spezialtätigkeiten, die nach allgemeiner Anweisung selbständig arbeiten, jedoch keine Verantwortung für die Tätigkeit anderer tragen".
Für die Zeit bis zur zweiten Lehrerprüfung sind von den eingangs erwähnten alternativen Merkmalen die beiden letzten (Angestellte mit besonderen Fachkenntnissen und Fähigkeiten - Angestellte mit Spezialtätigkeiten) eindeutig nicht erfüllt, wie das LSG zutreffend und insoweit von der Revision nicht angegriffen ausgeführt hat.
Auch das erste Merkmal, eine mehrjährige Berufserfahrung, hat das LSG zu Recht verneint. Die Berufserfahrung muß sich auf den ausgeübten Beruf beziehen. Im Lehrerberuf war die Klägerin erstmals im August 1945 tätig geworden. Da bis Dezember 1949 erst 4 1/2 Jahre vergangen waren, kann bis dahin eine "mehrjährige Berufserfahrung" nicht bejaht werden, zumal diese mehr bedeutet als die in der Leistungsgruppe 4 geforderte "mehrjährige Berufstätigkeit". Hiergegen wendet die Klägerin zu Unrecht ein, ihr seien nach der ersten Lehrerprüfung Aufgaben übertragen worden, deren Bewältigung eine mehrjährige Berufserfahrung vorausgesetzt habe. Die Revision enthält insoweit tatsächliches Vorbringen, das der Senat als Revisionsgericht nicht berücksichtigen kann. Davon abgesehen könnte es auch keine Rolle spielen, ob die damalige Schulverwaltung die Klägerin als eine erfahrene Kraft angesehen hat. Denn für die Einstufung in die Leistungsgruppe 3 kommt es allein auf den Umfang der tatsächlich vorhandenen Berufserfahrung an. Die Wertung des LSG, daß die 4 1/2-jährige Lehrtätigkeit der Klägerin bis zur zweiten Lehrerprüfung eine mehrjährige Berufserfahrung noch nicht begründet habe, läßt danach einen Rechtsfehler nicht erkennen. Die Höhe des verdienten Entgelts hat das LSG zu Recht unberücksichtigt gelassen. Die Revision entnimmt zu Unrecht dem Urteil des Senats vom 5. März 1965 (BSGE 22, 284, 287), daß bei einem untypischen beruflichen Werdegang auch die Höhe des Entgelts zu berücksichtigen sei. Die Entscheidung besagt nur, daß aus der Höhe des Arbeitsentgelts und der entrichteten Beiträge möglicherweise Schlüsse auf die Art der Tätigkeit gezogen werden können. Dafür ist aber kein Raum, wenn die Art dieser Tätigkeit schon unabhängig vom Entgelt festgestellt werden kann, wie dies hier der Fall ist. Ob diese Tätigkeit insoweit berufstypisch oder atypisch ist, ist unerheblich.
b) Auch die Einstufung der Beschäftigungszeit nach der zweiten Lehrerprüfung in die Leistungsgruppe 3 läßt Rechtsfehler nicht erkennen. Die von der Klägerin erstrebte Leistungsgruppe 2 erfaßt nach dem hier allein in Betracht kommenden Satz 1 der Definition "Angestellte mit besonderen Erfahrungen und selbständigen Leistungen in verantwortlicher Tätigkeit mit eingeschränkter Dispositionsbefugnis, die Angestellte anderer Tätigkeitsgruppen einzusetzen und verantwortlich zu unterweisen haben".
