Leitsatz (redaktionell)
Die Rente des Versicherten kann nach seinem Tode auf Antrag der Rechtsnachfolger nicht neu festgestellt werden, wenn der Versicherte zu Lebzeiten irgendwelche erheblichen Maßnahmen in dieser Richtung weder ergriffen noch beantragt hatte.
Normenkette
RVO § 608 Fassung: 1924-12-14, § 627 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19. September 1963 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Dem am 13. April 1960 gestorbenen Ehemann der Klägerin wurde mit Bescheid der Beklagten vom 17. August 1951 wegen Staublungenerkrankung - Silikose - vom 29. Juni 1951 an eine Dauerrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) bewilligt; entsprechend seinen Angaben, bis zum 1. Januar 1945 dem Gesteinsstaub ausgesetzt gewesen zu sein, wurde der Rente ein Jahresarbeitsverdienst (JAV) nach dem im Jahre 1944 erworbenen Arbeitseinkommen zugrunde gelegt; die Rente wurde nach dem Gesetz zur vorläufigen Neuregelung von Geldleistungen in der gesetzlichen UV vom 27. Juli 1957 (BGBl. I, 1071) umgestellt.
Nach dem Tode ihres Ehemannes wurde der Klägerin die nach dem gleichen JAV berechnete Hinterbliebenenrente gewährt. Später beantragte sie deren Neufeststellung mit der Begründung, ihr Ehemann habe noch bis 1947 staubgefährdete Arbeiten ausgeführt. Nach Prüfung der Sachlage stellte die Beklagte "unter Verzicht auf die bindende Wirkung" des Vorbescheides die Hinterbliebenenrente rückwirkend neu fest, wobei sie zur Berechnung des JAV vom 7. Juli 1947 als Unfallzeitpunkt ausging. Den Antrag der Klägerin, auch die ihrem Ehemann zu Lebzeiten gewährte Rente nunmehr rückwirkend zu erhöhen, lehnte die Beklagte jedoch mit Bescheid vom 17. April 1962 ab. Der Widerspruch der Klägerin, in dem sie geltend machte, mit ihrem Ehemann zusammen schon in den Jahren 1957 und 1958 wegen einer Neuberechnung der Rente bei der Beklagten vorstellig geworden zu sein, wurde zurückgewiesen.
Die Klägerin erhob Klage beim Sozialgericht (SG) mit dem Antrag,
den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zur Berichtigung des Rentenbescheides des verstorbenen Ehemannes der Klägerin gemäß § 619 RVO zu verurteilen.
Das SG hat die Klage unter Zulassung der Berufung abgewiesen. Die Voraussetzungen einer Überprüfung des dem Versicherten früher erteilten Rentenbescheides nach § 1744 Reichsversicherungsordnung (RVO) lägen nicht vor. Die Berichtigung der Höhe ihrer Hinterbliebenenrente, die sie zum Anlaß für die Neufeststellung der Lebzeitenrente ihres Ehemannes nehmen wolle, beruhe auf einer erst nach Erteilung der Rentenbescheide erteilten Zechenauskunft. Die Rente hätte daher nur auf Grund eines Überprüfungsverfahrens nach § 619 RVO aF und § 627 RVO nF neu festgestellt werden können. Im Verhältnis zur Klägerin sei die Beklagte aber zur Überprüfung und Neufeststellung der Höhe der Lebzeitenrente ihres Ehemannes nicht verpflichtet. Ansprüche, die sich etwa aus den vorgenannten Vorschriften ergäben, gingen beim Ableben des Berechtigten nicht nach § 614 aF, § 630 nF RVO auf den Rechtsnachfolger über. Ob etwas anderes zu gelten hätte, wenn zu Lebzeiten des Berechtigten bereits eine Überprüfung der Rentenbescheide eingeleitet worden wäre, könne dahinstehen, weil hier vor dem Tode des Ehemannes der Klägerin irgendwelche erheblichen Maßnahmen in dieser Richtung weder ergriffen, noch beantragt worden seien.
Mit der im Einverständnis der Beklagten eingelegten Sprungrevision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Die Beklagte sei verpflichtet, den fehlerhaften Bescheid zu berichtigen und ihr als Rechtsnachfolgerin des Versicherten die zu Unrecht nicht gezahlten Beträge nachzuzahlen. In weiteren Schriftsätzen, die nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingegangen sind, macht sie geltend, ihr Ehemann sei wiederholt bei der Beklagten vorstellig geworden und habe sich über die niedrige Rente beschwert. Die Beklagte hätte aus ihrer Fürsorgepflicht heraus schon damals eine neue Prüfung vornehmen müssen.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides zu verurteilen, die Unfallrente ihres verstorbenen Ehemannes vom 1. Januar 1957 an neu festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie weist darauf hin, daß die von der Klägerin erstrebte Änderung des JAV eine Vergünstigung für den Versicherten erst seit dem 1. Januar 1957 bewirkt haben würde, weil der für ihn angesetzte JAV erst durch die Umstellungsvorschriften des Gesetzes vom 27. Juli 1957 wegen der Verschiedenheit des Multiplikators niedriger geworden, vorher aber höher gewesen sei als der einem späteren Zeitpunkt entnommene richtige JAV. Eine Neufeststellung nach § 619 RVO aF, § 627 RVO müsse aber stets von der zur Zeit der Erteilung des Bescheides bestehenden Sach- und Rechtslage ausgehen. Darüber hinaus könne die Klägerin als bloße Bezugsberechtigte nach § 614 RVO aF und § 630 RVO nF keine Abänderungsansprüche mehr stellen, die der Versicherte selbst zu Lebzeiten nicht mehr erhoben habe.
II.
Die Sprungrevision der Klägerin ist zulässig, jedoch nicht begründet.
Die Klägerin verlangt die nachträgliche und rückwirkende Erhöhung der Lebzeitenrente ihres verstorbenen Ehemannes. Das angefochtene Urteil enthält zwar nicht die ausdrückliche Feststellung, daß sie als Ehefrau mit ihm zur Zeit seines Todes in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, doch gehen beide Beteiligten offenbar von diesem Tatbestand (§ 614 RVO aF) aus. Das kann aber, wie sich im folgenden ergeben wird, letztlich ebenso dahinstehen wie die Entscheidung der Frage, ob sich die in dieser Vorschrift angeordnete Rechtsnachfolge überhaupt auf Ansprüche der Art, wie sie die Klägerin geltend macht, erstreckt, oder ob sie auf bereits zu Lebzeiten des Versicherten beantragte Leistungen beschränkt ist.
Die Rentenansprüche des gestorbenen Ehemannes der Klägerin (Lebzeitenrente) beruhen auf dem unter der Herrschaft der Verfahrensvorschriften der RVO ergangenen Dauerrentenbescheid der Beklagten vom 17. August 1951, der in materielle, Rechtskraft übergegangen und damit auch für den Versicherten - und gegebenenfalls seine Rechtsnachfolger - bindend geworden ist. Diese Bindungswirkung umfaßt auch die Höhe des JAV, aus dem sich ja in Verbindung mit der festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) die Höhe der Rente unmittelbar ergibt. Die im Rechtsgebiet der gesetzlichen UV geltenden Vorschriften, die eine Durchbrechung der Bindungswirkung förmlicher Feststellungsbescheide gestatten, greifen im vorliegenden Falle nicht durch. Die Voraussetzungen für die Anwendung des hierzu gehörenden § 1744 RVO liegen, wie das SG zutreffend erkannt hat, nicht vor.
Auch sind wesentliche Änderungen in den für die Feststellung der Entschädigung maßgeblich gewesenen Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO aF nur in Form der Verschlimmerung der anerkannten Leiden eingetreten und von der Beklagten jeweils durch entsprechende Erhöhung der MdE berücksichtigt worden; der im Dauerrentenbescheid festgestellte JAV wurde dadurch nicht berührt.
Auch § 619 RVO aF kann im vorliegenden Fall nicht - auch nicht in der nunmehr anzuwendenden Fassung des § 627 RVO - zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis führen. Nach dieser Vorschrift hat der Versicherungsträger die Leistung neu festzustellen, wenn er sich bei erneuter Prüfung davon überzeugt, daß die Leistung zu Unrecht ganz oder teilweise abgelehnt, entzogen oder eingestellt worden ist. Unterstellt man, daß die Beklagte von der Unrichtigkeit des zunächst angenommenen und der Richtigkeit des später ermittelten JAV überzeugt ist, so kann von diesen Alternativen hier überhaupt nur die der "teilweisen Ablehnung" einer Leistung in Betracht kommen. Auch wenn man es hierfür schon genügen läßt, daß die Leistung niedriger festgestellt worden ist, als es der objektiv richtigen Sach- und Rechtslage entsprochen hätte, ist dieser Tatbestand hier nicht gegeben. Denn dem Ehemann der Klägerin ist die Rente - übrigens entsprechend seinen eigenen Angaben - nach einem JAV berechnet worden, der nicht niedriger, sondern höher war als der nach Überprüfung nunmehr für richtig befundene. Selbst bei großzügigster Auslegung kann aber von der teilweisen Ablehnung einer Leistung nicht die Rede sein, wenn die Leistung höher als objektiv richtig festgestellt worden ist.
Nun ist allerdings durch das "Gesetz zur vorläufigen Neuregelung von Geldleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung" vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1071) insoweit eine Änderung eingetreten, als infolge der hier in den §§ 1, 2 angeordneten Umstellung der Geldleistungen der festgestellte JAV geringer geworden ist als der "richtige" JAV, weil nämlich die JAV bei Unfällen aus 1944 nur mit 2, bei Unfällen aus 1945 - 1947 hingegen mit 2,4 vervielfacht wurden. Dabei handelte es sich indessen entsprechend dem vorläufigen Charakter der Regelung nur um eine rein schematische Umstellung, bei der nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift der "der Geldleistung zugrunde gelegte" JAV zu vervielfachen war. Diese Umstellung selbst ist von der Beklagten also richtig durchgeführt und von dem Berechtigten, der auch keine Erteilung eines schriftlichen Bescheides hierüber beantragt hat (§ 10 d. oa Gesetzes), nicht beanstandet worden. Die Umstellungsmitteilung enthält ebensowenig eine "Ablehnung" wie der Dauerrentenbescheid selbst. Durch die Umstellung ist nur die von Anfang an objektiv unrichtige, zunächst für den Berechtigten aber günstige Feststellung des JAV nunmehr zu einer für ihn ungünstigen geworden.
Für diesen Fall enthält das Gesetz keine die Bindungswirkung förmlicher Bescheide aufhebende oder einschränkende ausdrückliche Vorschrift. Wollte man hier eine ausfüllungsbedürftige Gesetzeslücke annehmen, so käme zu ihrer Ausfüllung nur die entsprechende Heranziehung der Vorschriften über die Neufeststellung wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse in Betracht, weil es sich im vorliegenden Falle ja ebenfalls um die Berücksichtigung einer nachträglich, nämlich durch die Umstellung nach dem Gesetz vom 27. Juli 1957 zu Ungunsten des Versicherten eingetretenen Situation handelt. Eine solche entsprechende Anwendung könnte aber schon deshalb nicht zu dem von der Klägerin erstrebten Ergebnis führen, weil gemäß § 611 RVO aF eine hierauf beruhende Rentenerhöhung nur für die Zeit "nach Anmeldung des Anspruchs" verlangt werden kann, die Klägerin aber erst nach dem Tode ihres Ehemannes den Anspruch auf Erhöhung seiner Lebzeitenrente angemeldet hat. Das SG hat dazu festgestellt, daß vor dem Tode irgendwelche Maßnahmen in dieser Richtung nicht beantragt worden sind. Die Klägerin hat diese tatsächliche Feststellung des SG nicht frist- und formgerecht angegriffen, so daß der Senat daran gebunden ist (§§ 163, 164 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Da es sich ausschließlich um Leistungen für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung vom 30. April 1963 (UVNG) handelt, ist die inhaltliche Änderung der Vorschrift des § 611 aF (jetzt § 623 RVO) hier ohne Bedeutung.
Es bedarf im vorliegenden Falle auch keiner weiteren Erörterung, ob etwa der Berufung der Beklagten auf die bindende Wirkung ihres Bescheides gegenüber der Gegeneinwand unzulässiger Rechtsausübung durchgreifen könnte. Der Gesichtspunkt der besonderen Fürsorgepflicht der Versicherungsträger gegenüber ihren Versicherten kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil sich diese besondere Fürsorgepflicht zwar auf die Hinterbliebenen als solche, nicht aber auf die Rechtsnachfolger verstorbener Versicherter erstreckt; die Hinterbliebenenrente der Klägerin hat die Beklagte aber antragsgemäß erhöht. Von einem nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen sittenwidrigen Verhalten kann aber bei der Ablehnung des von der Klägerin erhobenen Anspruchs nicht die Rede sein. Selbst wenn man den Umstand außer Betracht läßt, daß die Beklagte dem verstorbenen Ehemann der Klägerin während des größeren Teils seiner Rentenbezugszeit eine zu hohe Rente - und zwar auf Grund seiner eigenen Angaben - gezahlt hat, kann man es ihr keinesfalls als sittenwidrig zurechnen, daß sie sich gegenüber einem ausschließlich auf Leistungen für die Vergangenheit gerichteten und noch dazu von einem Rechtsnachfolger des Geschädigten erhobenen Anspruch auf die Bindungswirkung ihrer Bescheide beruft.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen