Leitsatz (redaktionell)
Bei der Prüfung, ob ein Versicherter seiner früheren Ehefrau zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen Unterhalt gewährt hat, ist vom letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten, soweit er nach der Scheidung liegt, auszugehen.
Normenkette
RVO § 1265 Fassung: 1965-06-09; EheG § 71; BGB § 161; EheG §§ 58, 60
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein - Westfalen vom 25. Oktober 1968 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin ist die frühere Ehefrau des am 16. Juli 1966 verstorbenen Versicherten. Der Rechtsstreit geht darum, ob sie bis zu ihrer Wiederverheiratung am 9. Juli 1968 Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.
Die Ehe zwischen der Klägerin und dem Versicherten, aus der zwei in den Jahren 1962 und 1963 geborene Kinder hervorgegangen sind, wurde am 14. April 1966 aus dem Verschulden beider Parteien geschieden. Zuvor hatte das Landgericht (LG) nach § 627 der Zivilprozeßordnung (ZPO) einstweilen angeordnet, daß der Versicherte an Unterhalt den Betrag von 250,- DM monatlich zu zahlen habe (90,- DM für die Klägerin und je 80,- DM für die Kinder). Da die Klägerin und die Kinder Sozialhilfe erhielten, leitete das Sozialamt der Stadt D den Unterhaltsanspruch gegenüber dem Versicherten nach den §§ 90, 91 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) auf sich über (Anzeige vom 15. Oktober 1965). Vor dem LG verzichteten die Klägerin und der Versicherte "wechselseitig für Vergangenheit und Zukunft auf Unterhalt und Unterhaltsbeitragsleistung sowie auf das Recht des Notbedarfs" (Vergleich vom 16. März 1966).
Den Rentenantrag der Klägerin lehnte die Beklagte ab, weil weder der Beweis einer tatsächlichen Unterhaltsleistung des Versicherten erbracht sei noch eine Unterhaltspflicht bestanden habe (Bescheid vom 17. Januar 1967).
Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 13. Februar 1968), das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 25. Oktober 1968). Die Klägerin, so hat es ausgeführt, habe keinen Rentenanspruch.
Keine der Alternativvoraussetzungen des § 1265 Satz 1 RVO sei erfüllt. Ein Unterhaltsanspruch der Klägerin nach § 58 des Ehegesetzes (EheG) scheide aus, weil der Versicherte nicht allein oder überwiegend für schuldig erklärt worden sei. Ob ein Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG Gegenstand der Unterhaltspflicht im Sinne des § 1265 RVO sein könne und von einer Anzeige nach den §§ 90, 91 BSHG erfaßt werde und ob eine Überleitungsanzeige hinsichtlich der durch einstweilige Anordnung nach § 627 ZPO konkretisierten Ansprüchen auch nach der Scheidung von Bedeutung sei, könne dahingestellt bleiben, weil die Klägerin gegen den Versicherten keinen Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag gehabt habe. Der Versicherte sei nach seinen Einkommensverhältnissen außerstande gewesen, ohne Beeinträchtigung seines eigenen angemessenen Unterhalts Leistungen an die Klägerin zu erbringen. - Offen könne ebenfalls bleiben, ob die Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO auch durch einen Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG erfüllt werden könnten. Mit der - vor der Ehescheidung ergangenen - Überleitungsanzeige seien keine Ansprüche zur Deckung des Lebensbedarf für die Zeit nach der Ehescheidung übergeleitet worden. Nach dem Wortlaut des § 90 BSHG gingen nur die im Zeitpunkt der Überleitungsanzeige bestehenden Ansprüche auf den Sozialhilfeträger über. Nacheheliche Unterhaltsansprüche des Hilfsbedürftigen - als künftige Ansprüche - würden mit der Folge, daß der Unterhaltsberechtigte nicht mehr verfügungsberechtigt sei (§ 161 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) und die Unterhaltsforderung nicht erlassen dürfe (§ 72 EheG), nur übergeleitet werden (Jehle, Sozialhilferecht, 1965, S. 445; BGHZ 20, 127 ff), wenn sich aus dem Wortlaut der Überleitungsanzeige ergebe, daß auch die in der Zeit nach der Ehescheidung etwa bestehenden Unterhaltsansprüche übergeleitet werden sollten. Dies sei hier nicht der Fall. Insbesondere sei es - worauf es auch nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) ankomme - für den Versicherten nicht erkennbar gewesen, daß die Überleitungsanzeige auch Ansprüche aus der Zeit nach der Scheidung habe erfassen sollen. Die Klägerin und der Versicherte seien deshalb nicht gehindert gewesen, einen gegenseitigen Unterhaltsverzicht zu erklären.
Mit ihrer Revision trägt die Beigeladene u. a. vor, das LSG habe es bei der Prüfung, ob der Versicherte der Klägerin gegenüber unterhaltspflichtig gewesen sei, unterlassen, den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten, der in diesem Zusammenhang von Bedeutung sei, festzustellen (Verstöße gegen die §§ 103, 106 des Sozialgerichtsgesetzes). Als dieser Dauerzustand könne nur die Zeitspanne der vollen Arbeitsleistung des Versicherten angenommen werden. Ohne seinen Tod, die damit zusammenhängende Krankheit und eine vorübergehende unfallbedingte Beeinträchtigung seiner Arbeitsfähigkeit hätte der Versicherte höchstwahrscheinlich ein Einkommen aus fester Arbeit von über 700,- DM monatlich bezogen. Demgegenüber sei die Klägerin nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu unterhalten, und bis zu ihrer Wiederheirat im Juli 1968 hilfsbedürftig geblieben.
Die Beigeladene beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Hinterbliebenenrente an die Klägerin zu verurteilen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision ist begründet.
Nach § 1265 RVO wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat; ist eine Witwenrente nicht zu gewähren, so ist das Fehlen einer Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten ohne Bedeutung.
Eine Witwe ist nicht vorhanden. Auf die Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten zur Zeit seines Todes kommt es daher zunächst nicht an. Es genügt die Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin. Wegen gleichen Verschuldens der Parteien an der Scheidung ist nicht § 58 EheG, sondern § 60 EheG anzuwenden. Ein Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG wird als Gegenstand einer Unterhaltspflicht im Sinne des § 1265 RVO angesehen (vgl. BSG 13, 166; SozR Nr. 29 zu § 1265 RVO; SozEntsch. BSG V § 1265 RVO nF Nr. 34 und 48). Während sich die Unterhaltsbedürftigkeit der früheren Ehefrau im Sinne des § 58 EheG nach dem angemessenen Unterhalt zur Zeit der Scheidung richtet, setzt § 60 EheG voraus, daß sie sich nicht selbst unterhalten kann. Das LSG hat hierzu keine ausdrückliche Feststellung getroffen, aber - nach den vorhandenen Unterlagen zu Recht - unterstellt, die Klägerin habe sich zur Zeit des Todes des Versicherten nicht selbst unterhalten können. Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand ist in dem Zeitraum vom 15. April 1966 bis zum 16. Juli 1966 zu suchen. In diesen drei Monaten, genau bis zum 6. Juli 1966, hat die Klägerin für sich allein etwa 700,- DM an Sozialhilfe erhalten; vom 6. Juli 1966 an befand sie sich in Krankenhauspflege.
Einem Rentenanspruch der Klägerin könnte allerdings der Unterhaltsverzicht entgegenstehen. Im Falle seiner Wirksamkeit entfiele die Unterhaltspflicht des Versicherten nicht wegen seiner Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse. § 1265 Satz 1 RVO fände nicht über Satz 2 dieser Vorschrift Anwendung. Ob und in welchem Umfang der Unterhaltsverzicht wirksam war, läßt sich noch nicht entscheiden. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob die Klägerin mit Wirkung auf den Zeitpunkt des Todes des Versicherten über ihren ehegesetzlichen Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag, wie er sich dem Grunde nach aus dem Scheidungsurteil ergab, verfügen durfte. Hierfür ist entscheidend, ob die Überleitungsanzeige des Sozialamts der Beigeladenen insoweit die Verfügungsmacht der Klägerin einschränkte.
Der BGH (BGHZ 20, 127) hat die zuvor lange Zeit umstrittene Frage, welche Wirkung eine Überleitungsanzeige auf künftige, nacheheliche Unterhaltsansprüche habe (vgl. z. B. Jehle, Fürsorgerecht, Handkommentar, 3. Aufl. 1958, S. 58 bis 60; Lüdtke in NJW 1955, 211), dahin entschieden, daß dem Unterhaltsberechtigten im Rahmen des § 161 BGB die Verfügungsmacht entzogen, insbesondere der Erlaß der Unterhaltsforderung im Wege einer Unterhaltsvereinbarung nach § 72 EheG verboten sei. Diese auf § 21 a der Fürsorgepflichtverordnung gestützte Rechtsauffassung hat Zustimmung gefunden (vgl. z. B. LG Hamburg in MDR 1956, 611, 612; Hampel in FamRZ 1960, 421, 424, 425; Brühl, Unterhaltsrecht, 2. Aufl. 1963, S. 284; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 3. Juni 1966, ZfS 1967, 29, 30; Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 1970, Anm. 2 zu § 72 EheG); sie hat auch für die entsprechenden Vorschriften des BSHG Geltung. Das LSG geht ebenfalls hiervon aus, bemängelt aber, daß der Wortlaut der Überleitungsanzeige nicht klar und deshalb ihr Umfang und Wirkungsbereich für den Versicherten nicht erkennbar gewesen sei. Diese Bedenken vermag der Senat nicht zu teilen. § 90 Abs. 1 Satz 1 BSHG enthält keine Einschränkung des überleitbaren Anspruchs nach Art oder Ursprung. Die Überleitungsanzeige erfaßte nach ihrem Wortlaut den bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruch der Klägerin und der Kinder. Auch die Ansprüche auf Unterhalt oder Unterhaltsbeitrag aus dem EheG beruhen auf bürgerlichem Recht. Dem Umstand, daß die Klägerin in der Überleitungsanzeige - im Zeitpunkt des Erlasses zu Recht - als "getrennt lebende Ehefrau" bezeichnet wurde, dürfte keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen. Der Versicherte mag der Meinung gewesen sein, die Klägerin könne über ihre nachehelichen Ansprüche verfügen. Er hätte sich aber vergewissern müssen; denn für einen durchschnittlich sorgfältigen Menschen bestand hinreichender Anlaß zu Zweifeln. Aus dem Verhalten des Versicherten nach der Scheidung - Zahlung von 560,- DM an das Sozialamt - wird man zwar keine zwingenden Schlüsse ziehen können; andererseits spricht es eher für als gegen die Annahme, der Versicherte selbst sei sich der Unwirksamkeit des Unterhaltsverzichts, der sich ja ausdrücklich auch auf die Vergangenheit erstrecken sollte, bewußt gewesen.
