Leitsatz (amtlich)

Wenn die Zulassung der Berufung den Entscheidungsgründen zu entnehmen ist, beweist dies unwiderleglich, daß die Zulassung zur Zeit der Urteilsverkündung beschlossen war.

 

Normenkette

SGG § 128 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Mai 1956 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger ist von Beruf Landwirt und Eigentümer einer 65 Morgen großen Landwirtschaft. Er erlitt 1944 in Rußland eine schwere Granatsplitterverletzung. Durch Bescheid nach der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 vom 31. März 1949 war bei dem Kläger als Schädigungsfolge anerkannt:

"Zustand nach Splitterverletzung linke Stirnseite mit großem Knochendefekt, Hirnleistungsschwäche und Jackson-Anfälle."

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) war auf 80 v.H. festgesetzt. Der Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 10. Mai 1952 übernahm den anerkannten Leistungsgrund und den festgestellten MdE-Grad. Den gegen den Umanerkennungsbescheid eingelegten Einspruch hat der Beschwerdeausschuß des Versorgungsamts (VersorgA.) zurückgewiesen.

Die von dem Kläger beim Oberversicherungsamt (OVA.) Dortmund hiergegen eingelegte Berufung ist als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Dortmund übergegangen. Der Kläger hat beantragt, die MdE. für die anerkannte Schädigungsfolge auf 90 v.H. festzustellen. Er trug vor, die beanspruchte Erhöhung des MdE-Grades sei aus § 30 BVG begründet, weil er wegen seiner schweren Verletzung nur noch einen geringen Teil der früher von ihm verrichteten landwirtschaftlichen Arbeit ausführen könne. Sein Ausfall mache die Einstellung einer fremden Arbeitskraft erforderlich.

Das SG. hat die Klage abgewiesen und in die Entscheidungsgründe den die Rechtsmittelbelehrung einleitenden Satz aufgenommen: "Gegen dieses Urteil wird gemäß § 150 Ziff. 1 SGG die Berufung ausdrücklich zugelassen."

Der Kläger hat Berufung eingelegt und beantragt, den Beklagten zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung einer besonderen Schädigung in der Ausübung seines Berufes ab 1. Oktober 1950 eine Rente nach einer MdE. von 90 v.H. zu zahlen. Die Berufung sei statthaft, weil sie das SG. nach § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen habe.

Der Beklagte hat beantragt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.

Das Landessozialgericht (LSG.) hat mit Urteil vom 3. Mai 1956 die Berufung als unzulässig verworfen und die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage zugelassen. Es hat ausgeführt, das angefochtene Urteil betreffe nur den Grad der MdE., ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers oder die Gewährung der Grundrente davon abhänge. Streitig sei lediglich, ob dem Kläger eine Rente nach einer MdE. von 80 oder 90 v.H. zu zahlen sei. Die Berufung sei in diesem Falle generell nach § 140 Nr. 3 SGG ausgeschlossen. Sie sei auch nicht auf Grund der Ausnahmevorschrift des § 150 Nr. 1 SGG zulässig. Entgegen der Auffassung des Klägers sei eine Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG dann nicht wirksam, wenn sich der Zulassungsausspruch lediglich in den Urteilsgründen befinde. Verfahrensrügen seien vom Kläger nicht geltend gemacht.

Mit der Revision hat der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Revision macht geltend, das SG. habe die Zulassung der Berufung wirksam am Schluß der Entscheidungsgründe und vor der Rechtsmittelbelehrung ausgesprochen. Die Ansicht des LSG. sei nicht zutreffend, wonach eine Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG dann nicht vorliege, wenn sich der Zulassungsausspruch lediglich in den Urteilsgründen befinde.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Er trägt vor, die vom LSG. vertretene Ansicht sei zutreffend. Es könne auch nicht angenommen werden, daß es sich bei der nur in den Entscheidungsgründen enthaltenen Zulassung der Berufung um eine Entscheidung des SG. in seiner vollen Besetzung handele.

Die vom LSG. gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie mußte Erfolg haben.

Die Auffassung des LSG., daß eine wirksame Berufungszulassung nicht vorliege, ist mit dem Gesetz nicht vereinbar. Das Bundessozialgericht (BSG.) hat mehrfach entschieden, daß die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG im Urteil zu erfolgen hat. Das SGG schreibt nicht vor, in welcher Form und an welcher Stelle des Urteils die Zulassung einer an sich nach den §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossenen Berufung auszusprechen ist. Jedenfalls muß die Zulassung sich eindeutig aus dem Urteil ergeben (vgl. BSG. 4, 261 [263]). Wenn in Schrifttum die Ansicht vertreten wird, daß wegen der Besonderheiten in der Sozialgerichtsbarkeit die Sozialgerichte aus Zweckmäßigkeitsgründen den Zulassungsausspruch in die Urteilsformel mit hineinnehmen sollten, so besagen diese Erwägungen nichts dagegen, daß die Berufung in der Sozialgerichtsbarkeit wie im Zivilprozeß die Revision (§ 546 Abs. 1 ZPO) wirksam auch zugelassen ist, wenn die Zulassung nicht in der Urteilsformel, sondern in den Entscheidungsgründen enthalten ist (BSG. 2, 121 [125], 245 [246] und die dort zit. Rechtspr. und Lit.). In dem die Rechtsmittelbelehrung einleitenden Satz des Urteils des SG. ist § 150 Nr. 1 SGG zitiert und hervorgehoben, daß die Berufung gemäß dieser Vorschrift "ausdrücklich" zugelassen werde. Mit dieser bestimmten Formulierung ist eine wirksame Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG ausgesprochen; der Satz enthält, wie schon sein Wortlaut ergibt, nicht nur einen allgemeinen Hinweis des Inhalts, daß "die Entscheidung mit der Berufung angefochten werden könne", was nach BSG. 4, 261 für eine Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG nicht ausreichen würde.

Wenn die Zulassung, wie hier, den Gründen zu entnehmen ist, so beweist dies zugleich unwiderleglich, daß die Zulassung zur Zeit der Urteilsverkündung beschlossen war (BGH. in NJW. 56, 831). Es brauchte deshalb auf das Vorbringen des Beklagten, die Zulassung der Berufung sei möglicherweise nicht vom SG. in seiner vollen Besetzung beschlossen worden, nicht näher eingegangen zu werden. Weder aus dem Tatbestand noch aus der Sitzungsniederschrift muß sich ergeben, daß die entscheidende Kammer die Frage der Zulassung beraten hat. Das SGG enthält keinerlei Vorschriften darüber, daß sich das erkennende Gericht über den Umfang seiner Beratung irgendwie zu äußern hätte. In Übereinstimmung mit der zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist der Senat auch der Ansicht, daß der Beweis des Gegenteils schon deshalb nicht zulässig sein kann, weil seine Zulassung zu einer untragbaren Rechtsunsicherheit führt, abgesehen davon, daß ihm auch das Beratungsgeheimnis entgegenstehen würde. Die nach § 150 Nr. 1 SGG wirksam ausgesprochene Zulassung ist eine Entscheidung des SG., die das LSG. bindet. Der Senat hält auch insoweit an der bisherigen Rechtsprechung des BSG. fest (BSG. in SozR. zu § 150 SGG Da 8 Nr. 19).

Das LSG. hätte daher die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG für zulässig ansehen und zur Sache entscheiden müssen. Auf dieser Verletzung des § 150 Nr. 1 SGG beruht das angefochtene Urteil. Es ist deshalb aufzuheben.

Von der nach Aufhebung des Urteils gegebenen Möglichkeit, in der Sache selbst zu entscheiden, hat der Senat keinen Gebrauch gemacht, weil zur Feststellung der beim Kläger bestehenden MdE. noch Ermittlungen tatsächlicher Art erforderlich sind. Das LSG. hat zur Sache selbst überhaupt nicht entschieden, das SG. hat das Gutachten der Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe vom 20. August 1954, das auf Ersuchen des Gerichts erstattet wurde, und die darin enthaltenen neuen Tatsachen noch nicht berücksichtigt. Der Rechtsstreit war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 170 Abs. 2 SGG an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 147

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