Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachentrichtung von Beiträgen. Verfolgter. Wiedergutmachung. Fristversäumnis. Nachsichtgewährung. Herstellungsanspruch. Kausalitätstheorie. wesentliche Ursache

 

Orientierungssatz

1. Daß im Falle einer Fristversäumung sowohl die Nachsichtgewährung als auch der Herstellungsanspruch in Betracht kommen können, ist schon deshalb nicht ausgeschlossen, weil die beiden Rechtsinstitute nicht an die gleichen tatsächlichen Voraussetzungen anknüpfen. Während der Herstellungsanspruch ein für die Fristversäumung ursächliches Fehlverhalten der Verwaltung voraussetzt, braucht ein solches im Falle der Nachsichtgewährung nicht vorzuliegen. Das der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vergleichbare Rechtsinstitut der Nachsichtgewährung erfordert andererseits - neben einem eindeutigen Übergewicht des Interesses des Versicherten an der Erfüllung seines materiell-rechtlich begründeten Anspruchs gegenüber dem Interesse der Verwaltung an der Fristwahrung - das Nichtverschulden des Versicherten an der Fristversäumung.

2. Während ein eigenes Verschulden des Versicherten an der Fristversäumung der Nachsichtgewährung in jedem Fall entgegensteht (die Fristversäumung muß, wie bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, ohne Verschulden des Antragstellers eingetreten sein), kommt einem mitwirkenden Verschulden des Versicherten im Rahmen des Herstellungsanspruchs eine solche rechtshindernde Wirkung nicht ohne weiteres zu. Hier muß, weil ja ein für die Fristversäumung bedeutsames Fehlverhalten der Verwaltung vorliegt, die Frage der Kausalität unter Abwägung der etwa von beiden Seiten gesetzten Mitursachen geprüft werden. Dabei kommt es darauf an, welcher der Mitursachen die entscheidende Bedeutung für das Zustandekommen der Fristversäumung beizumessen ist.

 

Normenkette

WGSVG § 10

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 05.03.1986; Aktenzeichen L 8 J 188/83)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 12.09.1980; Aktenzeichen S 13 (10) J 136/78)

 

Tatbestand

Streitig ist die Berechtigung der Klägerin, Beiträge nach § 10 Abs 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) trotz Versäumung der Antragsfrist nachzuentrichten.

Die am 20. Februar 1915 geborene und im September 1935 aus dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches nach dem damaligen Palästina ausgewanderte Klägerin ist israelische Staatsangehörige und wohnt in Israel. Sie bezieht von der Beklagten Altersruhegeld. Mit einem am 24. Dezember 1975 in Haifa abgestempelten und als Luftpostbrief beförderten Schreiben beantragte ihr Bevollmächtigter für sie die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG. Dieses Schreiben trägt auf der Innenseite des Umschlages den Eingangsstempel der Beklagten vom 5. Januar 1976. Die Beklagte lehnte den Antrag wegen Fristversäumung ab (Bescheid vom 20. August 1976). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. April 1978; Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12. September 1980). Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) verurteilte die Beklagte, die Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG zuzulassen (Urteil vom 13. Januar 1982). Es verstoße gegen Treu und Glauben, sich auf eine Ausschlußfrist zu berufen, wenn auch bei fristgerechtem Eingang des Antrages eine frühere Bearbeitung nicht möglich gewesen wäre und daher die Verspätung nach dem Sinn der Fristbestimmung unbeachtlich sei. Der Senat hat mit Urteil vom 28. April 1983 - 12 RK 14/82 - (SozR 5070 § 10 Nr 22) das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil aus dem vom LSG festgestellten Sachverhalt nicht zu erkennen war, ob die Klägerin oder ihr Bevollmächtigter an der Fristversäumung schuldlos war.

Das LSG hat in seiner erneuten Entscheidung vom 5. März 1986 einen Anspruch der Klägerin auf Nachentrichtung wiederum bejaht. Es hat zwar die Voraussetzungen der Nachsichtgewährung verneint, weil es der Bevollmächtigte versäumt habe, trotz der in Israel damals ausreichend vorhandenen Informationsmöglichkeiten sich rechtzeitig über den Fristablauf zu informieren. Die Beklagte habe aber die Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu behandeln, als habe sie den Antrag rechtzeitig gestellt, weil sie - die Beklagte - anläßlich der Entscheidung über den Rentenantrag der Klägerin vom 2. Juli 1974 einen konkreten Hinweis auf die Möglichkeit der Nachentrichtung unterlassen habe. In diesem Zusammenhang sei unerheblich, daß sich der Bevollmächtigte oder die Klägerin früher Kenntnis von der Antragsfrist hätten verschaffen können. Eigenes fahrlässiges Verschulden schließe den Herstellungsanspruch nicht aus.

Mit der - vom Senat durch Beschluß vom 16. Oktober 1986 zugelassenen - Revision vertritt die Beklagte die Auffassung, daß neben dem Grundsatz der Nachsichtgewährung bei der Versäumung einer materiell-rechtlichen Ausschlußfrist für einen Herstellungsanspruch kein Raum bestehe. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) lasse daher überwiegend in den Fällen, in denen der Versicherungsträger selbst die Fristversäumnis verschuldet habe, nicht den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu, sondern stütze die Entscheidung allein auf den Grundsatz von Treu und Glauben in Form der Nachsichtgewährung. Nach den Grundsätzen der Nachsichtgewährung könne aber dem Begehren der Klägerin auf Zulassung zur Nachentrichtung nach § 10 WGSVG nicht entsprochen werden, weil sie an den Folgen des pflichtwidrigen Verhaltens der Beklagten - Nichtinformierung über den Fristablauf (31. Dezember 1975) - überwiegend mitverantwortlich sei. Die Auffassung des LSG, für die Beklagte habe anläßlich des Rentenantrages vom 2. Juli 1974 ein konkreter Anlaß bestanden, die Klägerin auf die Möglichkeit einer Nachentrichtung hinzuweisen, werde vom Sachverhalt nicht getragen. Der damalige Bevollmächtigte der Klägerin, der im Jahre 1973 selbst eine Nachentrichtung nach § 10 WGSVG durchgeführt habe, sei über die Nachentrichtungsbestimmungen informiert gewesen. Sei die (rechtzeitige) Antragstellung trotzdem unterlassen worden, dann dürfe dieses Fehlverhalten nicht der Versichertengemeinschaft angelastet werden. Im Vergleich zu dem schuldhaften Verhalten des Bevollmächtigten erscheine das pflichtwidrige Handeln der Beklagten nur unwesentlich kausal für die Fristversäumung geworden zu sein.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des LSG, die Nachentrichtung im Wege des Herstellungsanspruchs zuzulassen, für zutreffend. Daß neben den Grundsätzen der Nachsichtgewährung der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nicht in Betracht kommen könne, lasse sich dogmatisch nicht begründen. Die Sachverhalte, die dem Herstellungsanspruch und der Nachsichtgewährung zugrunde lägen, seien nicht identisch.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Das LSG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG bejaht und sich hierbei zutreffend auf das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gestützt. Das zurückverweisende Urteil des Senats, das sich der damaligen Prozeßsituation entsprechend noch nicht mit der Möglichkeit eines Herstellungsanspruchs befaßt hatte, steht dem nicht entgegen.

Die erneute, nunmehr mit dem Herstellungsanspruch begründete Entscheidung des LSG ist frei von Rechtsfehlern. Der Einwand der Beklagten, ein Herstellungsanspruch könne neben einer Nachsichtgewährung bei der Versäumung einer materiell-rechtlichen Ausschlußfrist nicht Platz greifen, geht fehl. Die von ihr angeführte Rechtsprechung des BSG rechtfertigt einen solchen Schluß nicht. Soweit in den zitierten Urteilen im Zusammenhang mit der Versäumung von Ausschlußfristen ein Herstellungsanspruch nicht herangezogen wurde, der Fristversäumung die rechtsvernichtende Wirkung vielmehr unter Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben und der unzulässigen Rechtsausübung genommen wurde, kann hieraus nicht gefolgert werden, das Rechtsinstitut der Nachsichtgewährung gehe dem Herstellungsanspruch vor und verdränge ihn. In der neueren Rechtsprechung des BSG wird - was bereits in dem Urteil des Senats vom 12. Oktober 1979 (BSGE 49, 76, 81) zum Ausdruck gekommen ist - die Anwendbarkeit des Herstellungsanspruchs bei der Versäumung von Ausschlußfristen eindeutig bejaht (vgl ua Urteile des Senats vom 26. Oktober 1982 - SozR 1200 §14 Nr 13 -, vom 28. Februar 1984 - SozR 1200 § 14 Nr 16 -, vom 25.Oktober 1985 - SozR 5070 § 10 Nr 30).

Daß im Falle einer Fristversäumung sowohl die Nachsichtgewährung als auch der Herstellungsanspruch in Betracht kommen können, ist schon deshalb nicht ausgeschlossen, weil die beiden Rechtsinstitute nicht an die gleichen tatsächlichen Voraussetzungen anknüpfen. Während der Herstellungsanspruch ein für die Fristversäumung ursächliches Fehlverhalten der Verwaltung voraussetzt, braucht ein solches im Falle der Nachsichtgewährung nicht vorzuliegen. Das der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vergleichbare Rechtsinstitut der Nachsichtgewährung erfordert andererseits - neben einem eindeutigen Übergewicht des Interesses des Versicherten an der Erfüllung seines materiell-rechtlich begründeten Anspruchs gegenüber dem Interesse der Verwaltung an der Fristwahrung - das Nichtverschulden des Versicherten an der Fristversäumung.

Der Herstellungsanspruch dient dazu, die Folgen eines Fehlverhaltens der Verwaltung (Verwaltungsunrecht) zu beseitigen. Da ein solches Fehlverhalten für den Versicherten auch die Versäumung einer Ausschlußfrist zur Folge haben kann, besteht kein einsichtiger Grund, weshalb diese Unrechtsfolge nicht auch mit dem Herstellungsanspruch dergestalt soll beseitigt werden können, daß der Versicherte so gestellt wird, als habe er die Frist nicht versäumt.

Während nun ein eigenes Verschulden des Versicherten an der Fristversäumung der Nachsichtgewährung in jedem Fall entgegensteht (die Fristversäumung muß, wie bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, ohne Verschulden des Antragstellers eingetreten sein), kommt einem mitwirkenden Verschulden des Versicherten im Rahmen des Herstellungsanspruchs eine solche rechtshindernde Wirkung nicht ohne weiteres zu. Hier muß, weil ja ein für die Fristversäumung bedeutsames Fehlverhalten der Verwaltung vorliegt, die Frage der Kausalität unter Abwägung der etwa von beiden Seiten gesetzten Mitursachen geprüft werden. Dabei kommt es darauf an, welcher der Mitursachen die entscheidende Bedeutung für das Zustandekommen der Fristversäumung beizumessen ist. Ob dabei für den Herstellungsanspruch das Prinzip der adäquaten Verursachung wie beim zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch oder die im Sozialrecht herrschende Kausalitätstheorie der wesentlichen Ursache in Betracht kommt, hat der Senat in seinem Urteil vom 29. Januar 1981 (SozR 1200 § 14 Nr 11) noch offengelassen, weil sich dort das Fehlverhalten der Behörden in keinem Fall ausgewirkt hatte. Inzwischen hat der Senat (Urteil vom 16. Februar 1983 - 12 RK 29/82) wie auch der 11a Senat des BSG (SozR 5070 § 20 Nr 9) bei der Abgrenzung von vertreibungsbedingten und nicht vertreibungsbedingten Gründen für das Verlassen des Vertreibungsgebietes durch Spätaussiedler (§ 20 WGSVG) das auch sonst im Sozialrecht herrschende Prinzip der wesentlichen Bedingung für anwendbar erachtet. Er sieht deshalb keinen Grund, im Rahmen des Herstellungsanspruchs auf das dem Sozialrecht fremde Prinzip der adäquaten Verursachung abzustellen.

Nach den Feststellungen des LSG hat die Beklagte ihre Pflicht zur individuellen Beratung der Klägerin in zweifacher Hinsicht verletzt. Zum einen hätte sie im Zusammenhang mit dem 1974 anhängig gewordenen Rentenverfahren auf die Möglichkeit der - damals noch unbefristeten - Nachentrichtung nach § 10 WGSVG hinweisen müssen. Ob dieses Fehlverhalten durch das von der Beklagten ins Feld geführte Unterlassen der Klägerin, die nach Auffassung der Beklagten ausreichenden und allgemein zugänglichen Informationen zu nutzen, aufgewogen bzw verdrängt wurde, kann dahinstehen. Die Beklagte hat nämlich durch ein weiteres Fehlverhalten eine erneute Ursache für die verspätete Antragstellung gesetzt, der eine der Klägerin anlastbare überwiegende Mitverursachung nicht entgegensteht. Spätestens bei Abschluß des Rentenverfahrens Anfang November 1975 hätte die Beklagte die Klägerin bzw deren Bevollmächtigten auf den drohenden Ablauf der erst durch das 18. RAG vom 28. April 1975 eingeführten Antragsfrist aufmerksam machen müssen. Wie das LSG bindend festgestellt hat, erfuhr der Bevollmächtigte der Klägerin von dem Fristablauf erstmals am 23. Dezember 1975. Bei einer Information noch im November wäre - davon durfte das LSG ausgehen - die Nachentrichtung noch so rechtzeitig beantragt worden, daß der Zugang bei der Beklagten durch die mit dem bevorstehenden Jahreswechsel zusammenhängenden postalischen Schwierigkeiten erst gar nicht hätte verzögert werden können. Daß der Bevollmächtigte den Antrag zur Fristwahrung auch bei den zur Entgegennahme von Nachentrichtungsanträgen zuständigen Stellen in Israel hätte abgeben können, ist demgegenüber nur von untergeordneter Bedeutung. Einer solchen Maßnahme hätte es nämlich gar nicht bedurft, wenn es dem Bevollmächtigten durch eine rechtzeitige Information der Beklagten ermöglicht worden wäre, den Antrag bereits im November 1975 abzusenden. Dem Mitwirken des Bevollmächtigten kommt deshalb weder das Gewicht einer überwiegenden Ursache zu noch nimmt es im Sinne einer überholenden Kausalität dem Fehlverhalten der Beklagten die Ursächlichkeit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663775

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