Entscheidungsstichwort (Thema)

Ablehnung einer Zugunstenentscheidung. Sachaufklärung bei Ermessensentscheidung. Berufsschadensausgleich bei vorzeitiger Pensionierung

 

Orientierungssatz

Begnügt sich die Versorgungsverwaltung bei der Ablehnung einer Zugunstenentscheidung mit dem Hinweis auf die Bindungswirkung des den Berufsschadensausgleich ablehnenden Verwaltungsakts, sind die Gerichte im Rahmen der Ermessensüberprüfung gemäß SGG § 54 Abs 2 S 2 gehalten, selbst die Richtigkeitsprüfung entsprechend dem in KOVVfG enthaltenen Tatbestandserfordernis der tatsächlichen oder rechtlichen Unrichtigkeit vorzunehmen. Dies bedeutet keine unerlaubte Einengung des Verwaltungsermessens (vgl BSG vom 1977-11-24 9 RV 64/76 = SozR 1500 § 103 Nr 16), sondern ist Ausdruck der den Gerichten gemäß SGG § 54 Abs 2 S 2 auferlegten richterlichen Kontrollfunktion. Daraus folgt, daß für die notwendige gerichtliche Überprüfung bei der Feststellung tatsächlicher Verhältnisse die Vorschriften des gerichtlichen Verfahrens gelten. Dazu gehört in erster Linie die Sachaufklärungspflicht gemäß den SGG §§ 103 und 106 (vgl BSG vom 1969-06-24 10 RV 282/66 = BSGE 29, 278, 284).

Zur Sachaufklärungspflicht des LSG bei der Frage, ob die vorzeitige Pensionierung (hier: eines Volksschullehrers) durch die Schädigungsfolgen wesentlich verursacht ist.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs 1 Fassung: 1960-06-27; SGG § 54 Abs 2 S 2 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1974-07-30, § 106; BVG § 30 Abs 3; BVG § 30 Abs 4

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 26.04.1978; Aktenzeichen IV KOBf 43/77)

SG Hamburg (Entscheidung vom 12.08.1977; Aktenzeichen 29 KO 35/75)

 

Tatbestand

I.

Der Kläger begehrt Berufsschadensausgleich im Wege einer Zugunstenentscheidung gemäß § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (KOVVfG).

Er bezieht vom 1. Dezember 1962 an Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH. Mit Ausführungsbescheid vom 13. Oktober 1970 sind folgende Schädigungsfolgen anerkannt:

1. Brustfellschwarte links und Zwerchfellschwarte nach operativer Entfernung eines Zwerchfellbruchs nach Brustkorbdurchschuß mit gastrokardialem Symptomenkomplex sowie Subacidität, deformierende Bronchitis mit angedeuteten Bronchiektasen, postoperative Thrombose beider Beine mit Geschwürsneigung beiderseits, 2. ohne nachweisbare Folgen abgeheilte Frostschäden an den Füßen.

Im Jahre 1962 hatte der Kläger, von Beruf Volksschullehrer, seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand beantragt. Die zuständige Schulbehörde der Freien H H entsprach diesem Antrag zum Ende Juni 1968. Zuvor hatte der Nervenarzt Dr. B in seinem personalärztlichen Gutachten vom 22. November 1967 die vorzeitige Dienstunfähigkeit bejaht. Er hatte erklärt, es liege auf dem Boden eines allgemeinen Gefäßprozesses eine Hirnleistungsschwäche vor, die mit einem Blutdruck wechselnden Grades einhergehe. Ungünstig auf die Gesamtdurchblutung - vor allem des Gehirns - mache sich das beträchtliche Krampfaderleiden bemerkbar. Bei längerem Stehen komme es zu sogenannten orthostatischen Regulationsstörungen mit Kopfdruck, Schwindel und allgemeiner Unsicherheit. Nach Operation und verschiedenen Thrombosen sei es bei der primär hyperthymen Persönlichkeit zu ängstlich-hypochondrischen Verhaltensweisen gekommen. Die schon früher an Psychopathie grenzenden Symptome hätten infolge der allgemeinen Sklerose eine beträchtliche Akzentuierung des Gesamtbildes erfahren.

Den Antrag auf Gewährung von Berufsschadensausgleich hatte die Versorgungsverwaltung nach versorgungsärztlicher Stellungnahme ua mit der Begründung abgelehnt, der Kläger sei dem personalärztlichen Gutachten zufolge aus schädigungsunabhängigen Gründen vorzeitig in den Ruhestand getreten. Die seinerzeit erhobene Klage war erfolglos geblieben.

Die nunmehr beantragte Zugunstenentscheidung lehnte die Versorgungsverwaltung unter Bezugnahme auf die rechtsverbindlichen Entscheidungen bzw das rechtskräftige Urteil ab (Bescheid vom 6. August 1975, Widerspruchsbescheid vom 14. November 1975). In der Stellungnahme der Verwaltung hieß es ua, für eine neue Prüfung im Rahmen des § 40 Abs 1 KOVVfG bestünde keine Veranlassung. Der Kläger habe keine rechtserheblichen Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht. Die vorgelegten Bundesbehandlungsscheine, wonach keine Behandlung wegen eines cerebral-sklerotischen Abbaus oder eines Blutdruckleidens stattgefunden habe, sowie das ärztliche Attest Dr. B, das weitere Dienstunfähigkeit wegen des Kriegsleidens bestätige, seien in den vorangegangenen Verfahren bekannt gewesen.

Mit der neuen Klage macht der Kläger geltend, zu Unrecht würden die Schädigungsfolgen als Grund für seine vorzeitige Pensionierung bestritten. Zum Beweis für das Gegenteil legte er verschiedene ärztliche Unterlagen vor. Klage und Berufung hatten indessen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat gemeint, die Beklagte habe zu Recht keine neue Sachentscheidung getroffen; sie sei ohne weitere Sachprüfung befugt gewesen, an der Bindungswirkung des früheren Bescheids festzuhalten. Aus den beigebrachten Unterlagen sei nicht zu entnehmen, daß die verbindlichen Verwaltungsentscheidungen unrichtig seien. Selbst wenn man nach diesen Unterlagen davon ausgehen wolle, die Schulbehörde sei irrtümlich von der Dienstunfähigkeit ausgegangen, könne hieraus nicht gefolgert werden, die Pensionierung sei durch Schädigungsfolgen verursacht. Ob deswegen die Pensionierung hätte erfolgen müssen, sei jedenfalls nicht im Zugunstenverfahren zu prüfen. Der Versorgungsbehörde sei nur das Recht zur Berichtigung eigenen, aber nicht fremden fehlerhaften Verwaltungshandelns eingeräumt.

Der Kläger hat die wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das LSG hätte erörtern müssen, inwieweit der Erstbescheid unrichtig sei. Es habe sich zu Unrecht ausschließlich auf das personalärztliche Gutachten gestützt. Sein substantiierter Vortrag sowie die vorgelegten Arztunterlagen hätten das Berufungsgericht bewegen müssen, Ermittlungen über den wahren Grund seiner Dienstunfähigkeit anzustellen. Jedenfalls liege es wegen der Höhe der schädigungsbedingten MdE sowie der Art der Schädigungsfolgen (Gasaustauschstörung - Krampfaderleiden) nahe, den anerkannten Schädigungsfolgen eine wesentliche mitursächliche Bedeutung für den Eintritt der Dienstunfähigkeit einzuräumen. Das LSG habe nicht genügend dargetan, weshalb die vorgelegten ärztlichen Unterlagen nicht geeignet seien, das aus den Personalakten gewonnene Ergebnis zu erschüttern.

Der Kläger beantragt, die angefochtenen Urteile sowie die zugrundeliegenden Verwaltungsbescheide aufzuheben und die Beklagte gemäß seinem Antrag zu verpflichten, einen neuen Bescheid zu erteilen.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die auf den Berichtigungsantrag des Klägers hin getroffene Verwaltungsentscheidung, unter Hinweis auf die Bindungswirkung nicht in eine erneute Sachprüfung eintreten zu wollen, ist ermessensfehlerhaft. Die Versorgungsbehörde hatte dem Kläger Berufsschadensausgleich im wesentlichen deshalb versagt, weil er aus schädigungsunabhängigen Gründen vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden sei. Sie konnte sich dabei auf die versorgungsärztliche Stellungnahme und auf das personalärztliche Gutachten der Schulbehörde stützen. Der Versorgungsarzt hatte als Diagnose die in dem genannten Gutachten enthaltenen Feststellungen einer zwischenzeitlich eingetretenen Blutdruckerhöhung sowie eines zunehmenden cerebral-sklerotischen Abbaus übernommen. Eigene Untersuchungen hatte er nicht vorgenommen. Insbesondere hatte er es unterlassen, das Gesamtausmaß der Schädigungsfolgen mit einer immerhin hohen MdE-Bewertung sowie die sich daraus gegebenenfalls ergebende berufliche Behinderung zu erörtern. So war er weder darauf eingegangen, inwieweit die anerkannte Lungenschädigung den Kläger etwa bei der Unterrichtsgebung behinderten, noch, ob die an den Beinen anerkannten Schädigungsfolgen (postoperative Thrombose mit Geschwürsneigung) die Stehfähigkeit und damit gegebenenfalls die berufliche Tätigkeit als Volksschullehrer beeinträchtigten. Zudem ergaben sich aus dem personalärztlichen Gutachten selbst deutliche Anhaltspunkte, die eine zusätzliche Sachprüfung hätten angezeigt erscheinen lassen. Nach diesem Gutachten soll das beträchtliche Krampfaderleiden die Gesamtdurchblutung, insbesondere des Gehirns, ungünstig beeinflußt haben. Es hätte daher nahegelegen zu prüfen, ob und in welchem Ausmaß die an den Beinen anerkannten Schädigungsfolgen im Sinne einer schädigungsbedingten Verursachung bedeutsam sein konnten. Außerdem wurde dem Kläger eine ängstlich-hypochondrische Verhaltensweise mit an Psychopathie grenzenden Symptomen angelastet. Ob dies schädigungsbedingt verursacht war, liegt nicht außerhalb jeglicher medizinischer Möglichkeit. Denn die mit 80 vH bewerteten Schädigungsfolgen können durchaus Beschwerden verursacht haben, die, der Schulbehörde allerdings unbekannt, den Eindruck der krankhaften Überbewertung zu erwecken geeignet waren. Davon könnte auch deshalb ausgegangen werden, weil die in einem nicht unerheblichen Umfang vorhandenen Schädigungsfolgen in dem personalärztlichen Gutachten gänzlich unerwähnt geblieben waren.