Eine Überleitungsanzeige erfaßt nicht nur den "echten Unterhaltsanspruch" aus § 58 EheG, sondern auch den Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG. Im Gegensatz zu früher ist nunmehr weithin anerkannt, daß es sich um einen rechtlichen Anspruch handelt, mag er auch ein Unterhaltsanspruch "minderer Qualität" sein (vgl. z. B. Soergel-Siebert, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, 1963, IV. Band, Anm. 2 zu § 60 EheG; Hoffmann-Stephan, Ehegesetz, Kommentar, 2. Aufl. 1968, Anm. 5 und 6 zu § 60; Palandt, aaO, Anm. 3 zu § 60 EheG; BSG 30, 220). Mit der Überleitung verliert der Anspruch nicht seinen Charakter; er bleibt auch im Verfügungsbereich der Sozialhilfeverwaltung ein Unterhaltsanspruch mit allen Privilegien (vgl. Brühl, aaO, S. 475, 505; Schellhorn-Jirasek-Seipp, Das Bundessozialhilfegesetz, 5. Aufl. 1968, Anm. 4 a und b zu § 90).
Die Wirksamkeit der Überleitungsanzeige setzt aber neben der Gewährung von Hilfe das Bestehen des vollen Anspruchs voraus. In diesem Zusammenhang genügen die geringeren Erfordernisse des § 1265 Satz 2 RVO nicht. Vielmehr kommt es auf die Leistungsfähigkeit des früheren Ehegatten an. Die Überleitungsanzeige kann die Folge, daß der Unterhaltsverzicht - ganz oder teilweise - unwirksam ist, nur zeitigen, wenn der Versicherte unter Berücksichtigung aller ehegesetzlichen Voraussetzungen zur Leistung eines Unterhaltsbeitrages verpflichtet war.
Das LSG hat dies zwar verneint. Die Revision erhebt jedoch zu Recht dagegen Bedenken. Maßgebender Zeitraum, innerhalb dessen eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten seiner früheren Ehefrau gegenüber bestanden haben muß, ist der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten, soweit er nach der Scheidung liegt (BSG 14, 255 = SozR Nr. 8 zu § 1265 RVO). Dieser rechnet von der letzten vor dem Tode des Versicherten eingetretenen wesentlichen Änderung der Einkommensverhältnisse mit Dauerwirkung bis zum Tode des Versicherten bzw. dem Beginn der zum Tode führenden Krankheit (vgl. BSG 14, 129 = SozR Nr. 1 zu § 1266 RVO). Im vorliegenden Fall ist hiernach möglicherweise nicht der volle Zeitraum zwischen der Scheidung und dem Tode des Versicherten, sondern ein kürzerer Abschnitt maßgebend. In Betracht kann die Zeit vom 15. April 1966 bis zum 13. Juni 1966 kommen, weil der Versicherte vom 14. Juni 1966 bis zu seinem Tode arbeitsunfähig war und die Vermutung naheliegt, daß die Arbeitsunfähigkeit auf der zum Tode führenden Krankheit beruhte. Unter dieser Voraussetzung könnten die Bedürfnisse und die Erwerbsverhältnisse des Versicherten anders zu bewerten sein; eine Verpflichtung zur Leistung eines Unterhaltsbeitrages könnte bestanden haben.
Die Feststellung des LSG reichen für eine Entscheidung des Senats nicht aus. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben; der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen. Bei der erneuten Prüfung hat das LSG Gelegenheit, auch das weitere Vorbringen der Beigeladenen zu beachten.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen