Leitsatz (amtlich)
Bei Versäumung einer Ausschlußfrist (hier: für einen Antrag auf Beitragsnachentrichtung nach WGSVG § 10) kann nicht schon deswegen Nachsicht gewährt werden, weil dem Versicherungsträger auch bei fristgerechtem Eingang des Antrages eine frühere Bearbeitung nicht möglich gewesen wäre.
Normenkette
WGSVG § 10 Abs 1 S 4 Fassung: 1975-04-28; SGB 10 § 27 Abs 2 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin aufgrund ihres nach dem 31. Dezember 1975 bei der Beklagten eingegangenen Antrages berechtigt ist, Beiträge nach § 10 Abs 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) nachzuentrichten.
Die am 20. Februar 1915 geborene und im September 1935 aus dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches nach dem damaligen Palästina ausgewanderte Klägerin ist israelische Staatsangehörige und wohnt in Israel. Sie bezieht von der Beklagten Altersruhegeld. Mit einem am 24. Dezember 1975 in Haifa abgestempelten und als Luftpostbrief beförderten Schreiben beantragte ihr Bevollmächtigter für sie die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG. Dieses Schreiben trägt auf der Innenseite des Umschlages den Eingangsstempel der Beklagten vom 5. Januar 1976. Die Beklagte lehnte den Antrag wegen Fristversäumung ab (Bescheid vom 20. August 1976). Der Widerspruch der Klägerin und die Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 18. April 1978; Urteil des Sozialgerichts -SG- Düsseldorf vom 12. September 1980).
Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen die Beklagte verurteilt, die Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG zuzulassen (Urteil vom 13. Januar 1982). Das LSG hat festgestellt, daß der Luftpostbrief mit dem Antrag der Klägerin der Beklagten am 3. Januar 1976 ausgehändigt und deshalb die gesetzliche Frist für die Antragstellung (Ablauf des 31. Dezember 1975) versäumt worden sei. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeter Fristversäumung sei nicht möglich, weil die Ausschlußfrist "von Rechtswegen und unbedingt" wirke. Die Berufung der Beklagten auf die Fristversäumung sei jedoch rechtsmißbräuchlich. In der Zeit vom 25. Dezember 1975 bis einschließlich 4. Januar 1976 hätten Anträge auf Nachentrichtung von Beiträgen bei der Beklagten weder registriert noch sonst bearbeitet werden können, weil an diesen Tagen bei ihr dienstfrei gewesen sei. Die Funktion der Ausschlußfrist habe deswegen erst am 5. Januar 1976 Sinn und Bedeutung gewinnen können, denn erst zu diesem Zeitpunkt habe der Versicherungsträger Klarheit über den Umfang der nach § 10 WGSVG vorliegenden Anträge erlangen können. Es verstoße aber gegen Treu und Glauben, sich auf eine Ausschlußfrist zu berufen, wenn auch bei fristgerechtem Eingang des Antrages eine frühere Bearbeitung nicht möglich gewesen wäre und daher die Verspätung nach dem Sinn der Fristbestimmung unbeachtlich sei.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision trägt die Beklagte vor, das LSG habe das Rechtsinstitut des Rechtsmißbrauchs auf den vorliegenden Fall zu Unrecht angewandt. Auch wenn am 3. Januar 1976 bei ihr gearbeitet worden wäre, hätte sie weder von dem Antrag der Klägerin noch von Zehntausenden von anderen Nachentrichtungsanträgen Kenntnis erlangen können. Die gegen Ende des Jahre 1975 "containerweise" eingegangenen Anträge seien erst im Laufe der ersten Hälfte des Jahres 1976 registriert und dann der Sachbearbeitung zugeleitet worden. Dem Versicherungsträger einen Überblick über die Zahl der gestellten Anträge zu ermöglichen, sei im übrigen nur mittelbar Sinn und Zweck einer Ausschlußfrist. Materielle Ausschlußfristen sollten vielmehr einen klaren Endzeitpunkt für die Ausübung eines Gestaltungsrechts schaffen, unabhängig davon, wann der Antrag bearbeitet werde bzw bearbeitet werden könne. Eine solche klare zeitliche Grenze fordere auch der Grundsatz der Gleichbehandlung der Antragsteller; deren Anträge dürften nicht je nach dem, ob bei einem Versicherungsträger an einem bestimmten Tage gearbeitet worden sei oder nicht, als verspätet oder als rechtzeitig angesehen werden. Daß es auf die konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme eines Nachentrichtungsantrages durch den zuständigen Versicherungsträger nicht ankommen könne, ergebe sich auch daraus, daß der Antrag auch bei unzuständigen deutschen Behörden, deutschen Auslandsvertretungen und hier sogar bei israelischen Stellen wirksam habe gestellt werden können.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG und seine Begründung für zutreffend. Im übrigen habe sie aus einem Merkblatt der Beklagten den Schluß ziehen können, daß der Antrag lediglich bis zum 31. Dezember 1975 zur Post gegeben sein müßte.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Das LSG hat unangefochten und daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) festgestellt, daß der Antrag der Klägerin auf Nachentrichtung von Beiträgen gem § 10 WGSVG bei der Beklagten am 3. Januar 1976, also nach Ablauf der Ausschlußfrist des § 10 Abs 1 Satz 4 WGSVG (31. Dezember 1975), eingegangen ist. Das LSG hat auch zutreffend entschieden, daß der Klägerin - ungeachtet eines etwaigen Nichtverschuldens an der Fristversäumung - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden kann. Wie der erkennende Senat schon wiederholt ausgesprochen hat, kommt bei der Versäumung einer Ausschlußfrist des materiellen Rechts eine Wiedereinsetzung nicht in Frage, weil das Recht, das bis zum Inkrafttreten des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) am 1. Januar 1981 galt und hier noch anzuwenden ist, diese Möglichkeit nicht vorsah und die Voraussetzungen einer entsprechenden Anwendung des § 27 SGB 10 nicht gegeben sind (vgl BSGE 48, 12, 16; BSG SozR 5070 § 10 Nr 19 S 42).
Nicht gefolgt ist der Senat dagegen der Ansicht des LSG, daß sich ein Versicherungsträger auf die Überschreitung einer Antragsfrist nicht berufen könne, wenn eine frühere Bearbeitung des Antrages auch bei fristgemäßem Eingang nicht möglich gewesen wäre. Diese Ansicht läßt unberücksichtigt, daß gesetzliche Antragsfristen nicht nur den Zweck haben, der Verwaltung eine alsbaldige Bearbeitung der (fristgebundenen) Anträge zu ermöglichen, sondern auch und vor allem der Rechtsklarheit dienen. Wenn sich der Gesetzgeber entschließt, Anträge von Berechtigten nur bis zu einem bestimmten Stichtag zuzulassen (wofür mannigfaltige Gründe maßgebend sein können), dann folgt daraus, daß alle später eingehenden Anträge grundsätzlich ohne sachliche Prüfung als unzulässig abzulehnen sind. Diese "Zulassungsprüfung" muß sich besonders in einer Massenverwaltung wie bei den Trägern der Sozialversicherung an klaren Regeln orientieren, die auch für einen juristisch nicht besonders geschulten Sachbearbeiter unschwer anwendbar sind; dies trifft bei einer Prüfung des rechtzeitigen Eingangs eines Antrages anhand des ihm beigefügten Eingangsstempels zu. Für eine solche Prüfung hat aber der Zeitpunkt, an dem sie vorgenommen wird, keine Bedeutung. Allein die Tatsache, daß die Beklagte ihren Dienstbetrieb in dem für die Bearbeitung von Nachentrichtungsanträgen zuständigen Bereich erst am 5. Januar 1976, also nach dem verspäteten Eingang des Antrages der Klägerin, aufgenommen hat, läßt deshalb die Berufung der Beklagten auf die Versäumung der Ausschlußfrist nicht als rechtsmißbräuchlich erscheinen. Etwas anderes ist auch einem Urteil des Senats vom 8. März 1979 (SozR 2200 § 1227 Nr 25) nicht zu entnehmen; die damaligen, die Entscheidung im übrigen noch offen lassenden ("allenfalls") Erwägungen des Senats (aa0 S 61 Mitte) bezogen sich auf den - hier nicht gegebenen - Fall, daß ein Schriftstück am ersten Werktage nach einer mit Jahresende abgelaufenen Frist, aber noch vor Wiederbeginn des Dienstes im neuen Jahr bei der Verwaltung eingegangen ist. Aus diesem Urteil können mithin für den vorliegenden Rechtsstreit unmittelbar keine Schlüsse gezogen werden.
Andererseits hat auch der Senat schon für eine Zeit, in der die am 1. Januar 1981 in Kraft getretene Vorschrift des § 27 SGB 10 noch nicht galt (die nunmehr auch im Verwaltungsverfahren eine Wiedereinsetzung bei Versäumung gesetzlicher Fristen vorsieht), dh auch schon für die Zeit vor dem 1. Januar 1981, unter gewissen Voraussetzungen eine Nachsichtgewährung bei Überschreitung von gesetzlichen Antragsfristen für zulässig und geboten gehalten (vgl BSGE 48, 12, 17 mwN). Die Berechtigung und Verpflichtung dazu hat der Senat dabei aus dem - das gesamte Rechtsleben beherrschenden - Grundsatz von Treu und Glauben abgeleitet, der in bestimmten Fällen eine Berufung der Verwaltung auf eine Fristversäumung als treuwidrig und damit als rechtsmißbräuchlich erscheinen läßt. Anlaß zu einer Prüfung in dieser Richtung besteht nach Auffassung des Senats vor allem im Wiedergutmachungsrecht, da hier die Rechtsgemeinschaft ein besonderes öffentliches Interesse daran hat, daß alle Wiedergutmachungsberechtigten, die die materiellen Voraussetzungen der ihnen vom Gesetzgeber zugedachten Vergünstigungen erfüllen, diese Vergünstigungen auch tatsächlich erhalten. Soweit die Verwaltung sich hier auf die Versäumung einer Antragsfrist beruft, ist deshalb besonders sorgfältig zu prüfen, ob dies nach Treu und Glauben zulässig ist (vgl hierzu vor allem das Urteil des Senats vom 28. Oktober 1981, SozR 5070 § 10 Nr 19). Bedenken bestehen insofern - wie dies ähnlich auch im Zivilrecht angenommen wird (vgl Palandt BGB 41. Aufl, Anm 4 unter Cd zu § 242) - namentlich dann, wenn an einen geringfügigen Verstoß weittragende und offensichtlich unangemessene (unverhältnismäßige) Rechtsfolgen geknüpft werden oder der Rechtsausübung kein schutzwürdiges Eigeninteresse zugrunde liegt. Von Bedeutung ist insoweit - neben der Frage des Verschuldens der Beteiligten an der eingetretenen Fristversäumung - vor allem, wie erheblich das Interesse des einzelnen an der Zulassung seines Antrags ist; dieses Interesse ist dann gegen das Verwaltungsinteresse an einer klaren und einfach zu handhabenden Fristenregelung abzuwägen. Dabei hat der Senat auch den Umfang einer Fristüberschreitung berücksichtigt, indem er bei Anträgen, die mehr als ein Jahr verspätet waren, eine Nachsichtgewährung schon aus diesem Grunde für unzulässig gehalten hat, sofern die Fristüberschreitung nicht ausnahmsweise auf höherer Gewalt beruht (vgl SozR 5070 § 10 Nr 19 und Urteil vom 9. Dezember 1981 - 12 RK 38/80 -). Andererseits hat er bei einer nur geringfügigen Verspätung das Verwaltungsinteresse entsprechend geringer bewertet.
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin, eine in Israel lebende Verfolgte, die am 31. Dezember 1975 abgelaufene Antragsfrist für die Nachentrichtung von Beiträgen nur um wenige Tage überschritten. Sie hat auch ein erhebliches Interesse an der von ihr begehrten Nachentrichtung; denn sie könnte immerhin Beiträge für etwa 25 Jahre nachentrichten und damit ihre Rente wesentlich steigern. Demgegenüber sind auf seiten der Beklagten keine Gründe erkennbar, die schwerwiegend gegen eine sachliche Prüfung des verspäteten Antrags der Klägerin sprechen. Das gilt namentlich für die durch das WGSVG geschaffene Möglichkeit, durch eine - für den Versicherten in der Regel günstige - Nachentrichtung von Beiträgen auch eine schon laufende Rente aufzustocken. Soweit hier Disparitäten zwischen Beiträgen und Leistungen vorliegen, sind diese ersichtlich vom Gesetzgeber in Kauf genommen und als Ausdruck des Wiedergutmachungswillens zu verstehen.
Trotzdem könnte der Klägerin Nachsicht nur gewährt werden, wenn sie und auch ihren Bevollmächtigten, der den Antrag für sie gestellt hat, an dessen Verspätung keine Schuld trifft. Ob dies der Fall ist, kann nach den bisherigen Feststellungen nicht sicher beurteilt werden. Geklärt werden muß insoweit zunächst, warum der Bevollmächtigte der Klägerin mit der Absendung des Antrags bis zum 24. Dezember 1975 gewartet hat, obwohl er wegen des bevorstehenden Jahreswechsels mit Verzögerungen im Postlauf von Israel nach Deutschland rechnen mußte. Sollte diese Prüfung ergeben, daß weder der Klägerin noch ihrem Bevollmächtigten ein Vorwurf aus der relativ späten Absendung des Antrags zu machen ist, so wäre weiter zu prüfen, warum der Antrag dann nicht an eine Stelle gesandt worden ist, die in Israel selbst ihren Sitz hatte und für die Entgegennahme von Nachentrichtungsanträgen ebenfalls zuständig war (so außer der dortigen deutschen Auslandsvertretung, vgl jetzt § 16 SGB 1, die nach Art 27 des deutsch-israelischen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 17. Dezember 1973 zuständige israelische Stelle). Wenn der Bevollmächtigte der Klägerin von einer solchen Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, sondern stattdessen den weitaus längeren und damit risikoreicheren Übersendungsweg nach Deutschland gewählt hat, so wäre dieses Verhalten angesichts der Kürze der damals bis zum Fristablauf noch verfügbaren Zeit nur dann frei von Verschulden, wenn er den anderen Weg weder gekannt hat noch ihn hätte kennen müssen. Ob letzteres der Fall war, wird wesentlich von den Informationen abhängen, die ihm damals zugänglich waren, insbesondere von den Aufklärungsmaßnahmen, die die deutschen Rentenversicherungsträger seinerzeit für die in Israel wohnhaften Berechtigten getroffen hatten. Erst wenn alle insoweit erheblichen Tatsachen ermittelt sind, kann über die Frage der Nachsichtgewährung für die Klägerin abschließend entschieden werden. Um diese Ermittlungen nachzuholen, war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen