Leitsatz (amtlich)

Zu den in Art 1 Abs 1 Buchst b SVVtr Jugoslawien vom 10.3.1956 zur Erläuterung des Begriffs "Versicherungszeiten" neben den Beitragszeiten angeführten "Ersatzzeiten" gehört sowohl die verfolgungsbedingte Ersatzzeit iS der §§ 1-4 NVG, als auch des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO.

 

Normenkette

SVVtr YUG Art 1 Abs 1 Buchst b Fassung: 1956-03-10; SVVtr YUG Art 2 Fassung: 1956-03-10; SVVtr YUG Art 3 Fassung: 1956-03-10; RVO § 1251 Abs 1 Nr 4; NVG §§ 1-4

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.05.1984; Aktenzeichen L 3 J 200/83)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 14.07.1983; Aktenzeichen S 21 (9) J 162/80)

 

Tatbestand

Der 1914 in Jugoslawien geborene Kläger begehrt von der Beklagten die rentensteigernde Berücksichtigung seiner während des Krieges in Deutschland zurückgelegten Beschäftigungszeiten. Er hat seit November 1960 in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtige Beschäftigungen verrichtet und ist im Jahre 1977 eingebürgert worden. Seit 1975 bezieht der Kläger eine jugoslawische Rente, die im wesentlichen durchgehende Zeiten zwischen 1953 und 1960 sowie mit Unterbrechungen Zeiten von 1931 bis 1942 und schließlich "besondere Dienstjahre" vom 23. Juli 1942 bis zum 8. Mai 1945 berücksichtigt. 1969 gewährte ihm die Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz Rente wegen Berufsunfähigkeit. Das anschließend sozialgerichtliche Verfahren, in dem der Kläger die zusätzliche Berücksichtigung weiterer Beschäftigungszeiten in Jugoslawien von 1928 bis 1960 und von verfolgungsbedingten Ersatzzeiten von Februar 1942 bis April 1945 begehrte, endete mit einem Vergleich, in dem sich die jetzige Beklagte - damals Beigeladene - verpflichtete, dem Kläger unter Berücksichtigung der bisher von der LVA Rheinprovinz gezahlten Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Dezember 1971 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Ausführungsbescheid vom 21. Dezember 1973). An die Umwandlung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Altersruhegeld, bei dem wiederum nur deutsche Versicherungszeiten ab November 1960 berücksichtigt wurden, schloß sich ein neues Klageverfahren an, das mit der vergleichsweisen Verpflichtung der Beklagten endete, nach weiteren Ermittlungen einen neuen rechtsmittelfähigen Bescheid zu erteilen. Mit dem jetzt angefochtenen Bescheid vom 25. Juni 1980 lehnte die Beklagte die Anerkennung weiterer Versicherungs- und Ersatzzeiten mit der Begründung ab, der Kläger sei am 1. Januar 1956, dem nach dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien über die Regelung gewisser Forderungen aus der Sozialversicherung vom 10. März 1956 maßgeblichen Stichtag, nicht Deutscher iS des Grundgesetzes (GG) gewesen. Für die geltend gemachten Zeiten während des Krieges sei daher ein deutscher Versicherungsträger nicht leistungspflichtig; auch Ansprüche nach dem Fremdrentengesetz (FRG) bestünden nicht.

Das Sozialgericht (SG) hat die auf Anerkennung weiterer Versicherungszeiten zwischen 1933 und 1956 gerichtete Klage durch Urteil vom 14. Juli 1983 mit der Begründung abgewiesen, es fehle an den für die Leistungspflicht der Beklagten erforderlichen Nachweisen, daß der Kläger am 1. Januar 1956 als Deutscher seinen ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland gehabt habe. Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 18. Mai 1984 aus den gleichen Gründen zurückgewiesen. Es hat festgestellt, daß der Kläger am 1. Januar 1956 nicht deutscher, sondern jugoslawischer Staatsangehöriger gewesen sei und keinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland gehabt habe.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger, seine während des Krieges in Deutschland zurückgelegten Beschäftigungszeiten seien von der Beklagten zu Unrecht nicht berücksichtigt worden.

Der Kläger beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Mai 1984 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14. Juli 1983 die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides vom 25. Juni 1980 zu verurteilen, ihm Rente unter Einbeziehung der vor dem 2. November 1960 liegenden Versicherungszeiten zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht nach Lage der Akten, da die im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienenen Beteiligten in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind (§ 126 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

Die Revision ist zurückzuweisen. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Berücksichtigung vor dem 2. November 1960 liegender Versicherungszeiten.

Bei Ermittlung der für den Kläger maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage und damit bei der Rentenhöhe sind zwar grundsätzlich die zurückgelegten Beitragszeiten und die Ersatzzeiten maßgebend (§§ 1255 Abs 1 und 1255a Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-). Das gilt jedoch nicht für die hier streitigen Zeiten bis zum 1. Januar 1956, weil insoweit eine abweichende Regelung des zwischenstaatlichen Rechts eingreift, die gemäß § 30 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) gegenüber dem innerstaatlichen Recht vorrangig ist.

Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien über die Regelung gewisser Forderungen aus der Sozialversicherung vom 10. März 1956 (BGBl II 1958 S 170) -DJV- sieht die pauschale Abgeltung aller Anwartschaften und Ansprüche aus den Sozialversicherungen von jugoslawischen Staatsangehörigen vor, die am 1. Januar 1956 ihren ständigen Wohnsitz im Gebiet der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien hatten, soweit diese Anwartschaften und Ansprüche aufgrund der bis zum 1. Januar 1956 in der deutschen Sozialversicherung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland oder im Land Berlin zurückgelegten Versicherungszeiten (Beitrags- und Ersatzzeiten) erwachsen sind. Alle Verpflichtungen aus diesen in Art 1 Abs 1 Buchst b DJV bezeichneten Anwartschaften und Ansprüchen übernehmen nach Art 2 Buchst b DJV die Träger der jugoslawischen Sozialversicherung nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts. Gemäß Art 3 DJV werden mit der Zahlung des in Art 1 Abs 2 DJV genannten Unterschiedsbetrages die Träger der deutschen Sozialversicherung, bei denen die nach Art 1 Abs 1 Buchst b DJV bezeichneten Anwartschaften und Ansprüche erwachsen sind, von allen Verpflichtungen aus diesen Anwartschaften und Ansprüchen befreit. Diese Bestimmungen gehen dem innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland vor, soweit sie ihm entgegenstehen (Art 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1958 zu dem Vertrag - BGBl II 1958, 168).

Gegenüber einem deutschen Versicherungsträger haben somit die in Art 1 Abs 1 Buchst b DJV genannten Personen keine Möglichkeit, Ansprüche aus Versicherungszeiten vor dem 1. Januar 1956 geltend zu machen. Zu diesem Personenkreis gehört der Kläger. Wie das LSG im angefochtenen Urteil festgestellt hat und von der Revision auch nicht bezweifelt wird, war der Kläger am 1. Januar 1956 jugoslawischer Staatsbürger und hatte seinen Wohnsitz zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist vielmehr erstmals am 22. Oktober 1960 als von Belgrad kommend in Aachen gemeldet worden. Diese Feststellungen sind für den Senat gemäß § 163 SGG bindend. Daraus folgt, daß der Kläger seinen Wohnsitz am 1. Januar 1956 noch im Gebiet der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien gehabt hat. Er gehört mithin - wie der erkennende Senat bereits in seinem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 15. Oktober 1986 (5b RJ 48/84) eingehend begründet hat - zu dem Personenkreis, dessen Anwartschaften und Ansprüche gegen deutsche Sozialversicherungsträger für die Zeit bis zum 1. Januar 1956 nach dem DJV durch die Träger der jugoslawischen Sozialversicherung übernommen worden sind.

Bei Abschluß des Vertrages vom 10. März 1956 galt zwar die erst am 1. Januar 1957 durch das Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 23. Februar 1957 (BGBl I S 45) eingeführte Bestimmung des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO über verfolgungsbedingte Ersatzzeiten noch nicht. Gleichwohl mußte der Senat zu dem Ergebnis kommen, daß zu den in Art 1 Abs 1 Buchst b DJV zur Erläuterung des Begriffs Versicherungszeiten in Klammern neben den Beitragszeiten aufgeführten Ersatzzeiten auch die verfolgungsbedingte Ersatzzeit iS des seit 1957 geltenden § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO zu rechnen ist. Bei Vertragsabschluß galten nämlich bereits das Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung -NVG- vom 22. August 1949 (WiGBl S 263) und die Verordnung der Bundesregierung hierzu vom 12. Mai 1950 (BGBl I S 179). Nach § 3 Abs 1 NVG galten in der Rentenversicherung bei den Verfolgten die Zeiten der Haft als Ersatzzeiten für Wartezeit und Anwartschaft; es wurden nach § 4 Abs 1 NVG dafür auch Steigerungsbeträge gewährt. Diese Regelung war im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zwar noch nicht in den damals geltenden Text der RVO (§ 1267 RVO aF) aufgenommen. Für die Erhaltung der Anwartschaft waren dort beitragslose Zeiten (Ersatzzeiten) nur vorgesehen, soweit es sich um die Erfüllung der Wehrpflicht, der Arbeitsdienstpflicht, um näher bezeichnete Lehrgänge, um durch Krankheit, Schwangerschaft und Wochenbett bedingte Arbeitsunfähigkeit oder um Zeiten der Arbeitslosigkeit mit Unterstützungsbezug handelte. Neben dieser Bestimmung galten jedoch gemäß Art 125 iVm Art 74 Nrn 9 und 12 GG bei Vertragsbeginn bereits die oben erwähnten Ersatzzeittatbestände aus dem NVG als Bundesrecht. Mangels einer ausdrücklichen Einschränkung im DJV müssen deshalb zu den dort in Art 1 Abs 1 Buchst b genannten Ersatzzeiten auch die verfolgungsbedingten Ersatzzeiten gerechnet werden, zumal es nicht sinnvoll gewesen wäre, von der pauschalen Regelung der Anwartschaften und Ansprüche nach Staatsangehörigkeit und Wohnsitz die auf verfolgungsbedingte Ersatzzeittatbestände zurückgehenden Teilansprüche auszunehmen. Auch die Denkschrift zum DJV (BT-Drucks Nr 37 der 3. Wahlperiode) bietet hierfür keinen Anhalt. Der erkennende Senat muß somit davon ausgehen, daß alle Versicherungszeiten des Klägers - einschließlich der verfolgungsbedingten Ersatzzeiten - vor dem 1. Januar 1956 zu der von den jugoslawischen Versicherungsträgern übernommenen Last gehören, von der die deutschen Versicherungsträger durch die Zahlung des in Art 1 Abs 2 DJV vorgesehenen Unterschiedsbetrages frei geworden sind.

Für diese rechtliche Beurteilung spricht auch, daß nach den Feststellungen des LSG im angefochtenen Urteil der jugoslawische Versicherungsträger dem Kläger durch seinen Bescheid vom 9. Dezember 1975 eine Rente gewährt hat, bei der er neben den im wesentlichen durchgehenden Zeiten zwischen 1953 und 1960 sowie den Zeiten mit Unterbrechungen vom 24. August 1931 bis zum 11. Mai 1942 ausdrücklich "besondere Dienstjahre" vom 23. Juli 1942 bis zum 8. Mai 1945 berücksichtigt hat. Hierzu hätte nämlich kein Anlaß bestanden, wenn sich der DJV nicht auch auf verfolgungsbedingte Ersatzzeiten bezogen hätte. Selbst wenn dadurch der Zahlbetrag der jugoslawischen Rente in geringerem Umfang erhöht wird, als das bei einer Anrechnung in der deutschen Rentenversicherung der Fall wäre, kann weder mit dieser Begründung noch aus verfassungsrechtlichen Erwägungen die Zulässigkeit der im DJV getroffenen zwischenstaatlichen Regelung in Zweifel gezogen werden. Der Senat verweist insoweit auf seine bereits im Urteil vom 15. Oktober 1986 aaO gemachten Ausführungen und auf die dort zitierte weitere Rechtsprechung des BSG.

Daß der Kläger die Voraussetzungen des FRG oder die besonderen Voraussetzungen des § 20 des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I S 1864) erfüllt, hat das LSG in von der Revision nicht beanstandeter Weise verneint. Der Senat hat deshalb keinen Anlaß, hierauf näher einzugehen, verweist aber auch hierzu auf sein Urteil vom 15. Oktober 1986 aaO.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662953

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