Zu Recht hat das LSG das Vorhandensein der auch für den Lehrerberuf unverzichtbaren "besonderen Erfahrungen" während der Zeit von Dezember 1949 bis August 1953 verneint. Besondere Erfahrungen besitzen Angestellte, die ihren Beruf auf dem üblichen Berufsweg erreicht und stetig ausgeübt haben, in der Regel erst nach Vollendung des 45. Lebensjahres. Deswegen hat der Senat in den vom LSG zu Recht angeführten Entscheidungen im Falle einer Grundschullehrerin eine zwölfjährige Berufsausübung nicht als ausreichend angesehen (BSG Urteil vom 20. September 1973 - 11 RA 8/73 -). An dieser Rechtsprechung wird festgehalten. Daran vermag auch der Einwand der Revision nichts zu ändern, es verstoße gegen Art 3 GG, wenn, das Bundessozialgericht (BSG) bei akademischer Ausbildung eine tatsächliche Vermutung für das Sammeln "besonderer Erfahrungen" schon vor Vollendung des 45. Lebensjahres annehme. Der Senat geht lediglich davon aus, daß auf der Grundlage eines Hochschulstudiums Erfahrungen in kürzerer Zeit gesammelt werden können. Damit wird nicht ausgeschlossen, daß dies auch bei einer anderen gleichwertigen Ausbildung möglich ist. Als gleichwertig in diesem Sinne kann aber nicht die Lehrerausbildung in der von der Klägerin durchlaufenen Form in der DDR angesehen werden. Sie rechtfertigt es jedenfalls nicht, bei der Klägerin während der fraglichen Beschäftigungszeit schon "besondere Erfahrungen" anzunehmen, zumal die Klägerin am Ende der Zeit einschließlich ihrer Ausbildungszeit gerade erst 8 1/2 Jahre eine Lehrtätigkeit ausgeübt hatte. Dies gilt auch bei Berücksichtigung des Einsatzes als Mittelstufenlehrerin und Schulleiterin an der Grundschule Waldau für die Zeit ab August 1952, da nicht festgestellt - und von der Klägerin auch nicht behauptet - ist, daß es sich in Waldau um eine voll ausgebaute (achtklassige) Schule gehandelt habe; somit bestand während dieser letzten Zeit keine besonders hervorgehobene Stellung, so daß unerörtert bleiben kann, inwieweit besonders hervorgehobene Stellungen der Klägerin ein schnelleres Sammeln von "besonderen Erfahrungen" hätten ermöglichen können.
2) Das LSG hat ferner die Klage auf Berücksichtigung der Studienzeit von April 1954 bis März 1955 als Ersatzzeit zu Recht abgewiesen. Die Zeit dieses Studiums gehört nicht zu der als Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 6 (§ 1251 Abs 1 Nr 6 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) anzurechnenden Zeit der Flucht. Die Flucht der Klägerin endete nicht erst mit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und der Begründung eines endgültigen Wohnsitzes, sondern vielmehr schon mit der Aufnahme in einem Flüchtlingslager der Bundesrepublik Deutschland, da die Klägerin hier einen ständigen Aufenthalt mit der Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit begründet hat (vgl BSG SozR 2200 § 1251 RVO Nr 16). Dabei kommt es allein auf die rechtliche Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit (Arbeitserlaubnis, öffentliche Verbote) an, nicht aber auf eine tatsächliche Arbeitsgelegenheit (vgl BSG SozR 2200 § 1251 Nr 16). Es ist daher unerheblich, daß die Klägerin damals keine Möglichkeit sah, ohne Wiederholung ihrer Ausbildung in Arbeit zu kommen.
Die Studienzeit kann auch nicht als eine sich an die Flucht an schließende unverschuldete Arbeitslosigkeit angesehen und auf diese Weise gemäß § 28 Abs 1 Nr 6 AVG als Ersatzzeit angerechnet werden. Die Klägerin wendet zu Unrecht ein, es dürfe ihr nicht zum Nachteil gereichen, daß sie während der Arbeitslosigkeit im Lager nicht tatenlos gewesen sei, sondern ein Studium aufgenommen habe. Wenn die Klägerin nur zur sinnvollen Nutzung der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit studiert hätte, wenn sie also beim Arbeitsamt um Arbeit bemüht gewesen und jederzeit bereit gewesen wäre, beim Angebot einer Arbeit ihr Studium abzubrechen und die Arbeit anzunehmen, dann wäre die Klägerin auch während des Studiums der Arbeitsvermittlung verfügbar und damit arbeitslos gewesen. Das war aber nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG nicht der Fall.
Ihren in den Vorinstanzen gestellten Antrag, hilfsweise die Studienzeit trotz fehlenden Anschlußbeitrags als Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 4 AVG (= § 1259 Abs 1 Nr 4 RVO) anzuerkennen, hat die Klägerin mit der Revision nicht weiterverfolgt; das LSG hatte ihm zu Recht nicht stattgegeben.
Die Revision der Klägerin war daher in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Fundstellen