Leitsatz (redaktionell)
Die Übergangsvorschrift des UVNG Art 4 § 2 Abs 1 hat für RVO § 589 Abs 2 nF nur dann Bedeutung, wenn sich der Todesfall nach dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1963-07-01 ereignet hat.
Normenkette
RVO § 589 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30; UVNG Art. 4 § 2 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. September 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten der Revisionsinstanz sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Kläger, Ehefrau und Kinder des Bergmanns Jakob H (Versicherter), begehren von der beklagten Berufsgenossenschaft Sterbegeld und Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV). Der Versicherte hatte wegen Staublungenerkrankung seit 1953 Unfallrente, zuletzt als Vollrente bezogen. Er ist am 20. November 1960 im Krankenhaus gestorben, nachdem er am 15. November wegen eines schweren Gallenblasenempyems mit Perforationsgefahr operiert worden und es einige Tage danach zu einem Darmverschluß durch Darmlähmung gekommen war. Die Beklagte lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenleistungen ab. Sozialgericht und Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen. Das LSG hat mit Rücksicht darauf, daß der Versicherte wegen einer Staublungenerkrankung die Vollrente bezogen hatte, zunächst geprüft, ob bereits aus diesem Grunde ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 589 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) begründet ist. Es hat jedoch die Anwendbarkeit dieser Vorschrift verneint, weil der Tod des Versicherten bereits vor dem Inkrafttreten des UVNG (1. Juli 1963) eingetreten war. Auf Grund neuen Rechtes könnten Leistungen grundsätzlich nur dann gewährt werden, wenn alle Leistungsvoraussetzungen erst nach dem Inkrafttreten erfüllt worden seien. Die durch Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG vorgeschriebene Rückwirkung des § 589 Abs. 2 RVO nF erstrecke sich nur auf das eine Tatbestandsmerkmal des Unfalls (Berufskrankheit). Der Versicherungsfall des Todes sei dagegen in die genannte Rückwirkungsvorschrift nicht einbezogen worden; insoweit müsse die allgemeine Rechtsregel gelten.
Nach dem zum Zeitpunkt des Todes geltenden Recht sei der Anspruch auf Hinterbliebenenrenten nicht gegeben; es habe sich nicht der Nachweis erbringen lassen, daß die Staublungenerkrankung des Versicherten rechtlich wesentliche Ursache seines Todes gewesen sei. Nach den insoweit übereinstimmenden ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten sei er an den Folgen eines postoperativen paralytischen Ileus gestorben. Es sei auch nicht wahrscheinlich, daß etwa ein gesunder Kreislauf mit den Folgen der Operation und mit der durch die Erkrankung hervorgerufenen Giftwirkung fertig geworden wäre. Sowohl Prof. L als auch Prof. W führten das Kreislaufversagen ursächlich in vollem Umfang auf die Darmlähmung zurück. Nach den Ausführungen von Prof. W sei mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die Darmlähmung auch ohne das Vorliegen einer schweren Silikose zum Tode geführt haben würde, als daß das postoperativ eingetretene Kreislaufversagen in einem solchen Fall einen anderen Ausgang gehabt hätte. Bei der Schwere des nach der Operation aufgetretenen Leidens sei der Standpunkt von Prof. H einleuchtend, daß der durch die Darmlähmung herbeigeführte Tod um nicht mehr als Stunden oder einen Tag, keinesfalls aber um ein Jahr vorverlegt worden sei. Die Auswirkungen der Silikose hätten beim Ableben des Versicherten im Vergleich zu den Folgen des eigentlich zum Tode führenden Leidens keine annähernd gleichwertige Rolle gespielt. In der wenige Tage nach der Operation eingetretenen Situation sei die Silikose mit ihren Auswirkungen - gemessen an der Schwere des paralytischen Ileus und dessen Folgen - in ihrer Bedeutung für den Organismus weitgehend in den Hintergrund gedrängt worden. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision rügen die Kläger die Nichtanwendung des § 589 Abs. 2 RVO nF. Die Auffassung des LSG, der Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach dieser Vorschrift könne nur dann begründet sein, wenn der Versicherte nach dem 30. Juni 1963 verstorben sei, finde im Gesetz keine Stütze. Die in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG vorgeschriebene Rückwirkung erstrecke sich nicht nur auf das Tatbestandsmerkmal des Unfalls oder der Berufskrankheit. Es sei auch kein Grund dafür ersichtlich, daß der Gesetzgeber die vor dem 1. Juli 1963 durch Arbeitsunfall in ihrer Erwerbsfähigkeit beschränkten Versicherten habe besser stellen wollen, als die Hinterbliebenen der vor diesem Zeitpunkt infolge Arbeitsunfalls verstorbenen Versicherten. Eine solche unterschiedliche Behandlung würde auch gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 29. September 1964, das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 13. September 1961 und den Bescheid der Bergbauberufsgenossenschaft aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin zu 1.) das Sterbegeld und Witwenrente sowie den Klägern zu 2.) - 5.) die Waisenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Insbesondere könne § 589 Abs. 2 RVO nF im vorliegenden Fall auch unter Berücksichtigung von Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG keine Anwendung finden. Zu dem Eintritt der Berufskrankheit trete hier noch als besondere Einzelvoraussetzung der Tod des Versicherten hinzu und diese Voraussetzung müsse unter der zeitlichen Herrschaft der neuen Vorschrift erfüllt worden sein. Denn diese Vorschrift stelle inhaltlich keine bloße Leistungsverbesserung dar, sondern schaffe einen neuen Kreis von Leistungsberechtigten.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision der Kläger ist zulässig, jedoch nicht begründet. Das LSG hat nach seinen von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen die Anspruchsberechtigung der Kläger nach dem bis zum 30. Juni 1963 geltenden Recht zutreffend verneint. Wie der Senat in seinem Urteil vom 14. Januar 1965 (SozR RVO § 542 aF Nr. 73) ausgeführt hat, ist eine Berufskrankheit als rechtlich wesentliche Teilursache des Todes auch dann anzusehen, wenn sie neben einem anderen Leiden den Tod des Versicherten in einem zumindest nicht unerheblichen Maße mitverursacht hat. Nach den oben wiedergegebenen Feststellungen des LSG liegt eine solche Mitverursachung hier jedoch nicht vor. Vielmehr ist der Tod des Versicherten unmittelbar durch die Folgen eines postoperativen paralytischen Ileus verursacht worden und es ist nicht wahrscheinlich, daß der Versicherte ohne die Schädigung durch seine Berufskrankheit etwa das andere Leiden überstanden haben würde. Das Leben des Versicherten ist durch das Vorliegen der Berufskrankheit auch nicht um mehr als Stunden oder einen Tag, keinesfalls aber um ein Jahr verkürzt worden. Mag daher auch die Berufskrankheit den Tod des Versicherten im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne vielleicht mitverursacht haben, so kommt dem doch keine rechtliche Bedeutung zu, weil sie den Tod nicht im medizinischen Sinne mindestens in einem erheblichen Maße mitverursacht hat (vgl. das oa Urteil).
Das LSG hat auch mit Recht die Anwendung des § 589 Abs. 2 RVO in der Fassung des UVNG auf den vorliegenden Fall abgelehnt, die möglicherweise zu einem für die Kläger günstigeren Ergebnis hätten führen können. Nach dieser Vorschrift steht nämlich der Tod eines Versicherten, dessen Erwerbsfähigkeit - wie hier - durch eine Silikose um mindestens 50 % gemindert war, dem "Tod durch Arbeitsunfall" gleich; das gilt nur dann nicht, wenn "offenkundig" ist, daß der Tod mit der BK nicht in ursächlichem Zusammenhang steht. Jedoch kann diese Vorschrift, die nach Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG mit Wirkung vom 1. Juli 1963 in Kraft getreten ist, hier nicht zur Anwendung kommen, weil der Versicherte bereits mehrere Jahre vor ihrem Inkrafttreten gestorben ist.
Wie im bürgerlichen Recht gilt auch im Sozialversicherungsrecht der Grundsatz, daß Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, von der Rechtsänderung nicht betroffen werden, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach deutlich seinen Geltungsbereich auf diesen Sachverhalt erstreckt (BSG 16, 177/178). Zum anspruchsbegründenden Tatbestand für die hier in Streit befindlichen Hinterbliebenenleistungen gehört aber nach altem wie nach neuem Recht notwendig der - in Verbindung mit einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit stehende - Tod des Versicherten, durch den seine Angehörigen ja erst zu "Hinterbliebenen" werden und ohne den Hinterbliebenenansprüche begrifflich nicht denkbar sind. Mit diesem Ereignis ist der Tatbestand aber auch - jedenfalls dem Grunde nach - vollständig und endgültig abgeschlossen. Eine danach eintretende Gesetzesänderung kann sich also, soweit sie die Beziehung des Todesfalls zu einem Arbeitsunfall (einer Berufskrankheit) betrifft, auf diesen Tatbestand nur dann erstrecken, wenn sich das neue Gesetz insoweit rückwirkende Kraft beilegt.
Entsprechend dem oben erwähnten Prinzip und dem Grundsatz, daß maßgeblicher Versicherungsfall in der gesetzlichen UV der Arbeitsunfall ist, bestimmt § 1 des Art. 4 (Übergangs- und Schlußvorschriften) UVNG, daß das Gesetz auf Arbeitsunfälle anzuwenden ist, die sich nach seinem Inkrafttreten ereignen. Hätte sich der Gesetzgeber auf diese Vorschrift beschränkt, so hätte das zur Folge gehabt, daß nicht nur die Altrentner von allen Leistungsverbesserungen des neuen Rechts ausgeschlossen worden wären, sondern daß auch auf neu eintretende Leistungsfälle, die auf "alte" Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten zurückgingen, noch für sehr lange Zeit das alte Recht anzuwenden wäre. Um dieses sicherlich unerwünschte Ergebnis zu vermeiden, ist anschließend in Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG bestimmt, daß zahlreiche Vorschriften des neuen Rechts - darunter der hier einschlägige § 589 RVO n F - "auch" für Arbeitsunfälle gelten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten sind. Es handelt sich bei Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG also um eine Einschränkung des in § 1 aufgestellten Grundsatzes. In diesem Zusammenhang gesehen, bedeutet diese Vorschrift nicht, daß die in ihr aufgeführten Vorschriften des neuen Rechts uneingeschränkt und ohne jede zeitliche Begrenzung rückwirkend anzuwenden wären, sondern nur, daß es der Anwendung dieser Vorschriften nicht entgegensteht, daß sich der Arbeitsunfall als zeitlich begrenztes Ereignis (entsprechend: der Eintritt der Berufskrankheit) bereits vor dem 1. Juli 1963 ereignet hat. Mit dieser Einschränkung gelten aber im übrigen auch für die genannten Vorschriften die allgemeinen Rechtsgrundsätze über den zeitlichen Geltungsbereich der Gesetze. Es handelt sich also bei Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG nicht eigentlich um eine echte Rückwirkungsvorschrift, sondern, wie der 2. Senat in seiner Entscheidung vom 30. Juni 1965 - 2 RU 175/63 - (BG 1965, 411) zur Anwendbarkeit des § 555 RVO nF ausgeführt hat, um eine Überleitungsbestimmung, deren Anwendung voraussetzt, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt. Ein solches "Hineinwirken" ist aber dann nicht mehr möglich, wenn der nach neuem Recht anspruchsbegründende Tatbestand - hier: Tod des Ehemanns und Vaters beim Vorliegen einer bestimmten BK - bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts vollständig abgeschlossen war, ohne nach damals geltendem Recht auch nur dem Grunde nach einen Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen dieser Art erzeugt zu haben. Die Übergangsvorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG hat also für § 589 Abs. 2 RVO nF nur dann Bedeutung, wenn sich der Todesfall nach dem Inkrafttreten des Gesetzes ereignet hat.
Diese Auslegung entspricht, wie in dem oa Urteil des 2. Senats eingehend dargelegt ist, den allgemeinen Rechtsanwendungsgrundsätzen und der bisher geübten Gesetzgebungspraxis und verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Sie führt auch nicht - wie die Kläger meinen - zu einer grundsätzlich unterschiedlichen Behandlung von Versicherten und Hinterbliebenen; das zeigt gerade das o. a. Urteil, wonach auch das zusätzliche Tatbestandsmerkmal des § 555 RVO nF (Unfall auf dem Wege zum Arzt) nach dem Inkrafttreten des neuen Rechts erfüllt sein muß.
Dafür, daß mit Art. 4 § 2 Abs. 2 UVNG nicht eine zeitlich unbeschränkte und vollständige Rückwirkung aller dort aufgeführten Vorschriften angeordnet werden sollte, spricht auch die Begründung des Entwurfs zum UVNG (Drucksachen IV/120), wo zu Art. 3 (= Art. 4 d. Ges.) § 2 Abs. 1 aufgeführt ist:
Aus den sozialen Zweck der Leistungen ergibt sich jedoch, daß die besonderen Voraussetzungen für die einzelnen Leistungsarten nach Inkrafttreten der Neufassung erfüllt werden müssen. Für den Sonderfall des Wiederauflebens der Rente einer wegen Wiederverheiratung abgefundenen Witwe oder Witwers ist dies in § 2 Abs. 2 (= Abs. 4 d.Ges.) ausdrücklich bestimmt, um etwaige Zweifel auszuschließen. Es gilt aber auch für die anderen Leistungen; z. B. soll das erhöhte Sterbegeld nur ausgezahlt werden, wenn der Tod nach Inkrafttreten der Neufassung eintritt.
Schließlich lassen sich auch aus dem besonderen Charakter des § 589 Abs. 2 RVO nF keine Gründe für eine rückwirkende Anwendung herleiten. Wenn mit dieser Vorschrift auch wohl im wesentlichen der Zweck verfolgt wurde, das Verfahren bei Prüfung der Todesursache - auch aus Gründen der Pietät - zugunsten der Angehörigen zu vereinfachen, so handelt es sich doch gesetzestechnisch und praktisch jedenfalls insoweit um eine Vorschrift materiell-rechtlichen Inhalts, als durch sie ein neuer Tatbestand für Hinterbliebenenleistungen geschaffen und damit der Kreis der Leistungsberechtigten erweitert wurde. Man kann endlich auch nicht sagen, die Einführung dieser neuen Vorschrift beseitige einen auf Grund geläuterten Rechtsempfindens als so offenbar ungerecht und daher unerträglich empfundenen Zustand, daß anzunehmen sei, der Gesetzgeber habe sie zumindest auf alle noch nicht bindend abgeschlossenen Fälle rückwirkend angewandt wissen wollen.
Da sich somit eine Rückwirkung des § 589 Abs. 2 RVO nF auf vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Todesfälle weder aus den Übergangsbestimmungen noch aus dem Sinn des Gesetzes ergibt, kann diese Vorschrift auf den vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen. Dieses Ergebnis entspricht auch der überwiegenden Meinung im Schrifttum (Lauterbach Anm. 9 zu § 589 RVO; Haase-Koch, Art. 4 § 2 UVNG Anm. 1; Noell-Breitbach, Anm. 6 zu § 589 RVO; Schroeder-Printzen, SozSich 1963, 264; Wickenhagen, ZSR 1963, 325; Dorin Komp. 1965, 229; Middendorf Komp. 1965, 235; Krasney, BG 1965, 409).
Die Revision der Kläger war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Entscheidung ergeht im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 in Verbindung mit § 153 und § 165 SGG ohne mündliche Verhandlung.
Fundstellen