Leitsatz (amtlich)

1. Ist ein Anspruch auf Rente wegen Staublungenerkrankung bindend abgelehnt worden, so kommt RVO § 611 S 1 aF (Leistung nur für die Zeit nach Anmeldung des Anspruchs) zur Anwendung, wenn wegen Verschlimmerung des Gesundheitszustands nach RVO § 608 aF erneut Rente wegen dieser Berufskrankheit beansprucht wird.

2. Der Tod des Berechtigten steht der Neufeststellung einer vorher ihm gegenüber zu Unrecht abgelehnten Leistung nach RVO § 619 aF zugunsten der Rechtsnachfolger nicht entgegen.

 

Normenkette

RVO § 608 Fassung: 1924-12-15, § 611 S. 1 Fassung: 1925-07-14, § 619 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 16. Dezember 1963 aufgehoben, soweit die Beklagte darin verurteilt wird, den Anspruch der Klägerin auf Entschädigung der Staublungenerkrankung ihres verstorbenen Ehemannes zu dessen Lebzeiten anzuerkennen und der Klägerin einen Bescheid über den Beginn der Entschädigungspflicht und die Höhe der Entschädigung zu erteilen. Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zur Hälfte zu erstatten.

 

Gründe

I

Der am 12. Oktober 1961 gestorbene Ehemann der Klägerin hatte bis 1951 im Bergbau gearbeitet. Er wurde antragsgemäß in den Jahren 1950 bis 1956 verschiedentlich auf Staublungenerkrankung untersucht. Die untersuchenden Ärzte stellten dabei eine Silikose I. - II. Grades fest, die noch nicht zu Ausfallerscheinungen an Atmung und Kreislauf geführt hätte. Das negative Ergebnis wurde jeweils dem Versicherten von der Beklagten formlos mitgeteilt. Auf Antrag des Versicherten erteilte ihm die Beklagte nach Anhörung des Staatlichen Gewerbearztes am 5. Juni 1956 den Bescheid, daß sein Anspruch auf Entschädigung wegen Berufskrankheit (Staublungenerkrankung) abgelehnt werde. In der Folgezeit wurde der Versicherte noch zweimal in den Jahren 1957 und 1958 auf Veranlassung der Beklagten untersucht und ihm das wiederum negative Ergebnis der Untersuchung formlos mitgeteilt.

Nach dem Tode des Versicherten beantragte die Klägerin die Leichenöffnung. Im Obduktionsgutachten kam Prof. Dr. ... zu dem Ergebnis, daß bei dem Verstorbenen zuletzt die Berufskrankheit Nr. 34 (Quarzstaublungenerkrankung) vorgelegen habe und daß sie auch als Teilursache des Todes anzusehen sei.

Es habe ein fokales Emphysem um ganz kleine Knötchen bestanden. Dieser Zustand sei im Röntgenbild bisweilen nicht zu erkennen. Aus diesem Grunde sei wahrscheinlich bei der Untersuchung im Jahre 1957 das Vorliegen einer Berufskrankheit noch nicht angenommen worden. Daneben sei es natürlich möglich, daß sich die silikotischen Veränderungen und vor allem das fokale Emphysem zwischen 1957 und 1961 verschlimmert hätten.

Die Beklagte hat der Klägerin zwar die Hinterbliebenenrente zuerkannt, ihren Antrag auf Neufeststellung einer Entschädigung für die Zeit vor dem Tode jedoch abgelehnt. Nach dem Tode eines Versicherten sei eine Neufeststellung von Lebzeitenansprüchen nach § 619 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht mehr möglich. Der Rentenanspruch sei höchstpersönlicher Natur und daher, wenn er nicht von dem Berechtigten selbst zu Lebzeiten noch erhoben worden sei, nicht vererblich. Der Widerspruch der Klägerin wurde zurückgewiesen.

Das Sozialgericht hat die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 30. Juli/1. August 1962 und 18. Oktober 1962 verurteilt, den Anspruch der Klägerin auf Entschädigung der Staublungenerkrankung ihres verstorbenen Ehemannes zu dessen Lebzeiten anzuerkennen und der Klägerin einen Bescheid über den Beginn der Entschädigungspflicht und die Höhe der Entschädigung bis zum 12. Oktober 1961 zu erteilen. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, der Anspruch des Ehemannes der Klägerin auf Entschädigung sei bereits zu dessen Lebzeiten entstanden, da er nach den Feststellungen im Obduktionsgutachten an einer Berufskrankheit gelitten und diese zu einer Minderung seiner Erwerbsfähigkeit geführt habe. Die bindenden Feststellungen im Bescheid vom 5. Juni 1956 ständen dem nicht entgegen, da sie sich ihrer Natur nach nur auf die Zeit vor Erlaß des Bescheides beziehen könnten.

Der Rentenanspruch sei als vermögenswertes Recht auch vererblich; Alleinerbin sei gemäß § 614 der RVO alter Fassung (aF) die Klägerin. Diese Vorschrift enthalte keine Einschränkung der Vererblichkeit noch nicht festgestellter Rentenansprüche. Während die Rentenversicherung vom Antragsgrundsatz beherrscht werde, gelte für die Unfallversicherung der Untersuchungsgrundsatz; auf die Antragstellung komme es hier also nicht an. Die besondere Regelung nach § 611 RVO aF und § 1546 RVO aF komme auf den vorliegenden Fall nicht zur Anwendung. Die höchstpersönliche Natur des Rentenanspruchs wirke sich, weil in der Unfallversicherung kein Antrag erforderlich sei, nur dahin aus, daß das Rentenrecht mit dem Tode des Berechtigten für die Zukunft ende. Auf die Frage der Vererblichkeit eines Neufeststellungsanspruchs nach § 619 RVO aF komme es hier nicht an, weil für die Zeit nach Erlaß des Bescheides vom 5. Juni 1956 keine bindende Feststellung getroffen worden, der Klageanspruch aber gerade auf diese Folgezeit abgestellt sei.

Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen. Mit der Sprungrevision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Ansprüche aus der Unfallversicherung seien höchstpersönliche und daher grundsätzlich unvererbliche Rechte. Die besondere Regelung einer Rechtsnachfolge in § 614 RVO aF und § 630 RVO nF treffe jedenfalls nicht auf diejenigen Fälle zu, in denen der Bezugsberechtigte selbst solche Ansprüche noch nicht erhoben habe. Das ergebe sich auch aus einem Vergleich mit der für die gesetzliche Rentenversicherung geltenden Vorschrift des § 1288 RVO, in der zwei Fälle getrennt behandelt würden; während Abs. 1 Ansprüche auf noch nicht ausgezahlte, aber bereits festgestellte Leistungen betreffe, behandele Abs. 2 Ansprüche auf Leistungen, die noch nicht festgestellt, aber von den Berechtigten selbst zu Lebzeiten bereits erhoben worden seien. Dabei sei es ohne Bedeutung, daß - anders als im Rentenrecht - die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung gemäß § 1545 RVO tunlichst von Amts wegen tätig werden müßten. Denn aus § 1546 RVO ergebe sich, daß in den Fällen, in denen der Versicherungsträger von sich aus keine Entschädigung feststelle, der Versicherte selbst aktiv werden müsse.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig. Angesichts der Verpflichtung der Beklagten, von Amts wegen tätig zu werden, könne es auf einen besonderen Antrag des Versicherten nicht ankommen. Der verstorbene Ehemann der Klägerin habe aber auch ständig eine Entschädigung wegen der Berufskrankheit begehrt, die ihm allerdings für die Zeit bis Juni 1956 bindend versagt worden sei. Danach habe er sich aber noch weiteren Untersuchungen unterzogen und so an der Feststellung mitgewirkt.

II

Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig und teilweise begründet.

1.) Durch den bindend gewordenen Bescheid vom 5. Juni 1956 ist der Anspruch des Versicherten auf Entschädigung wegen Silikose abgelehnt worden. Grundsätzlich erstreckt sich die bindende Wirkung eines solchen Bescheides auch auf die Folgezeit, allerdings mit der Einschränkung, daß dann eine neue Feststellung getroffen werden kann, wenn in den für die - positive oder negative - Feststellung maßgebenden Verhältnissen eine wesentliche Änderung eintritt (§ 608 RVO aF). Hat aber eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit im Juni 1956 noch nicht vorgelegen, so handelt es sich um eine solche "wesentliche Änderung der Verhältnisse", wenn im Oktober 1961 eine Quarzstaublungenerkrankung einwandfrei festgestellt worden ist. Hierbei ist es ohne Bedeutung, daß der Versicherungsfall der Silikose als Berufskrankheit überhaupt erst dann gegeben ist, wenn funktionelle Beeinträchtigungen von Atmung oder Kreislauf als Folgen der Staubeinlagerungen vorliegen. Der Fall, daß durch eine Verschlimmerung dieser Folgen erst eine Berufskrankheit begründet wird, ist insoweit nicht anders zu beurteilen als ein Fall, in dem durch die Verschlimmerung von Unfallfolgen erst eine meßbare Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) verursacht wird. Für die auf solcher "Verschlimmerung" beruhenden Ansprüche bestimmt aber § 611 Abs. 1 RVO aF, daß sie nur für die Zeit nach ihrer Anmeldung erhoben werden können. Zwar erwähnt diese Vorschrift ausdrücklich nur die "Erhöhung oder Wiedergewährung" der Rente. Jedoch muß sie nach der Gesetzessystematik sowie nach ihrem Sinn und Zweck auch für den Fall gelten, daß eine zunächst abgelehnte Rente infolge wesentlicher Änderung der Verhältnisse im Sinne einer Leidensverschlimmerung nunmehr zu gewähren ist (so RVA Rek.-E. v. 24.2.1906 zitiert im Handbuch der Unfallversicherung 1909 S. 534 Anm. 9; RVA GE 2726 - AN 1914, 621; Mitgl.-Komm. III Anm. 1, Moesle-Rabeling Anm. 3; Schulte-Holthausen Anm. 3; Schroeder-Strich Anm. 2; Lauterbach 2. Aufl. Anm. 2 zu § 611 RVO).

Da im vorliegenden Falle die Verschlimmerung erst nach dem Tode des Versicherten angemeldet worden ist, scheidet die Gewährung einer Rente für ihn also aus. Zwar ist der Versicherte nach dem bindend gewordenen Bescheid vom 5. Juni 1956 noch zweimal von Amts wegen untersucht worden, jedoch kann seine Mitwirkung bei der Untersuchung deshalb nicht als Anmeldung des Anspruchs im Sinne des § 611 RVO aF angesehen werden, weil er die formlose Mitteilung vom negativen Ausgang der Untersuchungen hingenommen hat, ohne Einwendungen zu erheben oder die Erteilung eines Bescheides zu verlangen. Die Änderung der Vorschriften über das Wirksamwerden der Neufeststellung auf Grund geänderter Verhältnisse durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 (UVNG) kann sich auf den vorliegenden Fall nicht mehr auswirken, weil es hier nur um Ansprüche für die Zeit vor dem Inkrafttreten des UVNG geht. Da zu Lebzeiten des Versicherten ein Verschlimmerungsantrag nicht mehr gestellt worden ist, steht die bindende Wirkung des ablehnenden Bescheides von 1956 einer Neufeststellung der Rente nach § 608 RVO aF entgegen.

2.) Ein Anspruch auf Lebzeitenrente könnte indessen begründet sein, wenn sich die Beklagte bei Überprüfung ihres Bescheides vom 5. Juni 1956 davon überzeugen würde, daß dieser Bescheid damals objektiv zu Unrecht ergangen wäre, daß also bereits damals eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit vorgelegen hätte, die nur wegen der Besonderheit des Krankheitsbildes von den Ärzten nicht erkannt werden konnte. Sie hätte dann nach § 619 RVO aF die zu Unrecht von ihr abgelehnte Leistung neu festzustellen. Eine solche rückwirkende Neufeststellung hätte zur Folge, daß im Zeitpunkt des Todes ein Entschädigungsanspruch des Versicherten bestanden hätte und auf den nach § 614 RVO aF Bezugsberechtigten übergegangen wäre. Der durch die Neufeststellung zu ersetzende Bescheid von 1956 ist auf ausdrücklichen Antrag des Versicherten selbst ergangen, so daß also das Argument der Beklagten, es fehle ein persönlicher Antrag des Versicherten, schon deshalb nicht durchgreifen könnte. Das Verfahren nach § 619 RVO aF selbst setzt aber keinen besonderen Antrag voraus.

Der Senat ist auch nicht der Auffassung, daß eine Neufeststellung nach § 619 RVO aF nur unmittelbar gegenüber demjenigen erfolgen könnte, dem durch den früheren Bescheid die Leistung zu Unrecht verweigert worden ist. Weder der Wortlaut der Vorschrift, noch ihr Sinn und Zweck, nämlich die Beseitigung nachträglich erkannten objektiven Unrechts, könnte eine solche einschränkende Auslegung hinreichend begründen. Durch § 619 RVO aF wird kein neuer materieller Anspruch begründet, sondern nur die Weiterverfolgung eines bereits früher erhobenen und zu Unrecht abgelehnten Anspruchs ermöglicht. Insoweit besteht eine wesentliche Ähnlichkeit mit dem Verfahren nach § 1744 RVO (Wiederaufnahme des Verfahrens). Hierzu hat das BSG bereits früher (BSG 6, 283) entschieden, daß nach dem Tode des Versicherten auch der Sonderrechtsnachfolger die neue Prüfung eines Rentenantrags gegenüber einem bindenden Bescheid beantragen kann. Der Senat erkennt keine stichhaltigen Gründe dafür, diese Möglichkeit bei dem Überprüfungsverfahren nach § 619 RVO aF auszuschließen. Es handelt sich in beiden Fällen letztlich um eine Fortsetzung des früheren, noch von dem ursprünglich Berechtigten selbst betriebenen Verfahrens. Daß aber ein bereits anhängiges Verfahren über Entschädigungsansprüche aus der Unfallversicherung nach dem Tode des Verletzten von dem Rechtsnachfolger, und zwar in erster Linie von dem Sonderrechtsnachfolger, fortgesetzt werden kann, ist anerkanntes Recht (s. BSG in SozR RVO § 614 Nr. 1 und 2).

Die zu § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV) ergangene Entscheidung vom 22. Januar 1965 (BSG 22, 210) steht dieser Auffassung nicht entgegen. Sie gründet sich ua auf den von § 619 RVO aF wesentlich verschiedenen Wortlaut dieser Vorschrift - es heißt dort: "Zugunsten des Berechtigten" in Abs. 1 und "Auf Antrag des Berechtigten" in Abs. 2 - und auf die besonderen Aufgaben gerade der Kriegsopferversorgung, die aber trotz weitgehender Ähnlichkeit nicht völlig mit denen der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) übereinstimmen; denn die Entschädigung der durch Arbeitsunfall Verletzten ersetzt - wenigstens teilweise - die privatrechtliche Haftpflicht der Unternehmer (vgl. §§ 898 ff RVO). Es widerspricht jedenfalls nicht dem Sinn und Zweck der Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn ein die Entschädigung zu Unrecht ablehnender Bescheid nach dem Tode des ursprünglich Berechtigten noch zugunsten seiner Rechtsnachfolger berichtigt wird.

3.) Wie oben zu II, 1.) ausgeführt, steht der Klägerin ein Leistungsanspruch auf Lebzeitenrente nicht zu. Das Urteil des SG war daher aufzuheben, soweit die Beklagte verurteilt wird, den Anspruch der Klägerin auf Entschädigung ihres verstorbenen Mannes zu dessen Lebzeiten anzuerkennen und ihr einen Bescheid über Beginn und Höhe der Entschädigung zu erteilen. Insoweit war die Klage abzuweisen. Das Urteil hat aber im Ergebnis zu Recht die Bescheide der Beklagten vom 30. Juli und 18. Oktober 1962 aufgehoben. Denn diese Bescheide sind im Ergebnis deshalb rechtswidrig, weil die Beklagte es darin ablehnt, überhaupt eine Überprüfung ihrer früheren Bescheide nach § 619 RVO aF vorzunehmen, indem sie - zu Unrecht - davon ausgeht, daß ein solches Verfahren nach dem Tode des ursprünglich Berechtigten nicht mehr möglich sei. Insoweit war daher die Revision zurückzuweisen. Die angefochtenen Bescheide inhaltlich aufzugliedern und ihre Aufrechterhaltung insoweit ausdrücklich auszusprechen, als ihnen auch die - berechtigte - Ablehnung des Leistungsanspruchs zu entnehmen ist, war nicht erforderlich, weil sich diese Folge notwendig schon aus der Klageabweisung ergibt.

Die Aufhebung der angefochtenen Bescheide hat zur Folge, daß die Beklagte nunmehr über den Antrag der Klägerin im Rahmen des § 619 RVO aF sachlich zu entscheiden haben wird, nachdem sich ihre einer sachlichen Prüfung entgegenstehende Rechtsansicht als unrichtig erwiesen hat. Diese Entscheidung kann durch das Gericht nicht vorweggenommen werden, da es nach § 619 RVO aF auf die - gerichtlich nur überprüfbare - Überzeugungsbildung der Beklagten ankommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380169

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