Leitsatz (amtlich)
Die nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 6 anzurechnende Ersatzzeit vom 1945-01-01 bis 1946-12-31 kann nicht lediglich deshalb um die Zeit einer unverschuldeten Arbeitslosigkeit verlängert werden, weil der Versicherte Vertriebener iS der BVFG §§ 1 bis 4 ist; die Zeit der Arbeitslosigkeit muß sich an eine Zeit individuell nachgewiesener Vertreibung anschließen.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; BVFG §§ 1-4
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 1969 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Zeit der Arbeitslosigkeit im Anschluß an die Pauschalersatzzeit der Vertreibung (§ 1251 Abs. 1 Nr. 6 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) auch dann als Ersatzzeit gilt, wenn ein Versicherter bereits seit 1941 in B wohnte und beschäftigt war.
Die Klägerin ist deutsche Volkszugehörige, in Jugoslawien geboren. Dort hatte sie vor dem 2. Weltkrieg ihren ständigen Wohnsitz. Im November 1941 folgte sie ihrem Ehemann nach Berlin, und zwar in einen Stadtbezirk, der heute zu Westberlin gehört. Sie war bis Ende März 1945 und dann wieder seit Februar 1951 versicherungspflichtig beschäftigt. Jugoslawien will sie aus politischen Gründen verlassen haben. Sie besitzt den Ausweis A für Vertriebene. Ihr Aufenthalt in B war ursprünglich nur für die Dauer des Krieges gedacht. Da sie aber nach dem Kriege in ihrer Heimat mit Regierungsmaßnahmen rechnete, die als Vertreibungsakte anzusehen wären, blieb sie in Berlin (West).
Von Oktober 1967 an erhält die Klägerin das Altersruhegeld (Bescheid vom 4. Januar 1968). Hierin ist die für Vertriebene allgemein geltende Ersatzzeit bis 31. Dezember 1946, nicht aber die bis Ende Januar 1951 folgende Zeit der Arbeitslosigkeit berücksichtigt worden. Um die Anrechnung dieser Zeit als Ersatzzeit geht es der Klägerin bei der Klage, mit der sie die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung eines höheren Altersruhegeldes begehrt. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben der Klage stattgegeben (Urteil des SG Freiburg vom 6. Dezember 1968, Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 17. Dezember 1969). Sie sind der Ansicht, daß die Zeit einer unverschuldeten Arbeitslosigkeit nicht nur dann als Ersatzzeit gelte, wenn sie nach einer konkret nachgewiesenen Zeit der Vertreibung andauere, sondern daß sie auch an die - für Vertriebene generell zu berücksichtigende - Pauschalersatzzeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 anknüpfen könne.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Ihres Erachtens bewertet § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO die Zeit der Arbeitslosigkeit nur dann als Ersatzzeit, wenn sie die Auswirkung einer Vertreibung ist. Die Klägerin könne aber nicht in Verbindung mit einer Vertreibung arbeitslos geworden sein; sie habe bereits Jahre vor ihrer Arbeitslosigkeit in einem Westberliner Bezirk gelebt und gearbeitet.
Die Klägerin ist in diesem Rechtszuge nicht vertreten.
Die Revision hat Erfolg. Die Zeit von 1947 bis Januar 1951, in welcher die Klägerin unverschuldet arbeitslos gewesen sein soll, kann nicht lediglich deshalb als Ersatzzeit gelten, weil die Klägerin Vertriebene im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ist und ihr somit die Jahre 1945 und 1946 ohne weiteres als Ersatzzeit gutzuschreiben sind.
Diese Rechtsfolge ist daraus herzuleiten, daß eine Zeit der unverschuldeten Arbeitslosigkeit im Recht der Rentenversicherungen überhaupt nur unter besonderen Voraussetzungen beachtet, dann regelmäßig bloß als Ausfallzeit gewertet wird und nur ausnahmsweise - in Abhängigkeit von einer Primärersatzzeit - als Anschluß-Ersatzzeit zählt. Sie kann für einen Versicherten von Nutzen sein, wenn durch sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen worden ist (§ 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO), sie einer Hauptersatzzeit folgt (§ 1251 Abs. 1 Nrn 1, 2, 4, 6 RVO) oder sie auf Verfolgungsmaßnahmen beruht (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO). Im ersten Fall ist die Arbeitslosigkeit in Verbindung mit dem versicherungsrechtlichen Grundtatbestand, nämlich der Arbeit gegen Entgelt bedeutsam. Bei der zweiten Gruppe stellt die Arbeitslosigkeit die - vom Gesetz unterstellte - Fortdauer eines konkreten Aufopferungstatbestandes dar. An der dritten aufgeführten Stelle ist die Arbeitslosigkeit zwar für sich relevant, aber nur unter einer - vom Gesetz selbst bezeichneten - bestimmten Voraussetzung, nämlich einer Verfolgungsmaßnahme. Das kausale Moment ist indessen kein Spezifikum dieses Einzelfalles; es ist vielmehr im Grunde auch für die anderen Tatbestände wesentlich. Denn es genügt für die Berücksichtigung der Arbeitslosigkeit in keinem Falle, daß der Versicherte nicht arbeiten konnte, obgleich er arbeiten wollte. Das Unvermögen zur Erwerbsarbeit und zur Entrichtung von Beiträgen muß stets auf bestimmte, vom Gesetz anerkannte Anlässe zurückzuführen sein, mögen diese nun wirtschaftlicher Natur oder Eingriffe von hoher Hand gewesen sein. Nur ist die Kausalkette von der maßgeblichen Ursache bis zu der Wirkung nicht immer in allen Zwischengliedern darzutun. Bei der Ausfallzeit (§ 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO) ist die wirtschaftliche Krisensituation als ausschlaggebende Voraussetzung der Arbeitslosigkeit dadurch gekennzeichnet, daß der Versicherte vorher eine Berufsarbeit ausgeübt haben muß und diese nicht fortsetzen kann. In den erwähnten Tatbeständen des § 1251 Abs. 1 RVO ist die Arbeitslosigkeit durch den zeitlichen Zusammenhang an ihren Entstehungsgrund gekoppelt (hierzu BSG SozR Nr. 16 zu § 1251 RVO). Dieser Entstehungsgrund ist ein real nachzuweisendes, insbesondere zeitlich näher zu bestimmendes Geschehen (Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft, Verschleppung, Freiheitsentziehung, Vertreibung). Vor allem das Ende eines solchen Geschehens ist zu datieren, damit ausgesprochen werden kann, daß die Arbeitslosigkeit sich daran - wie es im Gesetz heißt - "angeschlossen" hat.
Davon, daß die Ersatzzeiten in ihrer zeitlichen Dimension individuell zu bestimmen sind, weicht § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO in seiner ersten Alternative ab: Vertriebenen sollen die Jahre 1945 und 1946 generell als Ersatzzeit zukommen. Es braucht nicht belegt zu werden, wann die Vertreibung oder Flucht begann und abgeschlossen war. Es reicht aus, daß der einzelne - aus welchen Gründen auch immer - die Eigenschaft als Vertriebener besitzt. Wäre nun eine Zeit der Arbeitslosigkeit, die lediglich die Pauschalersatzzeit verlängert, für die Rentenversicherung erheblich, dann hätte das Gesetz für diesen Fall auf das Erfordernis des konkreten Anhalts dafür, daß die Arbeitslosigkeit in der Vertreibung oder Flucht ihren Ursprung haben kann, verzichtet. Ein solcher Verzicht fiele aus dem Rahmen der sonstigen Gesetzesgestaltung heraus. Von einer solchen außergewöhnlichen Regelung wäre jedoch nur bei einer deutlichen Anordnung des Gesetzes auszugehen. An einem klaren Hinweis in dieser Richtung fehlt es.
§ 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO nennt zwei Zeiten: einmal die "Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946" und zum anderen die "außerhalb dieses Zeitraums liegenden Zeiten der Vertreibung". Beide sind nicht durch "und", sondern durch "sowie" verbunden; die Textglieder werden sonach nicht schlicht - addierend - nebeneinander gestellt. Mit dem "sowie" kann vielmehr ein unterscheidendes Moment eingeführt sein; es kann etwas zum Ausdruck gebracht sein, was nur der einen, nicht aber der anderen Aussage zugedacht ist. Die Worte "anschließende Krankheit oder unverschuldete Arbeitslosigkeit" brauchen sich nicht auf die erste Alternative des § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO, sondern können sich allein auf individuell zu bezeichnende Zeiten der Vertreibung beziehen. Freilich ist einzuräumen, daß diese Deutung nicht zwingend ist. Vielleicht sollten lediglich mehrere aufeinander folgende "und" vermieden werden. Im übrigen spricht das Gesetz an der angeführten Stelle von den Zeiten der Vertreibung, Flucht usw. nur insoweit, als sie "außerhalb" der Jahre 1945 und 1946 liegen. Für die hier vorzunehmende Auslegung ist es indessen nicht wichtig, daß das "sowie" mit Sicherheit einer dem Gesetzgeber bewußten Formulierung entspricht. Maßgebend ist dagegen, daß der Wortlaut des Gesetzes nicht unmißverständlich ein Abgehen von der sonst eingehaltenen Linie erkennen läßt. Deshalb ist der allgemeinen Tendenz des Gesetzes zu folgen, daß eine Zeit unverschuldeter Arbeitslosigkeit nur im Anschluß an bestimmte - wirkliche - Erlebnisse als Ersatzzeit qualifiziert wird.
Es liegt zudem in der Natur einer Pauschalregelung, wie der des ersten Teiles des § 1251 Abs. 1 Nr. 6 RVO, daß sie streng in ihren Grenzen zu verstehen ist. Der Sinn dieser Regelung geht erkennbar dahin, daß sie unmittelbaren Auswirkungen der Vertreibung ohne Bezug auf die Einzelfallumstände nur bis Ende 1946 unterstellt werden. Was sich später ereignete und das Versicherungsverhältnis nachteilig beeinflußte, soll im einzelnen dargetan werden.
Hiernach ist das angefochtene Urteil nicht mit der von ihm gegebenen Begründung zu bestätigen. Damit steht jedoch nicht fest, daß das Berufungsurteil nicht doch im Ergebnis richtig ist. Dies ist von der Zeit der Vertreibung abhängig. Das Berufungsgericht hat diesen Zeitpunkt - von seiner Rechtsauffassung her zu Recht - nicht festgestellt. Nach der Darstellung der Klägerin wäre die Vertreibung in das Jahr 1941 zu verlegen. Damals verließ sie - wie sie vorgetragen hat - Jugoslawien aus Angst vor der Verfolgung durch Partisanen. Die Vertreibung könnte aber auch in die Zeit zu verlegen sein, in der die Klägerin ihren Willen zur Heimkehr nach Jugoslawien endgültig aufgeben mußte. Wovon auszugehen ist, wird sich erst nach genauerer Erforschung des Sachverhalts ergeben. Ferner wird zu klären sein, ob und wann die Klägerin unverschuldet arbeitslos war. Hierbei werden die Richtlinien zu beachten sein, die das Bundessozialgericht in dem Urteil vom 30. September 1969 - 1 RA 171/68 - aufgestellt hat. Schließlich wird, wenn der Klägerin eine Anschlußersatzzeit nicht zustatten kommen sollte, an die Möglichkeit einer Ausfallzeit zu denken sein. Damit die tatsächlichen Grundlagen für die weitere Beurteilung des geltend gemachten Anspruchs erarbeitet werden können, ist das Berufungsurteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Pflicht zur Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.
Fundstellen