Entscheidungsstichwort (Thema)
Seelisch bedingte Lähmungserscheinungen. stationäre Fehlbehandlung. Begehrensvorstellungen. Beweiswürdigung. Rentenneurose
Leitsatz (amtlich)
Zu den Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung bei psychogenen Erkrankungen.
Orientierungssatz
1. Auch psychisch bedingte Gesundheitsstörungen, die im Anschluß an einen Unfall auftreten, können Unfallfolgen im Rechtssinne sein. Dies ist allerdings dann nicht der Fall, wenn diese Gesundheitsstörungen im wesentlichen auf wunschbedingten Vorstellungen beruhen (BSG 29.1.1986 9b RU 56/84 = HVINFO 1986, 433).
2. Unbewußte Begehrensvorstellungen schließen den Anspruch auf Unfallentschädigung nicht aus.
3. Bei einer Schädigung durch ärztliche Behandlung kann dem Geschädigten nicht ausnahmslos zugemutet werden, die Folgen der Beweislosigkeit dafür zu tragen, daß bestimmte Gesundheitsschäden, die durch die Schädigung verursacht sein können, auch tatsächlich auf dieser Ursache beruhen.
4. Der Unfallversicherungsträger ist verpflichtet, den Verletzten sachgerecht, dh wohl psychiatrisch-psychologisch zu behandeln, sobald der Verdacht aufkommt, daß die Heilung einer zunächst organischen Lähmung durch eine seelische Fehleinstellung verhindert wird. Seine Behandlungspflicht (§ 557 Abs 1 und 2 RVO) endet nicht etwa in dem Zeitpunkt, zu dem er den - vielleicht berechtigten - Verdacht hat, die Lähmung sei jetzt keine Unfallfolge mehr. Er ist verpflichtet, die psychische Fehlhaltung selbst dann behandeln zu lassen, wenn er davon ausgehen kann, daß diese Fehlhaltung nur in einer krankhaften, aber überwindbaren Wunschvorstellung besteht.
Normenkette
RVO § 581 Abs 1 Nr 2; SGG § 128 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.06.1987; Aktenzeichen L 5 U 139/81) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob für die Folgen eines Wegeunfalls Entschädigung zu leisten ist.
Der Kläger, Jahrgang 1936 und von Beruf Zimmermannspolier, stürzte am 22. November 1976 auf dem Weg zur Arbeit auf der zweistufigen Außentreppe seines Wohnhauses, fiel mit dem Rücken gegen eine Treppenkante und weist seitdem das Verhalten eines Querschnittsgelähmten auf. Die Diagnose der Universitätsklinik Münster lautete: Spinales Schocksyndrom mit kompletter senso-motorischer Lähmung ab L 1. Am 11. Januar 1977 wurde der Kläger, da die Lähmungserscheinungen sich nicht zurückbildeten, in die Spezialabteilung für Rückenmarkverletzte der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Duisburg-Buchholz (Unfallklinik) verlegt. Die Behandlung dort bestand vornehmlich in Übungen für organisch bedingte Querschnittsgelähmte. Ende Januar/Anfang Februar 1977 wurde festgestellt, daß die Lähmungserscheinungen im wesentlichen seelisch bedingt seien. Der behandelnde Arzt, Dr. T., sagte dem Kläger ausdrücklich, er sei ein Simulant. Die eingeleiteten physiotherapeutischen Übungen wurden trotzdem fortgesetzt, psychotherapeutische Maßnahmen nicht durchgeführt. Im Juni 1977 wurde der Kläger mit den Hilfsmitteln für einen organisch bedingten Querschnittsgelähmten entlassen (zwei Rollstühle, Urinal).
Die Beklagte gewährte dem Kläger bis zum 23. Juni 1977 Übergangsgeld, lehnte jedoch die Gewährung sowohl von Verletztenrente wie von Pflegegeld mit dem Hinweis ab, daß unfallabhängige Folgen einer Querschnittslähmung über das Ende unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit am 31. Januar 1977 hinaus nicht vorgelegen hätten (Bescheide vom 11. Juli 1978; Widerspruchsbescheid vom 21. November 1978). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung eines fehlenden Achillessehnenreflexes beiderseits, von Sensibilitätsstörungen an beiden Beinen und einer leichten Verschmächtigung der Unterschenkelmuskulatur beiderseits mit mäßiger Beeinträchtigung der Geh- und Stehfähigkeit als Unfallfolgen eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 vH vom 1. März bis 31. August 1977, von 30 vH vom 1. September 1977 bis 31. März 1978 und nach einer MdE von 20 vH ab 1. April 1978 zu gewähren; im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1981). Auf die Berufung sowohl des Klägers wie der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) unter Zurückweisung der Berufung des Klägers das Urteil des SG abgeändert, die Klage abgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt: Die psychogene Lähmung sei im wesentlichen auf wunschbedingte Vorstellungen zurückzuführen, die ihrerseits auf der Versicherungszugehörigkeit des Klägers und seiner finanziellen Situation beruhten; demgegenüber rücke die Behandlung in der Unfallklinik mit ihren Begleitumständen in den Hintergrund (Urteil vom 27. Juni 1986). Vorangegangen waren Ermittlungen zu den Eigentumsverhältnissen am Wohnhaus des Klägers sowie zu einem vom Kläger am 26. Oktober 1976 abgeschlossenen Unfallversicherungsvertrag. Ferner hatte das LSG, ohne die medizinischen Unterlagen der Unfallklinik beigezogen zu haben, ua ein psychiatrisches Gutachten von Prof. Dr. H. , Institut für Hirnforschung der Universität D., eingeholt, in dem hervorgehoben wurde, tendenziöse Züge seien unverkennbar. Dem hatte die Beigeladene Stellungnahmen sowohl ihrer beratenden Ärztin Dr. M. als auch des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. M.-F., Universitäts-Zahn-, - Mund- und - Kieferklinik in M., entgegengehalten, in denen betont wurde, Entstehung und Ausmaß der psychischen Unfallreaktion seien maßgeblich vom Erleben des Klägers, seiner individuellen Persönlichkeit sowie der Fehlbehandlung in der Unfallklinik bestimmt.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht der Kläger eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 wirtschaftlichen Verhältnisse unvollständig ermittelt; seine Versicherungszugehörigkeit habe zu keinem Gewinn führen können; sein 1974 eingetretener finanzieller Engpaß sei bereits im Jahre 1975 mit Hilfe der Schwiegereltern überwunden gewesen; das LSG hätte sich entsprechend dem Beweisantrag gedrängt fühlen müssen, insoweit seine Schwiegereltern als Zeugen zu vernehmen. Prof. Dr. H. sei fachlich inkompetent; auch habe er weder die medizinischen Unterlagen der Unfallklinik eingesehen noch Erhebungen zur Persönlichkeit des Klägers vorgenommen. Wesentliche Ursache seiner seelisch bedingten Lähmung sei seine Erlebnissituation nach dem Unfall; insoweit habe das LSG die Fehlbehandlung in der Unfallklinik mit ihren Begleitumständen nicht gewürdigt und die benannten Zeugen (Dr. T. und Berufshelfer R.) nicht gehört; auch habe das Berufungsgericht es entgegen seinem Beweisantrag unterlassen, ein weiteres psychiatrisches Gutachten, hilfsweise eine ergänzende Stellungnahme von rof.Dr.H. zum Gutachten von Frau Dr. M. anzufordern. Bei entsprechend weiterer Sachaufklärung könne sich ergeben, daß die stationäre Fehlbehandlung als rechtlich wesentliche Ursache der psychogenen Lähmung anzuerkennen sei.
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und das Urteil des SG abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 11. Juli 1978 und 21. November 1978 zu verurteilen, ihm ab 24. Juni 1977 Verletztenrente nach einer MdE von 80 vH sowie Pflegegeld zu gewähren, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das zweitinstanzliche Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene schließt sich den Anträgen des Klägers an.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist insofern erfolgreich, als das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen ist.
Die Gewährung von Verletztenrente setzt ua voraus, daß der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls (Wegeunfalls) um wenigstens 20 vH in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist (§ 581 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger am 22. November 1976 beim Sturz auf der Außentreppe seines Wohnhauses einen Wegeunfall (§ 550 Abs 1 RVO) erlitten hat. Bedenken, die sich aus der seelischen Anlage des Klägers ergeben könnten, hat es nicht für so gewichtig gehalten, daß es den Zusammenhang zwischen versicherungsgeschützter Tätigkeit und Unfallereignis verneint hätte. Ferner hat es festgestellt, daß die im zeitlichen Anschluß an den Arbeitsunfall aufgetretene Lähmung auch ursächlich auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sei. Denn die Lähmung sei in den ersten Wochen danach eine organische Gesundheitsstörung gewesen. Die Beklagte hat gegen diese Feststellungen keine Gegenrüge erhoben. Sie hat vielmehr in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erklärt, daß sie diese Feststellungen für zutreffend erachte.
Das LSG hat aber andererseits dargelegt, daß kein Anspruch auf Verletztenrente bestehe, weil die Arbeitsunfähigkeit nicht länger als 13 Wochen unfallbedingt gewesen sei (§ 580 Abs 1 und 2 RVO). Hierzu hat es mit den insoweit übereinstimmenden ärztlichen Äußerungen festgestellt, daß die zunächst organisch bedingte Lähmung ab Ende Januar/Anfang Februar 1977 schrittweise im wesentlichen durch eine seelisch bedingte Lähmung abgelöst worden sei. Auch gegen diese Feststellungen sind keine Einwände erhoben worden. Der Kläger und die beigeladene LVA haben vielmehr in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat übereinstimmend erklärt, daß sie diese Feststellungen für zutreffend hielten.
Streit besteht nur darüber, ob es hinreichend wahrscheinlich ist, daß auch die psychogene Lähmung auf den Unfall zurückzuführen ist.
Das LSG hat sachlich-rechtlich zunächst zutreffend ausgeführt, daß auch psychisch bedingte Gesundheitsstörungen, die im Anschluß an einen Unfall auftreten, Unfallfolgen im Rechtssinne sein können, daß dies allerdings dann nicht der Fall ist, wenn diese Gesundheitsstörungen im wesentlichen auf wunschbedingten Vorstellungen beruhen (BSGE 18, 172, 175 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO aF; BSG vom 29.Januar 1986 - 9b RU 56/84 -; vgl auch Ecker, Sozialgerichtliche Rechtsprechung zur Neurosenbeurteilung, in: Psychiatrische Begutachtung, herausgegeben von Venzlaff, 1986, S 535 ff). Dazu hat das LSG in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, die psychogene Lähmung des Klägers beruhe im wesentlichen auf wunschbedingten Vorstellungen, die allerdings dem Kläger nicht bewußt seien.
Die Meinung, daß auch unbewußte Begehrensvorstellungen den Anspruch auf Unfallentschädigung ausschlössen, ist sachlich-rechtlich nicht richtig. Denn der Grund dafür, wunschbedingte Gesundheitsstörungen von der Unfallentschädigung auszuschließen, beruht auf der Erkenntnis, daß die wunschbedingten Vorstellungen durch einen Willensakt hätten überwunden werden können (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl. 67. Nachtrag, Band II, S 489c mit Hinweisen vor allem auf die Rechtsprechung im privaten Unfallversicherungsrecht). Ob damit eine metaphysische Willensfreiheit vorausgesetzt wird (vgl Ecker aaO S 536), kann offenbleiben. Denn das LSG hat hier nach dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen unausgesprochen festgestellt, daß der Kläger jedenfalls zu Beginn des Vorgangs, bei dem die Wunschvorstellungen die Heilung verhinderten, in der Lage war, diese Vorstellungen und ihre Auswirkungen erfolgreich zu bekämpfen. Anderenfalls hätte das LSG eine Rentenneurose als entschädigungspflichtige Unfallfolge festgestellt.
Trotzdem ist das Urteil des LSG nicht zu bestätigen. Denn der Kläger hat zutreffend gerügt, daß das LSG mit seiner Feststellung, die Lähmung sei im wesentlichen auf wunschbedingte Vorstellungen zurückzuführen und einer nicht sachgemäßen ärztlichen Behandlung komme nur untergeordnete Bedeutung zu, Verfahrensrecht verletzt hat: Das LSG hat bei der Abwägung der für die psychogene Lähmung des Klägers in Betracht kommenden Ursachen die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) verletzt.
Bei der Gewichtung der Begehrensvorstellungen hat es sich dem Gutachten von Prof.Dr.H. mit dem Hinweis auf gerichtliche Feststellungen angeschlossen, die der Kläger mit Erfolg angegriffen hat. Es ist zwar verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden, wenn ein Gericht nach kritischer Würdigung den Äußerungen eines Sachverständigen den Vorzug gibt vor den gegenteiligen Äußerungen mehrerer anderer Sachverständiger. Eine solche Entscheidung liegt im allgemeinen Rahmen der freien richterlichen Überzeugungsbildung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat sich seine Überzeugung zugunsten der Äußerungen von Prof. Dr. H. und zuungunsten von Prof. M.-F. und Frau Dr. M. mit der Begründung gebildet, es habe selbst Tatsachen aus der Lebensgeschichte des Klägers ermittelt, die zeigten, daß der Kläger in einer wirtschaftlichen und seelischen Lage war, in der (auch dem Nichtfachmann) der Wunsch des Klägers, auf alle Fälle Unfallversicherungsleistungen zu erlangen, verständlich erscheine. Es hat festgestellt, daß der Kläger vor dem Unfall im Zusammenhang mit seinem Hausbau in einer wirtschaftlichen Zwangslage gewesen sei, daß er mit den Sozialleistungen aufgrund des Unfalls wesentlich besser stehe als mit seinem Arbeitsentgelt und daß er sich schon vor Jahren einmal bei einem Krankenhausaufenthalt psychisch auffällig benommen habe. Diese Feststellungen sind nicht verbindlich (§ 163 SGG), da sie auf Verfahrensfehlern beruhen. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, den Behauptungen des Klägers nachzugehen, die finanziellen Schwierigkeiten beim Hausbau seien bereits lange vor dem Unfall mit Hilfe seiner Schwiegereltern überwunden gewesen. Die Vernehmung der Schwiegereltern des Klägers wäre nach § 103 SGG geboten gewesen. Ferner hätte das LSG den Kläger zu den Monatseinkünften hören müssen (§ 128 Abs 2 SGG). Dabei hätte sich, was der Kläger in der Revision schlüssig vorträgt, ua herausgestellt, daß die Einkünfte in der Zeit vor dem Unfall höher und nach dem Unfall niedriger waren als das LSG aus den Akten entnommen hat. Nach dem überprüfbaren Vortrag des Klägers steht er seit dem Unfall wirtschaftlich wesentlich schlechter, als er ohne den Unfall stehen würde. Zu überprüfen wäre auch, ob er Leistungen aus seiner privaten Unfallversicherung in Anspruch genommen hat. Bei Anhörung des Klägers hätte sich auch geklärt - was der Kläger ebenfalls in der Revision schlüssig vorträgt -, daß die angebliche psychische Auffälligkeit bei dem früheren Krankenhausaufenthalt auf eine Verletzung bei einem Arbeitsunfall zurückzuführen war und sich als harmloses und verständliches Verhalten erklären läßt.
Bei der Gewichtung der dem Kläger zuteil gewordenen Behandlung hat das LSG wesentliche Beweiswürdigungsgrundsätze unbeachtet gelassen. Schon bei der Würdigung der offenbar auch nach Meinung des LSG sachwidrigen Behandlung als Ursache für die psychogene Lähmung hat es § 128 Abs 1 SGG verletzt. Es hat wesentliche Gesichtspunkte außer acht gelassen, die zu einer anderen Gewichtung dieser Ursache hätten führen können: In erster Linie hat es nicht berücksichtigt, daß bei einer Schädigung durch ärztliche Behandlung dem Geschädigten nicht ausnahmslos zugemutet werden kann, die Folgen der Beweislosigkeit dafür zu tragen, daß bestimmte Gesundheitsschäden, die durch die Schädigung verursacht sein können, auch tatsächlich auf dieser Ursache beruhen. Auch in einem Verfahren, in dem die Sache von Amts wegen aufzuklären ist (§ 103 SGG), würde es der Lage des Geschädigten (Laie und Objekt ärztlichen Handelns) nicht gerecht, wenn nicht berücksichtigt würde, daß es sich um medizinische Fachfragen handelt und daß sich medizinische Maßnahmen unterschiedlich auf einzelne Personen auswirken. Diese Zwangslage kann in Verfahren, in denen nicht der Amtsermittlungs-, sondern der Verhandlungsgrundsatz gilt, also vor allem in Arzthaftungsprozessen, zur Umkehr der Beweislast führen (allerdings nicht für mittelbare spätere Schäden - BGH NJW 1978, 1683 -). Soweit es im Sozialrecht - im sozialen Entschädigungsrecht und im Unfallversicherungsrecht - auf medizinische Ursachenzusammenhänge ankommt, ist dieser Schwierigkeit schon dadurch allgemein Rechnung getragen, daß für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Schädigung und Schädigungsfolgen die Wahrscheinlichkeit ausreicht (für das Impfschadensrecht vgl BSG SozR 3850 § 52 Nr 1 und 1500 § 160 Nr 51). Bei der Frage, welche Anforderungen im Einzelfall an die Feststellung der Wahrscheinlichkeit zu stellen sind, müssen aber die dargelegte Zwangslage des Geschädigten und die Schwierigkeit, medizinische Zusammenhänge aufzuklären, berücksichtigt werden. Das gilt vor allem dann, wenn ursächliche Zusammenhänge im psychiatrischen Bereich infrage stehen, wo lückenlose Beweise noch schwieriger sind als auf anderen medizinischen Fachgebieten.
Bei der Frage, welche ursächliche Bedeutung die ärztliche Behandlung hatte, mußte auch ins Gewicht fallen, daß sie in den Verantwortungsbereich der Beklagten fällt. Die Beklagte war verpflichtet, den Kläger sachgerecht, dh wohl psychiatrisch-psychologisch zu behandeln, sobald der Verdacht aufkam, daß die Heilung der zunächst organischen Lähmung durch eine seelische Fehleinstellung verhindert werde. Die Behandlungspflicht der Beklagten (§ 557 Abs 1 und 2 RVO) endete nicht etwa in dem Zeitpunkt, zu dem sie den - vielleicht berechtigten - Verdacht hatte, die Lähmung sei jetzt keine Unfallfolge mehr. Sie war verpflichtet, die psychische Fehlhaltung selbst dann behandeln zu lassen, wenn sie davon ausgehen konnte, daß diese Fehlhaltung nur in einer krankhaften, aber überwindbaren Wunschvorstellung bestand. Selbst wenn die Beklagte nach dem objektiven Sachstand damals nicht mehr zur Heilbehandlung rechtlich zuständig gewesen sein sollte, hätte sie jedenfalls im Zusammenwirken mit der zuständigen Krankenkasse für eine sachgerechte Behandlung des Klägers sorgen müssen (§ 5 Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation, § 43 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -). Insbesondere hat die Beklagte es zu vertreten, wenn die von ihr eingesetzten Ärzte dem Kläger einerseits ausdrücklich vorhielten, er sei ein Simulant, und ihn andererseits praktisch zwangen, die für organisch Gelähmte gedachte Behandlung über sich ergehen zu lassen und die entsprechenden Übungen mitzumachen. Sollte sich - nach jetzt über 10 Jahren - der Sachverhalt nicht mehr aufklären lassen, so geht das zwar nicht iS der Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten (vgl zur Beweislage bei Wechsel der Ursache nach erfolgter Anerkennung im Recht der Kriegsopferversorgung BSG KOV 1970, 9); es muß aber im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden, daß die Beklagte mit einer sachgerechten Behandlung jedenfalls die heutigen Aufklärungsschwierigkeiten verhütet hätte und daß sie die sachwidrige Behandlung zu vertreten hat.
Schließlich durfte bei der Beweiswürdigung nicht außer acht gelassen werden, daß das Vorliegen der streitigen Anspruchsvoraussetzungen (abgesehen von dem Ablauf der 13-Wochen-Frist des § 580 RVO) nach Auffassung aller Beteiligten wahrscheinlich gemacht worden ist und es nach allgemeinen Beweisregeln im Zivilrecht Aufgabe des Anspruchsgegners ist, zu beweisen, daß diese Anspruchsvoraussetzungen für eine spätere Zeit wieder weggefallen sind (vgl Stein/Jonas, Kommentar zur ZPO, 20. Aufl, § 286 Rdn 42). Zwar gelten entsprechende Beweislastregeln im Sozialrecht nicht. Es muß aber auch hier im Rahmen der Beweiswürdigung beachtet werden, daß die von der Beklagten behauptete schrittweise Ersetzung der organischen Schädigung durch krankhafte, aber zurechenbare Wunschvorstellungen im vorliegenden Fall ein nur schwer faßbarer Vorgang ist. Wenn man berücksichtigt, daß dieser Vorgang während der stationären Behandlung stattgefunden haben müßte, welche die Beklagte zu vertreten hat, so spricht die Lebenserfahrung eher dagegen, daß zurechenbare Wunschvorstellungen des Klägers für die Verhinderung der Heilung die wesentliche Ursache waren. Bei dieser Sachlage müßten schon Beweise von einigem Gewicht für das Bestehen und für die Wirkung wunschbedingter Begehrensvorstellungen sprechen, wenn diesen gegenüber den naheliegenden Auswirkungen der von der Beklagten zu verantwortenden ärztlichen Behandlung das Übergewicht zuerkannt werden soll.
Die im allgemeinen wohl zutreffende Meinung, daß bei der Beweiswürdigung im Falle von Rentenneurosen ein strenger Maßstab anzulegen ist (Brackmann aa0 S 489e, vgl auch Diederichsen, Juristische Voraussetzungen, in: Psychiatrische Begutachtung, herausgegeben von Venzlaff, 1986, S 505), kann bei den geschilderten besonderen Umständen hier nicht gelten. Denn die Frage des vorliegenden Falles ist gerade, ob eine Rentenneurose vorliegt oder ob eine Neurose festzustellen ist, die eine - durch Fehlbehandlung entstandene - mittelbare Unfallfolge ist (vgl auch BSG SozR Nr 67 zu § 1 Bundesversorgungsgesetz wonach eine psychogene Reaktion in Form einer Lähmung, die sich anfänglich mit anerkannten organischen Schädigungsfolgen vermischte, nach Abklingen der organischen Schädigung nicht ohne weiteres als wehrdienstunabhängig angesehen werden kann).
Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Pflegegeld (§ 558 Abs 3 RVO) ist mangels entsprechender Tatsachenfeststellungen ebenfalls nicht entscheidungsreif.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen