Leitsatz (amtlich)

1. Der Begriff der Berufsunfähigkeit iS des RVO § 1246 Abs 2 deckt sich nicht mit dem vor der Rentenreform in der Angestelltenversicherung geltenden Begriff der Berufsunfähigkeit iS des AVG § 27 aF.

2. Ein Versicherter, bei dem von der Berufstätigkeit eines Metalldrückers auszugehen ist, kann auf ungelernte Arbeiten selbst dann nicht verwiesen werden, wenn er sich die für seinen Beruf erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten durch Anlernung erworben hat, weil der Beruf des Metalldrückers damals in der Industrie noch kein Lehrberuf war.

 

Normenkette

AVG § 27 Fassung: 1934-05-17; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 27. Januar 1959 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der 1910 geborene Kläger war nach kürzerer sonstiger Tätigkeit von 1928 bis 1939 als Metalldrücker invalidenpflichtversichert beschäftigt. Im Kriege erlitt er als Soldat erhebliche Verletzungen (Verlust des rechten Unterschenkels, fast völlige Versteifung des rechten Handgelenks, Beweglichkeitsbeschränkung der Finger der rechten Hand und Beweglichkeitsbeschränkung des linken Unterarms und linken Handgelenks), für die er jetzt noch eine Versorgungsrente von 80 v.H. bezieht. Für diese Schäden erhielt der Kläger seit 1946 auch die Invalidenrente. Von 1948 bis April 1958 war er als Montierer tätig.

Durch Bescheid vom 18. November 1955 entzog die Beklagte dem Kläger die Invalidenrente mit dem 1. Dezember 1955. Der Vertrauensarzt der Beklagten Dr. S... hielt den Kläger, bei dem er zusätzlich zu den Kriegsfolgen noch eine ausgeprägte vegetative Dystonie feststellte, zwar weiterhin für invalide und auch die 1954 erstatteten versorgungsärztlichen Gutachten schätzten die Erwerbsminderung des Klägers weiter auf 80 v. H.; die Beklagte nahm jedoch auf Grund der von ihr eingeholten Auskunft über die Arbeitsleistung des Klägers, die bei einer zehnstündigen täglichen Arbeitszeit einer. Stundenlohn von 1,73 DM ergab, eine soweit gehende Anpassung und Gewöhnung an, daß der Kläger wieder in der Lage sei, die für ihn in Frage kommende gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen.

Das Sozialgericht (SG) Dortmund verurteilte demgegenüber die Beklagte ab 26. Juni 1956 zur Weiterzahlung der Invalidenrente. Es schloß aus den von ihm ausgewerteten zahlreichen Gutachten, daß der Kläger allein auf Kosten seiner Gesundheit arbeite.

Mit ihrer Berufung hatte die Beklagte teilweise Erfolg. Für die Zeit vom November 1955 bis zum 31. Dezember 1956 nahm das Landessozialgericht (LSG) keine Invalidität mehr an. Der Kläger habe sich an den - an sich nicht mehr veränderten - Zustand der Kriegsfolgen weitgehend gewöhnt und sei im Gebrauch seiner Gliedmaßen erheblich sicherer geworden. Dies beweise der Umstand, daß er fast zehn Jahre lang einer lohnbringenden Beschäftigung nachgegangen sei, daß er während dieser Zeit als Montierer sogar einen Beruf ausgeübt habe, der eine gewisse Geschicklichkeit der Arme und Beine erfordere, und daß seine Leistungen denen seiner gesunden Arbeitskollegen durchaus gleichwertig gewesen seien. Wenn auch der Metalldrücker, der als eigentlicher Beruf des Klägers anzusehen sei und den dieser nicht mehr ausüben könne, ein Facharbeiterberuf sei, während die Tätigkeit des Montierers eine schematische Arbeit wäre, so sei im vorliegenden Fall eine Verweisung auf den einfacheren Beruf doch nicht unbillig, da diese Arbeit nicht berufsfremd sei und der Kläger bei weitem nicht sein ganzes Leben als Facharbeiter zugebracht habe. Das LSG folgert schließlich aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme, daß der Kläger trotz seiner Schäden durchaus in der Lage gewesen sei, dauernd als Montierer tätig zu sein, ohne dadurch eine Überbeanspruchung zu erleiden. Entgegen der Angabe des Klägers könne dieser mit einer Montierertätigkeit auch mindestens die Höhe des Durchschnittslohnes eines Metalldrückers verdienen.

Für die Zeit vom 1. Januar 1957 an hat das LSG die Beklagte dagegen zur Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit verurteilt. Es führt aus, durch das Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) sei in der Rentenversicherung der Arbeiter derselbe Begriff der Berufsunfähigkeit eingeführt worden wie er in der Angestelltenversicherung schon immer maßgebend gewesen sei. Die bisher für die Angestelltenversicherung geltenden Grundsätze seien jetzt auch für die Arbeiterrentenversicherung gültig. Da demnach jetzt zwingend die Ausbildung, der bisherige Beruf und darüber hinaus auch die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit zu berücksichtigen seien, sei jede Verweisung, die zu einem sozialen Abstieg des Versicherten führe, unzumutbar. Der Kreis der Tätigkeiten, auf die ein Versicherter verwiesen werden kann, sei um so kleiner, je qualifizierter seine bisherige Berufstätigkeit gewesen wäre. Der Wechsel von dem Beruf des Metalldrückers zu dem des Montierers sei als ein deutlicher sozialer Abstieg anzusehen. Der Beruf des Metalldrückers sei ein qualifizierter Beruf in Industrie und Handwerk. Er erfordere erhebliche Kenntnisse und Fähigkeiten. Das komme auch darin zum Ausdruck, daß dieser Beruf ein anerkannter Lehrberuf geworden sei. Der Metalldrücker müsse die Eigenschaften der verschiedenen Metalle kennen, die er zu bearbeiten hat. Da jedes Metall sich beim Formen und Biegen anders verhalte, könne sie fehlerfrei nur drücken, wer ihre unterschiedlichen Eigenschaften - Festigkeit, Elastizität u. dergl., - kenne. Außer diesen Kenntnissen müsse der Metalldrücker nach den eingeholten Auskünften der Arbeitsämter erhebliche handwerkliche Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen, so müsse er z.B. imstande sein, Bleche aufzuzirkeln , Bleche aus- und rundzuschneiden , Bleche zu beizen und zu glühen, einfache Druck-, Abdreh- und Stichstähle herzustellen, Metallarbeiten an der Drehbank zu verrichten und Bleche zu schweißen. Der Kläger habe eine Anlernzeit durchgemacht und eine ordnungsgemäße Ausbildung erhalten, die ihn befähige, als vollwertiger Metalldrücker zu arbeiten. Demgegenüber sei der Beruf des Montierers ein Beruf für ungelernte Arbeiter, der außer einer gewissen Fingerfertigkeit keine weiteren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordere. Der Beruf des Montierers stehe somit auch in seiner sozialen Wertung erheblich unter dem des Metalldrückers, so daß der Kläger auf ihn nicht verwiesen werden könne.

Der Kläger könne jedoch auch auf keine andere Tätigkeit verwiesen werden. Die sonstigen erörterten Berufe schieden teils deswegen aus, weil der Kläger diese wegen seiner Körperschäden nicht ausüben könne, teils deswegen, weil es sich dabei um eine rein schematische Tätigkeit für ungelernte Arbeiter handele, die dem Kläger nicht zumutbar sei. Bei dem körperlichen Zustand des Klägers kämen für ihn nur qualifizierte Arbeiten in Betracht, die im Sitzen zu verrichten sind und bei denen die Arme nicht besonders beansprucht werden; derartige Tätigkeiten gebe es wohl unter den Angestelltenberufen; für diese fehlten dem Kläger jedoch die entsprechenden Kenntnisse.

Kur die Beklagte hat gegen das ihr am 4. März 1959 zugestellte Urteil am 1. April 1959 unter Antragstellung die zugelassene Revision eingelegt und diese am 2. Mai 1959 begründet.

Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Kläger habe seinerzeit keine dreijährige Lehrzeit als Metalldrücker durchgemacht, sondern sich nach Angabe des Arbeitgebers im Laufe von rd. fünf Jahren "durch langsames Eingewöhnen mit dem Beruf des Drückers vertraut" gemacht. Er sei daher, selbst wenn er damals den gleichen Lohn erzielt habe, den gelernten Metalldrückern nicht gleichzustellen, weil er anders als ein gelernter Arbeiter, der auf Grund der durch seine Lehre erworbenen praktischen und theoretischen Kenntnisse seinen Beruf in jedem Betrieb ausüben könne, mit seiner auf den eigenen Betrieb abgestellten Ausbildung auch nur dessen Verhältnissen sicher gewachsen sei. Seine Ausbildung müsse daher nicht als Lehrzeit, sondern als Anlernzeit angesehen werden und stehe insoweit der Anlernzeit eines Montierers begrifflich gleich.

Die Beklagte beantragt, die Klage unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG abzuweisen.

Der Kläger beantragt demgegenüber Zurückweisung der Revision.

Zu der Zeit, da der Kläger sich seine Kenntnisse und Fähigkeiten als Metalldrücker erworben habe, sei dieser Beruf noch kein anerkannter Lehrberuf gewesen; der Kläger habe daher seinen jetzt als Facharbeiter angesehenen Beruf auch nur auf diese Weise erlernen können.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist frist- und formgerecht unter Antragstellung begründet worden; sie ist vom LSG zugelassen und daher statthaft.

Die Revision ist nicht begründet.

Da nur die Beklagte die Revision eingelegt hat, ist streitig nur noch die Frage, ob der Kläger vom 1. Januar 1957 an einen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit hat, während die durch den zugrundeliegenden Bescheid ursprünglich allein erfolgte Entziehung der Invalidenrente rechtskräftig bis zum 31. Dezember 1956 bestätigt worden ist.

Hierbei wiederum ist allein darüber zu entscheiden, ob der Kläger, der unstreitig als Metalldrücker nicht mehr arbeiten kann, auf die von ihm ein Jahrzehnt hindurch verrichtete Tätigkeit als Montierer verwiesen werden darf. Einer Überprüfung der Auffassung des LSG, eine Verweisung auf andere Tätigkeiten sei nicht möglich, bedarf es im vorliegenden Fall nicht, weil die vom LSG insoweit getroffenen Feststellungen nicht mit zulässigen Revisionsrügen angegriffen und deshalb vom Bundessozialgericht (BSG) zu grunde zu legen sind.

Allerdings ist die vom LSG zugrunde gelegte Rechtsauffassung, seit der Neuregelung der Rentenversicherungen sei auch in die Rentenversicherung der Arbeiter der bisherige Begriff der Berufsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung unverändert übernommen, unrichtig. Wie die in beiden Versicherungszweigen und darüber hinaus in der knappschaftlichen Rentenversicherung wörtlich übereinstimmende Fassung der Vorschrift über die Berufsunfähigkeit ergibt, gilt seit der Rentenreform in allen Rentenversicherungen ein einheitlich definierter Begriff der Berufsunfähigkeit. Dieser Begriff stellt inhaltlich eine Zusammenfassung der Elemente der bisherigen Berufsunfähigkeit in der Angestelltenversicherung (§ 27 AVG aF, jetzt § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO) und der Invalidität in der Invalidenversicherung (§ 1254 RVO aF, jetzt Satz 2 aaO) dar dergestalt, daß im Ergebnis in der Arbeiter- und knappschaftlichen Rentenversicherung die bisher praktisch - außer bei besonderen Spitzenkräften - zulässige Verweisung jedes Versicherten auf irgendeine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Richtung einer erheblich stärkeren Berücksichtigung der individuellen sozialen Zumutbarkeit eingeschränkt worden ist, ohne daß dabei der sehr weitgehende Ausschluß jeder Verweisbarkeit auf berufsfremde Tätigkeiten aus der früheren Regelung der AV übernommen ist - vgl. die ausführliche Darlegung im Urteil des 5. Senats - BSG 9, 254 [256 - 2587], der erkennende Senat sich anschließt.

Auch wenn man von diesem zutreffenden jetzigen Berufsunfähigkeitsbegriff in der Arbeiterrentenversicherung ausgeht, war die Revision jedoch zurückzuweisen, da die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils zwar die eben dargelegte Gesetzesverletzung ergeben, die Entscheidung sich jedoch aus anderen Gründen als richtig darstellt. Aus den vom LSG getroffenen, das Revisionsgericht bindenden Feststellungen ergibt sich deutlich der soziale Abstand der Tätigkeit eines Metalldrückers und eines Montierers, der eine Verweisbarkeit ausschließt. Bei der Arbeit eines Montierers handelt es sich um die Tätigkeit eines ungelernten Arbeiters, die nur eine kurze Einweisung erfordert, wobei entgegen der Ansicht der Beklagten ein regulärer Anlernberuf nicht vorliegt. Die Arbeit eines Metalldrückers ist eine hochqualifizierte Facharbeitertätigkeit, die bereits seit langer Zeit ein echter Lehrberuf ist. Der Kläger hat diesen Beruf nicht ordnungsmäßig gelernt, weil damals vor über 30 Jahren der Beruf in der Industrie noch kein Lehrberuf war; er hat ihn jahrelang ausgeübt, bis er durch den Krieg und seine Folgen daran gehindert worden ist.

Das Gericht konnte es dahingestellt sein lassen, ob in einem derartigen Falle ein Versicherter wie der Kläger, der sich durch Anlernung und innerbetriebliche Ausbildung die erforderlichen Kenntnisse angeeignet hat, ebenso zu behandeln ist wie ein Metalldrücker mit abgeschlossener Lehre.

Bei dem sehr erheblichen sozialen Abstand beider Tätigkeiten ist jedenfalls auch ein Metalldrücker, der seinen Beruf zu einer Zeit, zu der dieser in der Industrie noch nicht Lehrberuf war, auf dem damaligen Wege betrieblicher Anlernung erlernte und als vollwertige Kraft ausgeübt hat, als ein angelernter Arbeiter so hohen Grades anzusehen, daß ihm Arbeiten eines ungelernten, nur kurz in seine Obliegenheiten einzuweisenden Arbeiters sozial nicht zumutbar sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2308647

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