Leitsatz (amtlich)

Eine Verfolgte, die von Frankreich aus eine Stelle als Zivilangestellte bei dem Internationalen Gerichtshof angenommen hatte und bei Ausübung der Beschäftigung von 1946 bis 1948 in Nürnberg lebte, hielt sich während dieser Zeit nicht - iS des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO - im Ausland auf.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1970-12-22; AVG § 28 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 08.05.1985; Aktenzeichen L 9 An 16/84)

SG Berlin (Entscheidung vom 13.07.1984; Aktenzeichen S 16 An 2160/83)

 

Tatbestand

Im Prozeß geht es um die Rechtsfrage, ob der Aufenthalt einer Verfolgten, die als Zivilangestellte bei dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg von 1946 bis 1948 beschäftigt war, als Auslandsaufenthalt iS des § 28 Abs 1 Nr 4 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) anzusehen ist.

Die im Jahr 1922 in Erfurt geborene jüdische Klägerin gehört zu den Verfolgten des Nationalsozialismus. Sie besuchte in Erfurt die Schule bis zum Abschluß der Untersekunda und wanderte im Oktober 1938 wegen des zunehmenden Verfolgungsdrucks nach Budapest aus, wo ein Onkel von ihr lebte. Dort arbeitete sie als Erzieherin. Im Juni 1944 wurde sie in das Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Nach der Befreiung wurde sie zunächst in einem Krankenhaus in Deutschland behandelt und im Juli 1945 in ein amerikanisches Militärlazarett in Frankreich verlegt; von dort wurde sie im Herbst 1945 entlassen. Von September 1945 bis April 1946 arbeitete sie als Telefonistin bei der amerikanischen Armee in Paris. Vom 9. Mai 1946 bis zum 8. September 1948 war sie zunächst als Übersetzerin, dann als research analyst (etwa Ermittlerin) bei dem Office of Chief of Counsel for War Crimes (etwa Ankläger im Kriegsverbrecherprozeß) beschäftigt. Im September 1948 kehrte sie nach Paris, wo sie während der ganzen Zeit als ungarischer Flüchtling gemeldet und in der französischen Rentenversicherung versichert war, zurück. Im Mai 1949 wanderte sie nach Israel aus.

Auf den Antrag der Klägerin hin ließ die Beklagte mit Bescheid vom 4. Oktober 1982 die Beitragsnachentrichtung zu, erklärte aber, die Tätigkeit in Nürnberg könne nicht als Ersatzzeit angerechnet werden. Mit Bescheid vom 26. November 1982 gewährte sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Oktober 1980; dabei rechnete sie zwar die Zeit bis Mai 1946 als Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts und die anschließende Zeit bis Dezember 1946 als Ersatzzeit der Vertreibung an, lehnte aber die Berücksichtigung weiterer Ersatzzeiten ab. Der gegen beide Bescheide eingelegte Widerspruch blieb erfolglos.

Das Sozialgericht Berlin hat mit Urteil vom 13. Juli 1984 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, bei der Rente die Zeit von September 1948 bis Dezember 1949 als weitere Ersatzzeit anzurechnen; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist zur Zurückweisung der Berufung ausgeführt: Die Klägerin habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Zeit von Mai 1946 bis September 1948 in Nürnberg gehabt. Ihre Tätigkeit könne nicht unter dem Gesichtspunkt der Entsendung (Einstrahlung) betrachtet werden. Daß die Klägerin zum Gefolge der amerikanischen Streitkräfte gehört habe und wie diese die volle Exterritorialität habe in Anspruch nehmen können, mache ihren Aufenthalt auf deutschem Boden nicht zu einem Aufenthalt auf fremdem (ausländischem) Gebiet.

Mit der Revision macht die Klägerin geltend: Die Bundesrepublik sei damals kein souveräner Staat gewesen. Ihre, der Klägerin, besonderen Verhältnisse seien vom LSG nicht berücksichtigt worden; sie könne nicht mit einem "ortsgebundenen" Angestellten verglichen werden. Sie habe auch keine Beiträge zur deutschen Sozialversicherung entrichtet. Das angefochtene Urteil verstoße gegen den Überleitungsvertrag. Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, eine weitere Ersatzzeit vom 9. Mai 1946 bis 31. August 1948 rentensteigernd zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß die Zeit vom 9. Mai 1946 bis 31. August 1948, während der die Klägerin in Nürnberg beschäftigt gewesen war, nicht als Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts berücksichtigt werden kann.

Als Rechtsgrundlage für die Anrechnung einer derartigen Ersatzzeit kommt hier nur § 28 Abs 1 Nr 1 AVG idF des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) in Betracht. Danach werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten angerechnet Zeiten eines Auslandsaufenthalts bis zum 31. Dezember 1949, sofern dieser durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden ist oder infolge solcher Maßnahmen angedauert hat; die Ersatzzeiten gehen nach § 32a AVG auch in die Rentenberechnung ein. Die streitige Zeit war keine Ersatzzeit, weil während der Beschäftigung der Klägerin in Nürnberg kein "Auslandsaufenthalt" vorlag.

Auslandsaufenthalt ist ein Aufenthalt außerhalb der - jeweiligen - Grenzen des Inlandes. Da Nürnberg zum Inland gehörte und gehört, kommt es für die Entscheidung darauf an, was unter Aufenthalt zu verstehen ist. Gesetzliche Bestimmungen dieses Begriffs gibt es in § 9 AO 1977 und insbesondere in § 30 Abs 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -; nach den wörtlich übereinstimmenden beiden Vorschriften hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt.

Der Senat hat dazu unter Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung ausgeführt, auch im Sozialversicherungsrecht bedeute "Aufenthalt" das tatsächliche, nicht nur vorübergehende Verweilen an einem Ort; auf den rechtsgeschäftlichen Willen, sich niederzulassen und den Ort der Wahl zum ständigen Mittelpunkt der Lebensinteressen zu machen, wie er zur Begründung eines Wohnsitzes erforderlich sei (§ 7 BGB), komme es dabei nicht an (SozR 2200 § 1251 Nr 17).

Daß für die Mitglieder einer Besatzungstruppe, deren "Ziviles Gefolge" - das die Truppe begleitende Zivilpersonal, das bei den Streitkräften beschäftigt ist - und deren Familienangehörige Abweichungen vom grundsätzlichen Aufenthaltsort bestehen, zB nach Art X des NATO-Truppenstatuts vom 19. Juni 1951 (BGBl 1961 II 1190), wenn in dem Aufnahmestaat die Verpflichtung zur Leistung einer Steuer vom Aufenthalt abhängt (vgl dazu das Urteil des Senats in SozR 2200 § 1233 Nr 7, S 6), und nach Art 7 des Zusatzabkommens dazu vom 3. August 1959 (BGBl 1961 II 1183, 1218) mit Bezug auf Rückschaffungen, Ausweisungen, die Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen oder die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit (vgl BSGE 52, 210, 226 = SozR 6180 Art 13 Nr 3 S 24 f, LS Nr 6), ist für den Begriff des Auslandsaufenthalts iS von § 28 Abs 1 Nr 4 AVG ohne Bedeutung. Denn dieser Begriff ist aus Sinn und Zweck der Ersatzzeitregelung für Verfolgte auszulegen.

Die Ersatzzeit des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts nach § 28 Abs 1 Nr 4 AVG hat den Sinn, zunächst den Verfolgten dafür zu entschädigen, daß allein schon der (erzwungene) Aufenthalt im Ausland dem Erwerb inländischer Versicherungszeiten entgegenstand (BSG SozR 2200 § 1251 Nr 116), und nach dem Kriegsende dem Verfolgten Gelegenheit zu geben, die Frage und die Möglichkeiten einer Rückkehr innerhalb einer angemessenen Zeitspanne zu überdenken; dieses Zwischenstadium endet jedoch, sobald im Inland Aufenthalt genommen worden ist (BSG SozR Nr 46 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nr 17 S 52).

Der Senat hat deshalb auch ausgeführt, daß sich nicht iS des § 28 Abs 1 Nr 4 im Ausland aufgehalten hat, wer sich nach dem zweiten Weltkrieg als (Familien-) Angehöriger eines Mitglieds der amerikanischen Besatzungsmacht auf deutschem Staatsgebiet befunden hat - entschieden für eine Frau, die als Verfolgte mit ihrem Ehemann im Jahr 1939 Deutschland verlassen und die amerikanische Staatsangehörigkeit erworben hatte und dann im Februar 1947 ihrem als Angehöriger der US-Streitkräfte nach Deutschland versetzten Mann nachfolgte - (SozR 2200 § 1251 Nr 17). Daran ist auch für die Mitglieder des Zivilen Gefolges festzuhalten. Zwischen den Familienangehörigen des Mitglieds der Truppe oder des Zivilen Gefolges einerseits und dem Zivilen Gefolge andererseits besteht insoweit kein Unterschied.

Auf die Frage der Exterritorialität kommt es dabei nicht an. Der Exterritoriale ist zwar so zu behandeln, wie wenn er seinen letzten Wohnsitz vor der Einreise in das deutsche Gebiet beibehalten hätte (Palandt/Heinrichs, BGB, 45. Aufl, Anm 2 c ee zu § 7; vgl auch § 20 Abs 2 Gerichtsverfassungsgesetz und BSGE 58, 233, 234 = SozR 1200 § 30 Nr 9). Das berührt aber den Aufenthalt nicht, bei dem es anders als beim Wohnsitz nicht auf rechtliche, sondern auf tatsächliche Umstände ankommt.

Auch die Entscheidung des Bundessozialgerichts in SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 58 steht nicht entgegen. Dort hat der 12. Senat sich mit dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts iS des deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommens befaßt und dazu entschieden, daß ein israelischer Staatsangehöriger auch während eines Auslandsaufenthaltes im diplomatischen Dienst unter bestimmten Voraussetzungen seinen gewöhnlichen Aufenthalt iS dieses Vertrages in Israel behält. Diese für eine andere Rechtsvorschrift und für andere tatsächliche Verhältnisse ergangene Entscheidung läßt den Begriff des Auslandsaufenthalts in § 28 AVG unberührt.

Die Klägerin hat sich zwei Jahre und vier Monate lang - offenbar ohne längere Unterbrechungen - in Nürnberg aufgehalten, dort als freier Mensch auf einem wirtschaftlichen und kulturellen Niveau, das mindestens dem der deutschen Zivilbevölkerung entsprach, leben können sowie einen geachteten und - legt man das Hauptmannsgehalt für eine 25jährige zugrunde - gut bezahlten Beruf ausgeübt. In dieser Zeit hat bei ihr kein Auslandsaufenthalt bestanden.

Entgegen der Auffassung der Revision kommt es hier nicht darauf an, ob Deutschland damals ein souveräner Staat war. Auch die besonderen Verhältnisse der Klägerin sprechen nicht für, sondern gegen die Annahme eines Auslandsaufenthalts. Der Umstand, daß die Klägerin keine Beiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet hat, ist für die Frage des Aufenthalts nicht wesentlich.

Schließlich führt auch der Hinweis der Revision auf den Überleitungsvertrag nicht zu einer anderen Beurteilung. Der einen Teil der Bonner Verträge darstellende Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen idF des Protokolls vom 23. Oktober 1954 (BGBl 1955 II 405) schreibt in Art 3 Abs 1 Satz 1 vor, daß niemand nur deswegen beeinträchtigt werden darf, weil er den Streitkräften einer der Drei Mächte Dienste geleistet hat. Die Klägerin hat jedoch nur deshalb keinen Anspruch auf Ersatzzeit, weil sie damals sich nicht im Ausland aufgehalten hat; die Dienstleistung für die US-Streitkräfte ist dabei nicht von entscheidender Bedeutung.

Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662656

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