Mithin durfte sich die Versorgungsverwaltung nicht mit dem Hinweis auf die Bindungswirkung des den Berufsschadensausgleich ablehnenden Verwaltungsakts begnügen (BSG SozR 1500 § 109 Nr 1). Tut sie es dennoch, sind die Gerichte im Rahmen der Ermessensüberprüfung gemäß § 54 Abs 2 Satz 2 SGG gehalten, selbst die Richtigkeitsprüfung entsprechend dem in § 40 KOVVfG enthaltenen Tatbestandserfordernis der tatsächlichen oder rechtlichen Unrichtigkeit vorzunehmen. Dies bedeutet keine unerlaubte Einengung des Verwaltungsermessens (BSG SozR 1500 § 103 Nr 16), sondern ist Ausdruck der den Gerichten gemäß § 54 Abs 2 Satz 2 SGG auferlegten richterlichen Kontrollfunktion. Daraus folgt, daß für die notwendige gerichtliche Überprüfung bei der Feststellung tatsächlicher Verhältnisse die Vorschriften des gerichtlichen Verfahrens gelten. Dazu gehört in erster Linie die Sachaufklärungspflicht gemäß den §§ 103 und 106 SGG (BSGE 29, 278, 284). Die Verletzung dieser Pflicht hat der Kläger zu Recht gerügt. Das LSG hätte demgemäß Ermittlungen dahin anstellen müssen, ob doch, wie der Kläger behauptet, die Schädigungsfolgen nach der in der Kriegsopferversorgung herrschenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung zur vorzeitigen Zurruhesetzung geführt hatten oder hätten führen können.

Dieser Sachaufklärungspflicht durfte sich das Berufungsgericht nicht mit der Begründung entziehen, der Dienstherr des Klägers habe stets den Standpunkt vertreten, die Schädigungsfolgen seien für die Dienstunfähigkeit nicht verantwortlich. Woraus sich dies im einzelnen ergeben soll, läßt das angefochtene Urteil in rechtsfehlerhafter Weise nicht einmal erkennen. Jedoch ist dies letztlich nicht entscheidend. Der wirtschaftliche Schaden ist allein durch die vorzeitige Ruhestandsversetzung eingetreten. Dafür macht der Kläger die Schädigungsfolgen verantwortlich und begehrt aus seiner Sicht folgerichtig Berufsschadensausgleich. Infolgedessen ist bei der Frage der schädigungsbedingten Verursachung bzw Mitverursachung allein hierauf abzustellen. So will es auch der Kläger verstanden wissen, wenn er durch Vorlage ärztlicher Unterlagen die Fehlerhaftigkeit des personalärztlichen Gutachtens nachzuweisen versucht. Ob nun tatsächlich die vorzeitige Pensionierung durch die anerkannten Schädigungsfolgen wesentlich verursacht ist, wird das LSG unter Ausschöpfung aller Erkenntnismittel festzustellen haben. Es dürfte sich deshalb empfehlen, bei der Schulbehörde - unter Angabe der Gesamtschädigungsfolgen und deren Ausfallerscheinungen sowie der vom Kläger vorgelegten ärztlichen Unterlagen - anzufragen, ob Momente, wie sie dort angeführt sind, für die vorzeitige Zurruhesetzung maßgebend waren. Aber auch dann, wenn die Schulbehörde dies nicht bestätigen sollte, insbesondere wenn sie die vom Kläger behauptete wiederholte langdauernde schädigungsbedingte Dienstbehinderung ab 1962 (Hinweis auf die ärztliche Bescheinigung Dr. B) nicht gelten lassen sollte, ist eine weitere gutachtliche Anhörung nicht entbehrlich. Insbesondere gilt dies, wenn das personalärztliche Gutachten für die Schulbehörde die ausschlaggebende Grundlage für die vorzeitige Zurruhesetzung gebildet haben sollte. Dann nämlich ist, wie ausgeführt, der Frage einer schädigungsbedingten (Mitverursachung) Verursachung noch erst nachzugehen.

Nach alledem kann das angefochtene Urteil des LSG nicht bestehen bleiben. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654064

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