Leitsatz (amtlich)
Eine Zeit von 9 Monaten, in der ein aus Böhmen stammender voll ausgebildeter Jurist nach Beendigung einer Ersatzzeit in der Bundesrepublik in das deutsche Recht eingearbeitet worden ist, wahrt iS von AVG § 28 Abs 1 Nr 1 und 6 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 und 6) den "Anschluß" an eine darauf folgende Krankheit oder unverschuldete Arbeitslosigkeit.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, Nr. 6 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Januar 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob dem Kläger die Zeit von Oktober bis Dezember 1949 als Ersatzzeit angerechnet werden kann.
Der 1910 geborene, aus Böhmen stammende Kläger, Inhaber des Vertriebenenausweises A, war nach dem Studium der Rechtswissenschaften an der deutschen Universität P ab 1936 in seiner Heimat in verschiedenen juristischen Berufen tätig. Während seines ab 1940 geleisteten Kriegsdienstes wurde er zum Amtsgerichtsrat ernannt. Nach Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft lebte er seit August 1948 im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Bis Oktober 1948 war er arbeitsunfähig krank. Ab 25. Oktober 1948 leistete er in Bayern zur Einarbeitung in das deutsche Recht einen Vorbereitungsdienst von neun Monaten ab; im Oktober 1949 legte er vor dem Landesjustizprüfungsamt M eine Eignungsprüfung erfolgreich ab. Danach war er zunächst arbeitslos, arbeitete aber ab Januar 1950 - unterbrochen durch wiederholte Arbeitslosigkeit - bei verschiedenen Rechtsanwälten. Zur beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte entrichtete Beiträge ließ er sich zum Teil nach dem Gesetz zu Art 131 des Grundgesetzes (G 131) erstatten. Nach Schaffung des Art 2 § 49 a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 entrichtete er für die Zeit von Januar 1956 bis September 1961 nach Abs 2 aaO Beiträge nach.
Mit Bescheid vom 6. August 1974, abgeändert während des vom Kläger nachfolgend angestrengten Streitverfahrens durch den weiteren streitigen Bescheid vom 10. Oktober 1977, bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 1. April 1974 das vorzeitige Altersruhegeld wegen einjähriger Arbeitslosigkeit und legte dabei rentensteigernd ua die Schul- und Hochschulausbildung, den Wehrdienst und die Wehrübungen in der Heimat sowie den Kriegsdienst samt anschließender Kriegsgefangenschaft und Arbeitsunfähigkeit als Ersatz- bzw Ausfallzeiten zugrunde.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte in Abänderung der klageabweisenden Entscheidung des Sozialgerichts (SG) verurteilt, dem Kläger eine weitere Beschäftigungszeit in der Heimat und die Zeit von Oktober bis Dezember 1949 als weitere Ersatzzeit anzuerkennen; im übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. In der Begründung führt das LSG aus, die Arbeitslosigkeit vom 29. Oktober bis 31. Dezember 1949 stehe in einem ausreichenden zeitlichen Zusammenhang mit den Ersatzzeittatbeständen des Kriegsdienstes, der Gefangenschaft und der Vertreibung sowie der anschließenden Krankheit. Der - selbst nicht anrechenbare - Vorbereitungsdienst des Klägers zur Einarbeitung in das deutsche Recht habe den zeitlichen Zusammenhang der anschließenden Arbeitslosigkeit mit den Ersatzzeittatbeständen nicht unterbrochen. Es habe sich nicht um eine Erwerbstätigkeit, sondern allein um eine weitere Ausbildung gehandelt, die überhaupt erst die Voraussetzung für eine berufliche Wiedereingliederung des Klägers geschaffen habe.
Diesem Urteil tritt nur die Beklagte mit der zugelassenen Revision entgegen. Sie führt aus, der Anschluß einer Arbeitslosigkeit an die Primär-Ersatzzeit lasse sich nicht mit einer unbesehenen Übertragung der Grundsätze im Urteil des erkennenden Senats vom 4. Mai 1976 (SozR 2200 § 1251 Nr 21) auf den vorliegenden Fall lösen. Es komme in erster Linie auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles an. Bei dem vom erkennenden Senat entschiedenen Fall habe die "unschädliche Unterbrechung" nur viereinhalb Monate gedauert, während sie hier insgesamt ein Jahr gewährt habe. Bei einer solchen Dauer der Unterbrechung lasse sich nicht mehr von einem Anschluß sprechen. Auch lasse sich der Vorbereitungsdienst des Klägers nicht einem fehlgeschlagenen Arbeitsversuch gleichsetzen. Er durchbreche daher den zeitlichen Zusammenhang zu der vorhergegangenen Kriegsgefangenschaft, Vertreibung und anschließenden Krankheit.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit sie verurteilt worden ist, bei dem vorgezogenen Altersruhegeld die Zeit von Oktober bis Dezember 1949 als weitere Ersatzzeit anzurechnen,
ferner,
die Berufung auch insoweit zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für richtig.
Entscheidungsgründe
Die zugelassene Revision ist nicht begründet.
Nach § 28 Abs 1 Nr 1 und 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG = § 1251 Abs 1 Nr 1 und 6 der Reichsversicherungsordnung - RVO) werden ua bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (§ 35 AVG = § 1258 RVO) angerechnet Zeiten einer an eine Kriegsgefangenschaft bzw - bei Vertriebenen - an die Vertreibung "anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit". Was den Begriff des "Anschließens" betrifft, so hat die Rechtsprechung sowohl bei den Ausfallzeiten (hier in bezug auf die "Unterbrechung" einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit durch Ausfalltatbestände, die ein Anschließen an eine solche Beschäftigung oder Tätigkeit voraussetzt, vgl § 36 Abs 1 Nr 1 - 3 AVG = § 1259 Abs 1 Nr 1 - 3 RVO) wie bei den Ersatzzeiten eine gesetzesergänzende Rechtsauslegung entwickelt. Sie hat insbesondere "Überbrückungstatbestände" zwischen dem Tatbestand, an den der Anschluß gefordert wird, und dem zur Anrechnung begehrten weiteren Ausfall- oder Ersatzzeittatbestand ausdrücklich in dem Sinne zugelassen, daß sie den "Anschluß" im Rechtssinne wahren (vgl zur Rechtsentwicklung bei den Ausfallzeiten den Großen Senat des Bundessozialgerichts - BSG - in BSGE 37, 10, 17 = SozR Nr 62 zu § 1259 RVO mit zahlreichen Nachweisen; zur Ersatzzeit des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG vgl zB den erkennenden Senat in SozR 2200 § 1251 Nr 21, ebenfalls mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Schrifttum). In der höchstrichterlichen Rechtsprechung wird in diesem Zusammenhang insbesondere der Versuch des Versicherten, sich nach dem Tatbestand, zu dem der Anschluß hergestellt sein muß, wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern, als ungeeignet angesehen, eine Ersatz- oder Ausfallzeit unter Berufung auf einen nicht ausreichend engen zeitlichen Zusammenhang abzulehnen (vgl den erkennenden Senat aaO; BSG SozR 2200 § 1259 Nr 8). Was die Zeitdauer des für ein "Anschließen" unschädlichen Überbrückungstatbestandes der versuchten Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß betrifft, so hat insbesondere der erkennende Senat aaO hervorgehoben, daß sich eine feste zeitliche Grenze nicht auffinden lasse; vielmehr sei in solchen Fällen "auf die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen".
Der vom Kläger im Anschluß an die Kriegsgefangenschaft bzw Vertreibung samt anschließender Krankheit bis Oktober 1948 in der bayerischen Justiz zur Einarbeitung in das deutsche Recht abgeleistete Vorbereitungsdienst mit anschließender Eignungsprüfung fällt unter den Begriff der Bemühungen, in der neuen Heimat im Geltungsbereich anderen Rechts als Jurist beruflich Fuß zu fassen. Sie müssen daher, ohne daß dies näherer Ausführungen bedürfte, als typischer Versuch einer beruflichen Eingliederung im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung angesehen werden. Um eine juristische Berufsausbildung hat es sich nicht gehandelt; der Kläger ist bereits während seines Wehrdienstes nach Reichsrecht zum Amtsgerichtsrat ernannt worden.
Als - erfolgreicher - Versuch der beruflichen Wiedereingliederung stellt die hier streitige Zeit einen Überbrückungstatbestand dar, der zwar selbst rentenrechtlich nicht anrechenbar ist, aber den Anschluß an die streitige, nach Kriegsgefangenschaft/Vertreibung mit anschließender Krankheit liegende unverschuldete Arbeitslosigkeit wahrt. Da die Zeit der Einarbeitung nur neun Monate währte und sich nur um die Zeitspanne verlängerte, die bis zur Zulassung zur Eignungsprüfung verstrichen war, läßt sich auch in zeitlicher Hinsicht noch von einem Versuch der beruflichen Wiedereingliederung sprechen.
Das angefochtene Urteil trifft nach allem zu, so daß die Revision der Beklagten hiergegen als unbegründet zurückzuweisen war.
Im Kostenpunkt stützt sich die Entscheidung auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen