Leitsatz (amtlich)
RVO § 589 Abs 2 nF findet keine Anwendung, wenn der Tod des Versicherten bereits vor Inkrafttreten des UVNG (1963-07-01) eingetreten ist.
Orientierungssatz
Wie im bürgerlichen Recht gilt auch im Sozialversicherungsrecht der Grundsatz, daß Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, von der Rechtsänderung nicht betroffen werden, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach deutlich seinen Geltungsbereich auf diesen Sachverhalt erstreckt.
Normenkette
RVO § 589 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30; UVNG Art. 4 § 2 Abs. 1
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 2. Juni 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Klägerin erstrebt als Witwe ihres Ehemannes Franz S Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV). Ihr Ehemann bezog Rente wegen einer Berufskrankheit - Silikotuberkulose - und zwar zuletzt als Vollrente. Am 11. August 1957 stürzte er bei einem Verwandtenbesuch auf dem Anwesen seines Schwiegersohns von einer Leiter und starb am folgenden Tage. Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte einen Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente ab, weil der Tod nicht Folge der Berufskrankheit gewesen sei. Das Sozialgericht (SG) und das Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen. Das LSG hat festgestellt, daß bei dem Verstorbenen zwar keine Siliko-Tuberkulose, wohl aber eine Staublungenerkrankung (Silikose) vorgelegen habe. Er sei aber nicht unmittelbar an dieser Berufskrankheit gestorben, vielmehr sei der Tod eindeutig auf einen Schädelbasisbruch infolge des Sturzes von der Leiter zurückzuführen. Es sei nicht mit Gewißheit festzustellen, daß der Versicherte infolge eines Schwindelanfalls und nicht aus einem anderen Grunde - etwa wegen Fehltretens - gestürzt sei. Wenn man aber auch einen Schwindelanfall unterstelle, so sei es doch nicht hinreichend wahrscheinlich, daß dieser auf die Berufskrankheit zurückzuführen sei. Das LSG hat die Anwendung des § 589 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung (UVNG) vom 30. April 1963 auf den vorliegenden Fall deshalb abgelehnt, weil diese Vorschrift erst mit Wirkung vom 1. Juli 1963, also nach dem Tode des Ehemanns der Klägerin, in Kraft getreten sei.
Zwar gelte die Vorschrift nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auch für Arbeitsunfälle, die vor dem 1. Juli 1963 eingetreten sind, entscheidend sei hier aber nicht, daß der "Arbeitsunfall", sondern daß der "Versicherungsfall des Todes" bereits vor Inkrafttreten der neuen Vorschrift eingetreten sei.
Mit der Revision rügt die Klägerin ausschließlich die Nichtanwendung des § 589 Abs. 2 RVO nF auf den vorliegenden Fall. Nach dieser Vorschrift sei ihr Anspruch begründet; es sei nicht offenkundig, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen Tod und BK fehle. Für die rückwirkende Anwendung der Vorschrift könne nicht zwischen dem "Arbeitsunfall" und dem "Versicherungsfall" unterschieden werden. Da die Rückwirkungsvorschrift des Art. 4 § 2 allein auf Arbeitsunfälle (also auch auf Berufskrankheiten) Bezug nehme, sei es unerheblich, ob der spätere "Folgeunfall" vor oder nach dem 1. Juli 1963 eingetreten sei.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung des Urteils des SG Gelsenkirchen vom 24. November 1961 sowie des Bescheides der Beklagten vom 5. November 1959 die Beklagte zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, daß dort, wo die in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG aufgeführten Vorschriften neuen Rechts über den Arbeitsunfall hinaus noch den Eintritt einer besonderen Voraussetzung erforderten - so nach § 589 Abs. 2 RVO nF den Tod des infolge bestimmter Berufskrankheiten um 50 oder mehr vom Hundert (v. H.) in der Erwerbsfähigkeit beeinträchtigten Versicherten - dieses Ereignis nach Inkrafttreten des UVNG eingetreten sein müsse.
II.
Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.
Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Klägerin nach dem zur Zeit des Todes ihres Ehemannes geltenden Recht keine Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen UV zusteht, weil der Tod nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als Folge seiner Berufskrankheit angesehen werden kann. Es hat - von der Revision unbeanstandet - festgestellt, daß der Versicherte nicht unmittelbar an der Berufskrankheit gestorben, sondern der Tod eindeutig auf den Schädelbasisbruch infolge eines Sturzes zurückzuführen ist. Damit wollte es nicht nur sagen, daß dieser Sturz selbst nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch einen auf der Berufskrankheit beruhenden Schwindelanfall verursacht worden ist, sondern auch, daß die Berufskrankheit nicht gemeinsam mit dem Schädelbasisbruch den Tod wesentlich mitverursacht oder ihn um wenigstens ein Jahr vorverlegt hat. Das ergibt sich auch daraus, daß im "Tatbestand" des Urteils die Beurteilung des Sachverständigen Prof. di B, dem das LSG auch im übrigen folgt, wiedergegeben ist, wonach wahrscheinlich der Tod nach der schweren Kopfverletzung auch ohne das Vorliegen der Berufskrankheit zur gleichen Zeit und unter den gleichen Umständen eingetreten wäre und wonach die Berufskrankheit den Eintritt des Todes auch nicht wesentlich beschleunigt hat.
Das LSG hat auch zu Recht die Anwendung des § 589 Abs. 2 RVO nF auf den vorliegenden Fall abgelehnt. Nach dieser durch das UVNG mit Wirkung vom 1. Juli 1963 (Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG) in die RVO eingefügten Vorschrift steht dem Tod durch Arbeitsunfall der Tod eines Versicherten gleich, dessen Erwerbsfähigkeit durch die Folgen bestimmter Berufskrankheiten - darunter auch der Silikose und der Silikotuberkulose - um 50 oder mehr v. H. gemindert war. Unterstellt man, daß zur Zeit des Todes auch die durch Silikose - die zu Lebzeiten angenommene Silikotuberkulose lag ja nicht vor - bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mindestens 50 % ausmachte, so lagen die Voraussetzungen für die Gleichstellung vor. Ob man es im vorliegenden Fall als "offenkundig" ansehen könnte - das würde die Gleichstellung ausschließen -, daß der Tod mit der Berufskrankheit nicht in ursächlichem Zusammenhang stand, ist zumindest zweifelhaft. Es ist daher durchaus möglich, daß bei Anwendung des § 589 Abs. 2 RVO nF ein Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente begründet wäre.
Jedoch steht der Anwendung dieser Vorschrift entgegen, daß der Tod des Versicherten bereits sechs Jahre vor ihrem Inkrafttreten eingetreten ist.
Wie im bürgerlichen Recht gilt auch im Sozialversicherungsrecht der Grundsatz, daß Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, von der Rechtsänderung nicht betroffen werden, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach deutlich seinen Geltungsbereich auf diesen Sachverhalt erstreckt (BSG 16, 177/178). Zum anspruchsbegründenden Tatbestand für die hier im Streit befindliche Witwenrente gehört aber nach altem wie nach neuem Recht notwendig der - in Verbindung mit einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit stehende - Tod des Versicherten, durch den ja die Angehörigen erst zu "Hinterbliebenen" werden und ohne den Hinterbliebenenansprüche begrifflich nicht denkbar sind. Mit diesem Ereignis ist der Tatbestand aber auch - jedenfalls dem Grunde nach - vollständig und endgültig abgeschlossen. Eine danach eintretende Gesetzesänderung kann sich also, soweit sie die Beziehung des Todesfalls zu einem Arbeitsunfall (einer Berufskrankheit) betrifft, auf diesen Tatbestand nur dann erstrecken, wenn sich das neue Gesetz insoweit rückwirkende Kraft beilegt.
Entsprechend dem oben erwähnten Prinzip und dem Grundsatz, daß maßgeblicher Versicherungsfall in der gesetzlichen UV der Arbeitsunfall ist, bestimmt § 1 des Art. 4 (Übergangs- und Schlußvorschriften) UVNG, daß das Gesetz auf Arbeitsunfälle anzuwenden ist, die sich nach seinem Inkrafttreten ereignen. Hätte es der Gesetzgeber bei dieser Vorschrift belassen, so hätte das zur Folge gehabt, daß nicht nur die Altrentner von allen Leistungsverbesserungen des neuen Rechts ausgeschlossen worden wären, sondern auch auf neu eintretende Leistungsfälle, die auf "alte" Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten zurückgingen, noch für sehr lange Zeit das alte Recht anzuwenden wäre. Um dieses sicherlich unerwünschte Ergebnis zu vermeiden, ist anschließend in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG bestimmt, daß zahlreiche Vorschriften des neuen Rechts - darunter der hier einschlägige § 589 RVO nF - "auch" für Arbeitsunfälle gelten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten sind. Es handelt sich bei Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG also um eine Einschränkung der in § 1 aufgestellten grundsätzlichen Regelung. In diesem Zusammenhang gesehen, bedeutet sie nicht, daß die in ihr aufgeführten Vorschriften des neuen Rechts uneingeschränkt und ohne jede zeitliche Begrenzung rückwirkend anzuwenden wären, sondern nur, daß es der Anwendung dieser Vorschriften nicht entgegensteht, daß sich der Arbeitsunfall als zeitlich begrenztes Ereignis (entsprechend: der Eintritt der Berufskrankheit) bereits vor dem 1. Juli 1963 ereignet hat. Mit dieser Einschränkung gelten aber im übrigen auch für die genannten Vorschriften die allgemeinen Rechtsgrundsätze über den zeitlichen Geltungsbereich der Gesetze. Es handelt sich also bei Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG nicht eigentlich um eine echte Rückwirkungsbestimmung, sondern, wie der 2. Senat in seiner Entscheidung vom 30. Juni 1965 - 2 RU 175/63 - (BG 1965, 411) zur Anwendbarkeit des § 555 RVO nF ausgeführt hat, um eine Überleitungsvorschrift, deren Anwendung voraussetzt, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall (die Berufskrankheit) in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt. Ein solches "Hineinwirken" ist aber dann nicht mehr möglich, wenn der nach neuem Recht anspruchsbegründende Tatbestand - hier: Tod des Ehemanns beim Vorliegen einer bestimmten Berufskrankheit - bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts vollständig abgeschlossen war, ohne nach damals geltendem Recht auch nur dem Grunde nach einen Anspruch auf Witwenrente erzeugt zu haben. Die Übergangsvorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG hat also für § 589 Abs. 2 RVO nF nur dann Bedeutung, wenn sich der Todesfall nach dem Inkrafttreten des Gesetzes ereignet hat.
Diese Auslegung entspricht den allgemeinen Rechtsanwendungsgrundsätzen sowie der bisher geübten Gesetzgebungspraxis und verstößt auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (s. hierzu das o. a. Urteil des 2. Senats).
Dafür, daß mit Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG nicht eine zeitlich unbeschränkte und vollständige Rückwirkung aller dort aufgeführten Vorschriften angeordnet werden sollte, spricht auch die Begründung des Entwurfs zum UVNG (Drucksachen IV/120). Dort heißt es zu Art. 3 (= Art. 4 d. Ges.) § 2 Abs. 1:
Aus dem sozialen Zweck der Leistungen ergibt sich jedoch, daß die besonderen Voraussetzungen für die einzelnen Leistungsarten nach Inkrafttreten der Neufassung erfüllt werden müssen. Für den Sonderfall des Wiederauflebens der Rente einer wegen Wiederverheiratung abgefundenen Witwe oder Witwers ist dies in § 2 Abs. 2 (= Abs. 4 d. Ges.) ausdrücklich bestimmt, um etwaige Zweifel auszuschließen. Es gilt aber auch für die anderen Leistungen; z. B. soll das erhöhte Sterbegeld nur ausgezahlt werden, wenn der Tod nach Inkrafttreten der Neufassung eintritt.
Schließlich lassen sich auch aus dem besonderen Charakter des § 589 Abs. 2 RVO nF keine Gründe für eine rückwirkende Anwendung herleiten. Wenn diese Vorschrift auch wohl insbesondere den Zweck hat, das Verfahren bei Prüfung der Todesursache - auch aus Gründen der Pietät - zugunsten der Hinterbliebenen zu vereinfachen, so handelt es sich doch nicht um eine reine Verfahrensvorschrift, sondern gesetzestechnisch und praktisch jedenfalls insoweit um eine Vorschrift auch materiell-rechtlichen Inhalts, als durch sie ein neuer Tatbestand für Hinterbliebenenleistungen geschaffen und damit der Kreis der Leistungsberechtigten erweitert worden ist. Man kann endlich auch nicht sagen, diese neue Vorschrift beseitige einen auf Grund geläuterten Rechtsempfindens als so offenbar ungerecht und daher unerträglich empfundenen Zustand, daß anzunehmen sei, der Gesetzgeber habe sie zumindest auf alle noch nicht bindend abgeschlossenen Fälle angewandt wissen wollen.
Da sich somit eine Rückwirkung des § 589 Abs. 2 RVO nF auf vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Todesfälle weder aus den Übergangsbestimmungen noch aus dem Sinn des Gesetzes ergibt, kann diese Vorschrift auf den vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen. Dieses Ergebnis entspricht auch der überwiegenden Meinung im Schrifttum (Lauterbach Anm. 9 zu § 589 RVO; Haase-Koch Art. 4 § 2 UVNG Anm. 1; Noell-Breitbach Anm. 6 zu § 589 RVO; Schroeder-Printzen SozSich 1963, 264; Wickenhagen ZSR 1963, 325; Dorin Komp. 1965, 229; Middendorf Komp. 1965, 235; Krasney BG 1965, 409).
Die Revision der Klägerin ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen