Entscheidungsstichwort (Thema)
Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung
Beteiligte
1…,2…, Kläger und Revisionskläger |
Fleischerei-Berufsgenossenschaft, Mainz, Lortzingstraße 2, Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
G r ü n d e :
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob den Klägern Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen eines am 6. Dezember 1988 erlittenen Verkehrsunfalls zustehen.
Der Kläger zu 2 betrieb in Q ein Unternehmen zur Herstellung von Fleisch-und Wurstwaren. In seiner Eigenschaft als Unternehmer war er bei der Beklagten versichert. Seine Ehefrau, die Klägerin zu 1, war in dem Unternehmen als Prokuristin versicherungspflichtig beschäftigt.
Am Morgen des 6. Dezember 1988 starteten die Kläger mit ihrem Pkw zu einer Reise nach Baden-Württemberg. Auf der Autobahn A 5 bei Bruchsal (kurz vor Karlsruhe) kam es gegen 9.30 Uhr zu einem Verkehrsunfall, bei dem beide Kläger schwer verletzt wurden. Nach den polizeilichen Unfallermittlungen wurde das Reisegepäck der Kläger über eine Länge von etwa 200 m auf der Autobahn verstreut. Dabei fanden sich neben anderen Gegenständen eine nicht mehr näher bestimmbare Menge von Wurstwaren aus dem Betrieb des Klägers und eine Spielzeugeisenbahn. Später meldete der Kläger den Verlust von vier Goldmünzen und mehreren Schmuckstücken.
In ihrer Unfallanzeige vom Januar 1989 beantragten die Kläger bei der Beklagten Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Fahrt, bei der der Unfall geschah, sei eine Geschäftsreise gewesen, die der Anknüpfung neuer Geschäftsbeziehungen im Raum Freiburg und Umgebung habe dienen sollen. Zu diesem Zweck hätten sie mehrere, näher benannte Firmen aufsuchen wollen, um dort die mitgenommenen Wurstwaren als Probeartikel zu präsentieren. Bei Gelegenheit dieser Geschäftsreise sei auch ein Besuch bei ihrer Tochter geplant gewesen, die eine Fremdenpension in der Nähe von Freiburg betreibe. Dabei sollte die mitgenommene Spielzeugeisenbahn ihrem dreijährigen Enkel geschenkt werden. Bei der Tochter sei auch eine Übernachtung geplant gewesen. Sie hätten die Fahrt auch unabhängig von diesem Besuch bei der Tochter durchgeführt. Die Goldmünzen seien dazu bestimmt gewesen, die Bonität der Firma bei neuen Geschäftspartnern zu demonstrieren.
Die Tochter der Kläger teilte auf Anfrage der Beklagten mit, sie habe von dem geplanten Besuch ihrer Eltern nichts gewußt. Die von den Klägern benannten Unternehmen, die als neue Kunden hätten geworben werden sollen, teilten der Beklagten übereinstimmend mit, der Kläger habe bei ihnen keinen Besuch angekündigt, er sei ihnen noch nicht einmal bekannt. Hierzu führte der Kläger aus, er habe die Firmen unangemeldet aufsuchen wollen, um nicht bereits am Telefon abgewiesen zu werden. Als gelernter Fleischer ohne kaufmännische Ausbildung neige er zu spontanem und unüblichem Geschäftsgebaren.
Mit Bescheiden vom 9. August 1989 lehnte die Beklagte gegenüber den Klägern Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil davon ausgegangen werden müsse, daß die am 6. Dezember 1988 begonnene Reise überwiegend privaten Zwecken gedient habe.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. Oktober 1990). Es sei zwar nicht auszuschließen, daß die Reise der Kläger dem von ihnen angegebenen Zweck habe dienen sollen; jedoch könne nicht mehr als die Möglichkeit einer derartigen Zweckbestimmung festgestellt werden. Unter Berücksichtigung aller Umstände könne der Fahrt allenfalls die Bedeutung einer gemischten Tätigkeit, dh teils beruflich und teils privat bedingt, zukommen. Da der überwiegende berufliche Zweck der Fahrt nicht nachgewiesen sei, hätten die Kläger die Folgen der objektiven Beweislosigkeit zu tragen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 22. Januar 1993). Bei der Reise der Kläger habe es sich nicht um eine reine Geschäftsreise gehandelt. Dies sei zwischen den Beteiligten unstreitig. Nach den Angaben der Kläger sei bei dieser Reise auch ein Besuch der Tochter geplant gewesen. Daraus ergebe sich, daß sich die Reise insgesamt als gemischte Tätigkeit darstelle. In einem solchen Fall könne ein Unfall als Arbeitsunfall nur anerkannt werden, wenn sich feststellen lasse, "daß der betriebliche Zweck der Tätigkeit eindeutig im Vordergrund" stehe und "der private Teil nur eine untergeordnete Nebenbedeutung" habe. Aufgrund der gesamten Umstände biete sich keine hinreichende Grundlage für die Überzeugung, daß bei der Fahrt der Kläger der Besuch bei der Tochter nur ein ganz untergeordneter Nebenzweck gewesen sei. Aus den feststellbaren Umständen ergebe sich vielmehr die zumindest gleichgewichtige Möglichkeit, daß der fest eingeplante Besuch bei der Tochter ein Hauptzweck gewesen sei und die mitgenommenen Produktproben des Unternehmens daneben nur die Möglichkeit eröffnet hätten, wenn sich die Gelegenheit ergeben hätte, diesen oder jenen neuen Kunden anzusprechen. Ein überwiegend geschäftlicher Zweck der Reise der Kläger sei demnach nicht nachweisbar. Die Kläger müßten den Nachteil dieser objektiven Unaufklärbarkeit als Anspruchsteller tragen.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe den Begriff des Arbeitsunfalls in § 548 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verkannt. Zwar handele es sich bei der Reise um eine sog gemischte Tätigkeit, bei der sie neben dem betrieblichen Zweck der Reise auch private Interessen verfolgt hätten. Die Reise habe aber wesentlich betrieblichen Interessen gedient, die keineswegs nur einen unwesentlichen Nebenzweck darstellten. Sie hätten die Absicht gehabt, während der am 6. Dezember 1988 angetretenen Reise mehrere Firmen zu besuchen, um sich zu bemühen, diese als mögliche Kunden zu werben. Für diesen Zweck hätten sie Probeerzeugnisse der Firma mitgenommen. Auch nach den Ausführungen des LSG stehe fest, daß das betriebliche Interesse jedenfalls nicht nur ein unwesentlicher Nebenzweck der Reise gewesen sei. Selbst wenn man der Auffassung folgen sollte, daß das private Interesse der Reise dem geschäftlichen überwogen habe, wäre das geschäftliche Interesse zumindest wesentlich.
Die Kläger beantragen,
1. |
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. Januar 1993, das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 18. Oktober 1990 sowie die Bescheide der Beklagten vom 9. August 1989 aufzuheben, |
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2. |
die Beklagte zu verurteilen, unter Anerkennung des Ereignisses vom 6. Dezember 1988 als Arbeitsunfall die gesetzlichen Ent-schädigungsleistungen, insbesondere auch Verletztenrente zu gewähren. |
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Die Beklagte beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Sie meint, zum Unfallzeitpunkt sei eine auf betriebliche Belange gerichtete Handlungstendenz der Kläger nach den Feststellungen des LSG nicht vorhanden gewesen. Die Kläger hätten den Nachweis nicht erbracht, daß sie sich im Unfallzeitpunkt auf dem direkten Weg zu Geschäftspartnern befunden hätten.
II
Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuweisen ist. Das LSG hat die entscheidende Frage, ob die Werbung neuer Kunden in Süddeutschland ein wesentlicher Zweck der Reise der Kläger war, zwar angesprochen, im Endergebnis jedoch dahinstehen lassen. Es hat seine Entscheidung statt dessen auf die von der Rechtsprechung des Senats und der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum abweichende Rechtsauffassung gestützt, bei sog gemischten Tätigkeiten liege nur dann ein Arbeitsunfall vor, wenn der betriebliche Zweck der Tätigkeit eindeutig im Vordergrund stehe und das private Interesse eine nur untergeordnete Nebenbedeutung habe.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten und danach versicherten Tätigkeiten erleidet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet hat, einerseits der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat (BSGE 61, 127, 128). Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit bestehen, der sog innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSG SozR 2200 § 548 Nr 82; BSGE 63, 273, 274; BSG Urteil vom 27. März 1990 - 2 RU 45/89 - HV-Info 1990, 1181 = USK 90149; BSG Urteil vom 27. Januar 1994 - 2 RU 3/93 -). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSGE 58, 76, 77; 61, 127, 128). Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Nachweis zu erbringen; es muß bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen der versicherten Tätigkeit als erbracht angesehen werden können (BSGE 58, 80, 83 mwN); es muß also sicher feststehen, daß eine versicherte Tätigkeit ausgeübt wurde (BSGE 61, 127, 128 mwN). Innerhalb dieser Wertung stehen bei der Frage, ob der Versicherte zur Zeit des Unfalls eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat, Überlegungen nach dem Zweck des Handelns mit im Vordergrund.
