Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Beiladung des Sozialhilfeträgers bzw Hilfeempfängers

 

Orientierungssatz

1. Betrifft der Rechtsstreit einen streitigen Arbeitslosenhilfeanspruch auch für einen Zeitraum, von dem an der Sozialhilfeträger diesen Anspruch auf sich übergeleitet hat, so greift jegliche Entscheidung hierüber in die Rechtssphäre des Sozialhilfeträgers unmittelbar ein. Ebenso wie ein Hilfeempfänger, dem trotz Überleitung das "Stammrecht" verblieben ist, zu dem Rechtsstreit des Sozialhilfeträgers beizuladen ist, in dem dieser den übergeleiteten Anspruch vor den Sozialgerichten geltend macht (vgl BSG 1981-05-13 7 RAr 102/79 = SozR 1500 § 75 Nr 34), ist der Sozialhilfeträger auch zu dem Rechtsstreit eines Arbeitslosen vor den Sozialgerichten beizuladen, wenn die Entscheidung auch die übergeleitete Arbeitslosenhilfe betrifft.

2. Dies hat der Senat nicht nur für den Fall entschieden, daß sich der Arbeitslose gegen eine Entziehung der ihm gewährten Arbeitslosenhilfe wendet und der Sozialhilfeträger die Arbeitslosenhilfe für die Zeit nach der Entziehung übergeleitet hat (vgl BSG 1981-07-21 7 RAr 26/80 = SozR 1500 § 75 Nr 37), sondern auch für den Fall, daß der Arbeitslose auf Gewährung der wegen Nichterfüllung der Anspruchsvoraussetzungen verweigerten übergeleiteten Arbeitslosenhilfe klagt (vgl BSG 1981-10-08 7 RAr 74/80).

 

Normenkette

SGG § 75 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; BSHG § 90; AFG § 134

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 12.12.1980; Aktenzeichen L 4 Ar 52/78)

SG Berlin (Entscheidung vom 20.07.1978; Aktenzeichen S 63 Ar 88/76)

 

Tatbestand

Die 1924 geborene Klägerin verrichtete vom 1. Juli 1973 bis 22. Juli 1974 Montierarbeiten in Heimarbeit und bezog anschließend Arbeitslosengeld (Alg) mit einer Anspruchsdauer von 234 Wochentagen, nachdem ein Gutachten des ärztlichen Dienstes des Landesarbeitsamtes P vom 23. August 1974 ergeben hatte, daß Heimarbeiten für die Klägerin die zur Zeit günstigste Lösung darstellten.

Den Antrag der Klägerin vom 1. April 1975 auf Gewährung von Anschluß-Arbeitslosenhilfe (Alhi) lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Klägerin stehe der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nur in der Lage sei, Heimarbeit zu verrichten (Bescheid vom 2. Juni 1975 und Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1976). Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die genannten Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin auf ihren Antrag vom 1. April 1975 Alhi zu gewähren (Urteil vom 20. Juli 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 12. Dezember 1980 das sozialgerichtliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. In den Gründen der Entscheidung ist ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Alhi nach § 134 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Wegen der fehlenden subjektiven Verfügbarkeit der Klägerin seien die angefochtenen Bescheide - jedenfalls im Ergebnis - rechtmäßig.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 103, 134 AFG; außerdem beruhe das Urteil auf einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 62 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm Art 103 Grundgesetz (GG) und verstoße auch gegen §§ 106 Abs 1 und 112 Abs 2 SGG.

Von der Entscheidung des LSG, sie stehe seit April 1975 der Arbeitsvermittlung subjektiv nicht zur Verfügung, sei sie überrascht worden. Die Frage ihrer subjektiven Verfügbarkeit sei bis zuletzt nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen und habe sich den Prozeßbeteiligten nicht gestellt. Es sei vielmehr ausschließlich um die Frage gegangen, ob § 103 Abs 3 AFG über § 134 Abs 2 Satz 1 AFG auch für die Anschluß-Alhi Anwendung finde. Zwischen den Beteiligten habe unstreitig festgestanden, daß sie, die Klägerin, objektiv nur noch Heimarbeit leisten könne. Zu keiner Zeit habe die Beklagte ihre subjektive Verfügbarkeit bezweifelt bzw insoweit eine willkürliche Einschränkung ihrer Arbeitsbereitschaft angenommen. Wenn das LSG diesen rechtlichen Gesichtspunkt aufgrund des eingeholten ärztlichen Gutachtens nunmehr als den allein entscheidenden angesehen habe, habe es die Beteiligten vor Urteilsverkündung hierauf aufmerksam machen müssen, damit sie sich über die neue Sach- und Rechtslage erklären konnten. Das sei nicht geschehen.

In der Sache könne dem Urteil des LSG nicht gefolgt werden, weil die Beklagte auch dann, wenn von der - unangreifbaren - Feststellung ausgegangen werde, daß sie, die Klägerin, von Anfang an für allgemeine Arbeitnehmertätigkeiten objektiv verfügbar gewesen sei, ihr die fehlende subjektive Verfügbarkeit nicht entgegenhalten dürfe, ohne sich selbst in Widerspruch zu ihrer bisherigen Haltung zu begeben (venire contra factum proprium).

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom

12. Dezember 1980 aufzuheben und die Berufung

der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts

Berlin vom 20. Juli 1978 zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Das LSG habe festgestellt, daß die Klägerin nach Erschöpfung ihres Alg-Anspruchs am 1. April 1975 - ebenso wie zuvor - lediglich bereit gewesen sei, Heimarbeiten zu verrichten. Die Klägerin habe sich sogar schon vor der arbeitsamtsärztlichen Untersuchung auf Heimarbeit beschränkt gehabt. Dabei sei sie bewußt das Risiko eingegangen, daß ihre Arbeitsbereitschaft mit ihrem objektiven Leistungsvermögen nicht übereinstimme.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, ohne daß der Senat zur Sachentscheidung Stellung zu nehmen vermag.

Bei einer zulässigen Revision sind, bevor über die streitigen Ansprüche in der Sache entschieden werden kann, die Voraussetzungen zu prüfen, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Das Revisionsgericht hat von Amts wegen insbesondere solche Mängel zu Berücksichtigen, die sich aus dem Fehlen der unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen ergeben. Zu diesen von Amts wegen zu berücksichtigenden Mängeln zählt auch die Unterlassung einer notwendigen Beiladung (seit BSG SozR 1500 § 75 Nr 1 ständige Rechtsprechung; BVerwG Buchholz 310 § 65 VwGO Nr 31). Dem SG und dem LSG ist entgangen, daß an dem Rechtsstreit, soweit dieser den Anspruch auf Alhi ab 16. Mai 1975 betrifft, der Sozialhilfeträger, der der Klägerin ab 16. Mai 1975 Sozialhilfe gewährt hat und der Beklagten mit Schreiben vom 16. Februar 1978 die Überleitung des Anspruchs auf Alhi in Höhe seiner Aufwendungen nach § 90 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) angezeigt hat, derart beteiligt ist, daß die Entscheidung auch ihm gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Der Sozialhilfeträger ist deshalb gem § 75 Abs 2 SGG notwendig zum Rechtsstreit beizuladen. Dies ergibt sich, wie der Senat bereits mehrfach im Zusammenhang mit der Überleitung von Ansprüchen nach dem AFG auf den Sozialhilfeträger entschieden hat, aus den Wirkungen der Überleitungsanzeige und ihrer Bedeutung für die Rechtsstellung des Anzeigenden (vgl BSG SozR 1500 § 75 Nr 37, BSGE 41, 237, 238 = SozR 5910 § 90 Nr 2). Betrifft der Rechtsstreit - wie im vorliegenden Falle - einen streitigen Alhi-Anspruch auch für einen Zeitraum, von dem an der Sozialhilfeträger diesen Anspruch auf sich übergeleitet hat, so greift jegliche Entscheidung hierüber in die Rechtssphäre des Sozialhilfeträgers unmittelbar ein. Ebenso wie ein Hilfeempfänger, dem trotz Überleitung das "Stammrecht" verblieben ist, zu dem Rechtsstreit des Sozialhilfeträgers beizuladen ist, in dem dieser den übergeleiteten Anspruch vor den Sozialgerichten geltend macht (BSG SozR 1500 § 75 Nr 34), ist der Sozialhilfeträger auch zu dem Rechtsstreit eines Arbeitslosen vor den Sozialgerichten beizuladen, wenn die Entscheidung auch die übergeleitete Alhi betrifft. Dies hat der Senat nicht nur für den Fall entschieden, daß sich der Arbeitslose gegen eine Entziehung der ihm gewährten Alhi wendet und der Sozialhilfeträger die Alhi für die Zeit nach der Entziehung übergeleitet hat (BSG SozR 1500 § 75 Nr 37; Urteil des Senats vom 25. August 1981 - 7 RAr 73/80 -), sondern auch für den hier vorliegenden Fall, daß der Arbeitslose auf Gewährung der wegen Nichterfüllung der Anspruchsvoraussetzungen verweigerten übergeleiteten Alhi klagt (Urteil des Senats vom 8. Oktober 1981 - 7 RAr 74/80 -).

Da Beiladungen im Revisionsverfahren in Angelegenheiten der Bundesanstalt für Arbeit unzulässig sind (§ 168 SGG), führt der Verfahrensmangel zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG, damit dieses die Beiladung nachholen kann. Ob die Zurückverweisung auch aus anderen Gründen, insbesondere wegen der von der Klägerin gerügten Mängel im Verfahren des LSG geboten war, bedarf bei dieser Sachlage keiner Erörterung.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658180

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