Leitsatz (amtlich)

Wer sich nach dem 2. Weltkrieg als Angehöriger eines Mitglieds der amerikanischen Besatzungsmacht auf deutschem Staatsgebiet befunden hat, hat sich nicht iS des AVG § 28 Abs 1 Nr 4 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 4) im "Ausland" aufgehalten.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 7. Januar 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin und ihr Ehemann sind Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Sie haben Deutschland 1939 verlassen und die amerikanische Staatsangehörigkeit erworben. Im August 1945 wurde der Ehemann der Klägerin als Angehöriger der US-Streitkräfte nach Deutschland versetzt. Die Klägerin folgte ihm im Februar 1947 nach und hielt sich seither an seinem dienstlichen Wohnsitz bei ihm auf.

Die Beklagte gewährte der Klägerin ab Juli 1970 eine Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit, ab Februar 1971 wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheide vom 16. Oktober 1973, 3. Dezember 1973 und 12. Dezember 1974). Dabei rechnete sie eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts bis Februar 1947 an. Die Klägerin begehrt die weiterlaufende Anrechnung bis zum gesetzlichen Endzeitpunkt (31. Dezember 1949).

Das Sozialgericht (SG) hat ihre Klage mit Urteil vom 7. Januar 1975 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der verfolgungsbedingte Auslandsaufenthalt der Klägerin habe mit der Rückkehr nach Deutschland geendet. Hier befinde sich seither ihr Lebensmittelpunkt. § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG stelle auf den tatsächlichen Aufenthalt des Versicherten ab. Deshalb sei es unerheblich, daß die Klägerin die amerikanische Staatsangehörigkeit besitze, einen Wohnsitz in den USA beibehalten habe und ihr Ehemann als Angehöriger der US-Streitkräfte in Deutschland sei. Ein Anspruch auf Anrechnung der streitigen Zeit stehe ihr auch nicht deshalb zu, weil die Beklagte bei ihrem Ehemann eine Ersatzzeit bis zum 31. Dezember 1949 anerkannt habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die - zugelassene - Sprungrevision der Klägerin, mit deren Einlegung die Beklagte einverstanden ist.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Änderung ihrer Bescheide zu verurteilen, die Zeit vom 1. März 1947 bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen.

Sie rügt die Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG. Ihr verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt habe nicht mit der Übersiedlung zu ihrem Ehemann geendet. Hierbei habe es sich um eine Ortsverlegung ohne den Willen zur Rückkehr nach Deutschland gehandelt, um ihr eheliches Leben wieder aufzunehmen; sie wäre ihrem Ehemann auch in andere Stationierungsländer gefolgt. Als Familienangehörige eines Mitglieds der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland sei sie im staatlichen Hoheitsbereich der USA geblieben und der deutschen Verwaltungshoheit nicht unterworfen gewesen. Deshalb habe sie quasi exterritoriale Rechte. Da die Anrechnung der Ersatzzeit bei ihrem Ehemann zu Recht bis zum 31. Dezember 1949 erfolgt sei, dürfe ihr nicht gleiches verweigert werden.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision der Klägerin ist nicht begründet.

Von den in § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG aufgeführten Tatbestandsmerkmalen ist nur streitig, ob die Monate März bis Dezember 1947 sowie die Jahre 1948 und 1949 für die Klägerin "Zeiten eines Auslandsaufenthalts" gewesen sind. Dies ist nicht der Fall.

"Aufenthalt" bedeutet auch im Sozialversicherungsrecht (vgl. BSG in SozR Nr. 5 zu § 1319 RVO mit weiteren Hinweisen) das tatsächliche, nicht nur vorübergehende Verweilen an einem Ort. Auf den rechtsgeschäftlichen Willen, sich niederzulassen und den Ort der Wahl zum ständigen Mittelpunkt der Lebensbeziehungen zu machen, wie er zur Begründung eines Wohnsitzes erforderlich ist (§ 7 des Bürgerlichen Gesetzbuchs), kommt es dabei nicht an. Da die Klägerin sich während der in Rede stehenden Zeit ohne wesentliche Unterbrechung bei ihrem Ehemann an den Plätzen befunden hat, wo er als Mitglied der amerikanischen Besatzungsmacht eingesetzt war, hat sie sich dort aufgehalten. Diese Aufenthaltsorte - zunächst im amerikanischen Sektor von Berlin, später in Westdeutschland - lagen im Inland und nicht im "Ausland". Das deutsche Staatsgebiet ist trotz der totalen Besetzung durch die Alliierten völkerrechtlich und staatsrechtlich bestehen geblieben; es ist nicht annektiert worden (Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 1960 S. 354 "Deutschlands Rechtslage nach dem zweiten Weltkrieg"). Bei anderer Auffassung müßte jeder Deutsche nach dem 8. Mai 1945 im "Ausland" gelebt haben, was offensichtlich nicht zutreffen kann. Auch nach dem Ende der kriegerischen Besetzung (Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945, s. Strupp-Schlochauer aaO, S. 190 "Besatzungsregime nach dem zweiten Weltkrieg") haben die westlichen Besatzungsmächte in Deutschland für die Angehörigen ihrer Streitkräfte und die nachgezogenen Familienmitglieder zwar die Rechte der vollen Exterritorialität in Anspruch genommen. Das am 21. September 1949 in Kraft getretene Besatzungsstatut vom 12. Mai 1949 (AHK ABl. S. 13) hat für die eigenen Staatsangehörigen hieran nur wenig geändert (s. Schmoller-Maier-Tobler, Handbuch des Besatzungsrechts, 1957, S 36 S. 11/12). Damit war aber nicht die Schaffung von Exklaven im völkerrechtlichen Sinne für die Aufenthalts- und Tätigkeitsorte verbunden. Die mit den Rechten der Exterritorialität ausgestatteten Dienststellen, Personen (und Sachen) befanden sich - anfänglich in zur Nutzung requirierten Grundstücken - auf deutschem Staatsgebiet (zum Begriff der Exterritorialität, auch von Truppenkontingenten bei kriegerischer Besetzung, s. Strupp-Schlochauer aaO, S. 500, 501, 667 ff, 673; Becker-Huber-Küster, Kommentar zum BEG, 1955, Anm. 4 zu § 8 BEG (1953) mit weiteren Nachweisen; OLG München in RzW 1955, 119 für einen Angehörigen der amerikanischen Labour Service Company; Voß-Zwehl-Danckelmann, Kommentar zum Kriegs- und Besatzungsschädenrecht, 1950, Einführung Anm. C, Anm. 2 zu Art. 1 der DurchführungsVO Nr. 1 zum Gesetz Nr. 47 der Alliierten Hohen Kommission), mag auch die Ausübung deutscher Gebietshoheit bis zum Inkrafttreten des Besatzungsstatuts wesentlich eingeschränkt gewesen sein (Strupp-Schlochauer aaO, S. 183 "Besatzungsrecht (Berlin)"; S. 190 ff "Besatzungsregime nach dem zweiten Weltkrieg"). Daß die Klägerin in Deutschland nach ihrem unbestritten gebliebenen Vortrag im "staatlichen Hoheitsbereich der USA" gelebt hat und der deutschen Verwaltungshoheit nicht unterworfen war, ist Folge ihrer persönlichen Exemption als Ehefrau eines amerikanischen Besatzungsangehörigen. Sie weilte zwar im "Lebensbereich der amerikanischen Besatzungsmacht", jedoch auf deutschem Boden. Deshalb machten die der Klägerin zustehenden exterritorialen Rechte ihren Aufenthalt während der streitigen Zeit nicht zu einem Auslandsaufenthalt im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG.

Zu diesem Ergebnis führen auch Sinn und Zweck des Gesetzes. Nach Auffassung des 4. Senats des Bundessozialgerichts (Urteil vom 1. Juli 1970 in SozR Nr. 46 zu § 1251 RVO), die der erkennende Senat teilt, soll die in § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO (= § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG) normierte Möglichkeit, einen Auslandsaufenthalt bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit zu berücksichtigen, Verfolgten des Nationalsozialismus Gelegenheit geben, die mit einer Rückkehr zusammenhängenden Fragen innerhalb einer angemessenen Zeitspanne zu überdenken. Dieses "Zwischenstadium" endet jedoch, sobald im Inland Aufenthalt genommen worden ist. Von da an sieht das Gesetz sämtliche äußeren und inneren Hindernisse für eine Eingliederung oder Wiedereingliederung in Deutschland als beseitigt an, so daß zur weiteren Berücksichtigung von verfolgungsbedingten Ersatzzeiten kein Anlaß mehr besteht. Er ist auch im Falle der Klägerin nicht vorhanden, wobei es auf das Fehlen eines - wie auch immer zu bestimmenden - Rückkehrwillens nicht ankommen kann. Denn sie hatte als Ehefrau eines amerikanischen Besatzungsangehörigen von der Aufenthaltnahme in Deutschland an jedenfalls die Möglichkeit, am deutschen Leben teilzunehmen. Sie durfte sich aus dem "amerikanischen Lebensbereich" entfernen, sei es z. B. um kulturelle Veranstaltungen oder deutsche Bekannte zu besuchen, Besichtigungen oder Besorgungen zu machen. Der ihr zur Verfügung stehende räumliche und personelle Bereich war so variabel, daß er sich um wesentliche einheimische Bereiche erweitern ließ. Insofern unterschied sich ihre Lage erheblich von der Lage derer, die im Ausland tatsächlich verblieben waren. Von einem Aufenthalt im Ausland kann bei ihr sonach nicht die Rede sein.

Die Klägerin kann weitere Ersatzzeiten nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG auch nicht deshalb beanspruchen, weil die Beklagte solche bei ihrem Ehemann anerkannt hat. Hierbei hat es sich um einen Einzelfall gehandelt. Das schließt die Annahme einer Selbstbindung aus, abgesehen davon, daß eine solche nur in Betracht kommt, wenn der Verwaltung ein Ermessen eingeräumt ist.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646822

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