Nach den insoweit nicht angegriffenen und damit bindenden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) Feststellungen des LSG hat die Reise der Kläger sowohl privaten als auch betrieblichen Zwecken gedient; strittig ist allein die Gewichtung der Interessen. In einem solchen Falle ist in erster Linie darauf abzustellen, ob sich der zurückgelegte Weg eindeutig in zwei Teile zerlegen läßt, von denen der eine betrieblichen Zwecken und der andere privaten Interessen gedient hat (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 480q mwN). Ist - wie hier nach den weiteren Feststellungen des LSG - eine Trennung nicht möglich, so besteht Versicherungsschutz, wenn die Verrichtung im Einzelfall betrieblichen Interessen wesentlich gedient hat; sie braucht ihnen aber nicht überwiegend gedient zu haben (BSGE 3, 240, 245; BSGE 20, 215, 216; BSG Urteil vom 31. Januar 1974 - 2 RU 99/72 - USK 7410; BSG Urteil vom 22. August 1974 - 8 RU 288/73 - USK 74118; BSG Urteil vom 27. November 1986 - 2 RU 4/86 - HV-Info 1987, 375; BSG SozR 2200 § 548 Nr 93; BSG Urteil vom 27. Januar 1994 - 2 RU 3/93 -; Brackmann aaO S 480q; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, § 548 Anm 3.1 zum Stichwort "gemischte Tätigkeit"; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 46). Diese Grundsätze gelten grundsätzlich auch für Betriebswege und Geschäftsreisen (BSG Urteil vom 22. August 1974 - 8 RU 288/73 - aaO mwN). Die Wesentlichkeit des betrieblichen Interesses beurteilt sich hierbei in erster Linie nach den aufgrund von objektiven Anhaltspunkten nachvollziehbaren subjektiven Vorstellungen des Versicherten (BSGE 20, 215, 218). Entscheidendes Abgrenzungskriterium für die Frage, ob eine gemischte Tätigkeit wesentlich betrieblichen Interessen gedient hat, ist, ob diese Tätigkeit hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn der private Zweck entfallen wäre (BSGE 20, 219; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens aaO, § 548 Anm 3.1 zum Stichwort "gemischte Tätigkeit").
Von diesen vom LSG nicht angewandten Grundsätzen ausgehend reichen die Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht aus, um den Versicherungsschutz der Kläger abschließend beurteilen zu können. Insoweit kann der Senat weder der Interpretation des Urteils durch die Kläger noch der Auffassung der Beklagten folgen. Das LSG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - die Wesentlichkeit des betrieblichen Interesses offengelassen. Es hat die Möglichkeit, daß es sich um eine Geschäftsreise handelte, die nebenbei einem Besuch der Tochter dienen sollte, und die Möglichkeit einer hauptsächlich privaten Reise, die ggf auch Gelegenheit zum Ansprechen von neuen Geschäftspartnern bot, als gleichgewichtig bezeichnet.
Das LSG hat es einerseits nach der Aussage des Zeugen als erwiesen angesehen, "daß die Reise jedenfalls auch geschäftlichen Zweck dienen sollte". Es sei möglich, daß die Reise "überwiegend als Geschäftsreise geplant war, bei der nur ein gelegentlicher Besuch bei der Tochter vorgesehen war". Andererseits sieht es "die Behauptung der Kläger, es habe ein konkreter Plan bestanden, an bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten bestimmte Firmen zu besuchen", als nicht nachgewiesen an. Es sei daher auch vorstellbar, daß die mitgenommenen Produktproben nur die Möglichkeit eröffnen sollten, "wenn sich die Gelegenheit ergeben hätte, diesen oder jenen neuen Kunden anzusprechen". Letztendlich stützt das LSG sein Urteil allein darauf, es sei nicht festgestellt, "daß bei der Fahrt der Kläger der Besuch bei der Tochter nur ein ganz untergeordneter Nebenzweck gewesen sei". Auf andere Umstände brauche demnach "nicht näher eingegangen zu werden".
Die entscheidungserhebliche Frage, ob der Besuch potentieller Neukunden für die Kläger so wichtig war, daß sie die Reise auch ohne den Besuch der Tochter durchgeführt hätten, und ob diese Werbebesuche nach der subjektiven Sicht der Kläger nicht nur unwesentlicher Nebenzweck der Reise waren, hat das LSG nach alledem nicht beantwortet. Möglicherweise läßt sich die Frage aufgrund des bisher vorgetragenen Sachverhalts beantworten. Der Senat kann aber die Angaben insbesondere in den Verwaltungsakten nicht in dem gebotenen Umfang verwerten, da er sonst der Beweiswürdigung des Tatrichters vorgreifen würde.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen
BB 1994, 1867 |
Breith. 1995, 109 |