Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeitsrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung. Erfüllung der besonderen Wartezeit. Gleichstellung von Vermessungstechniker und Vermessungssteiger

 

Orientierungssatz

Bergvermessungstechniker und Vermessungssteiger können hinsichtlich der Erfüllung der besonderen Wartezeit gemäß RKG § 49 Abs 2 iVm HaVO § 5 Nr 5 zur Zuerkennung einer Bergmannsrente einander gleichgestellt werden, wenn sie sowohl unter als auch über Tage vergleichbare Tätigkeiten ausüben.

 

Normenkette

RKG § 45 Abs. 1 Nr. 2, § 49 Abs. 2; HaVO § 5 Nr. 5

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 14.12.1961)

SG Dortmund (Entscheidung vom 11.04.1961)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1961 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der am 3. Februar 1906 geborene Kläger arbeitete im Bergbau zunächst vom 9. Juni 1920 bis zum 28. Februar 1925 als Schichtlöhner über und unter Tage, danach vom 1. März 1925 bis zum 1. Mai 1929 34 Monate als Lehrhauer und 16 Monate als Hauer und anschließend bis zum 28. Februar 1941 als Kettenzieher (Meßgehilfe), wobei er als Zimmerhauer geführt wurde. Am 1. März 1941 wurde er als Angestellter in die Markscheiderei übernommen und war zunächst unter der Bezeichnung "Markscheidergehilfe", seit 1943 als "Bergvermessungstechniker" und seit 1953 als "1. Bergvermessungstechniker" tätig.

Am 12. September 1957 beantragte der Kläger die Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG). Mit Bescheid vom 15. Januar 1960 lehnte die beklagte Knappschaft den Antrag ab. Sie rechnete nur die 50 Monate Gedingezeit, nicht aber die Zeit der Tätigkeit in der Markscheiderei auf die besondere Wartezeit von 180 Monaten an, weil diese Tätigkeit nicht zu den hauergleichen Arbeiten i. S. der Hauerverordnung (HaVO) gehöre. Der gegen diesen Bescheid gerichtete Widerspruch wurde zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Dortmund erhoben. Durch Urteil vom 11. April 1961 hat das SG die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG ab 1. Januar 1957 zu zahlen. Das SG ist der Ansicht, daß der Kläger seit seiner Ernennung zum Markscheidergehilfen - 1. März 1941 - in vollem Umfang die gleiche Tätigkeit wie ein Vermessungssteiger ausgeführt habe.

Durch Urteil vom 14. Dezember 1961 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und hat die Revision zugelassen.

Das LSG ist wie das SG der Auffassung, daß auf die besondere Wartezeit von 180 Beitragsmonaten (§ 49 Abs. 2 RKG) auch die Zeit anzurechnen sei, während welcher der Kläger als Angestellter in der Markscheiderei überwiegend unter Tage beschäftigt gewesen ist. Der Kläger habe zwar nicht die Berufsbezeichnung "Vermessungssteiger" geführt, es komme aber nicht auf die Berufsbezeichnung, sondern allein auf die Art der Tätigkeit an. Die Tätigkeit, die der Kläger als Hilfskraft des Markscheiders in der Zeit vom 1. März 1941 bis zum 30. April 1956 verrichtet hat, habe voll und ganz der Tätigkeit eines Vermessungssteigers entsprochen. Es könne hierbei nicht genügen, daß eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit zwischen den zu vergleichenden Tätigkeiten vorliege, ebensowenig, daß etwa nur ein qualitativ abgegrenzter Teil der vermessungssteigerischen Tätigkeit verrichtet werde; vielmehr müsse die Identität der zu vergleichenden Tätigkeiten vollständig sein. Das gelte allerdings nur für die vermessungssteigerische Tätigkeit unter Tage, da die Tätigkeit über Tage für die Bewertung im Sinne der HaVO ohne Bedeutung sei. Der Kläger habe, obgleich er - abgesehen von der Teilnahme an einem kürzeren Lehrgang im Jahre 1941 - keine eigentliche Berufsausbildung erhalten und auch nicht die Berufsbezeichnung "Vermessungssteiger" geführt habe, dennoch die Tätigkeit eines Vermessungssteigers verrichtet, er habe auch für seine Messungen selbst die Verantwortung gegenüber dem Markscheider getragen. Er habe seine Messungen selbständig ausgeführt, und zwar auch solche, die Anspruch auf öffentlichen Glauben hätten, wie z. B. Nachtragsmessungen. Zum Vermessungssteiger sei er nicht befördert worden, weil er nicht die Bergschule absolviert habe. In der fraglichen Zeit habe es überhaupt nur in den Jahren 1954 und 1955 zwei Vermessungssteiger auf der Markscheiderei gegeben. Ihr Tätigkeits- und Verantwortungsbereich sei genau der gleiche wie der des Klägers gewesen. Für die beiden Schachtanlagen des Betriebes sei je ein 1. Vermessungssteiger dem Markscheider gegenüber verantwortlich gewesen, jedoch habe sich diese Verantwortlichkeit mehr auf die organisatorische Durchführung der Vermessungsaufgaben bezogen, nicht auf die einzelnen Vermessungen selbst. Wenn auch die Beschränkung der Beförderung zum Steiger auf solche Angestellten, die das Patent der Bergschule besaßen, zu dieser Zeit verständlich gewesen sei, so sei es doch glaubhaft, daß sich ausnahmsweise ein hierfür begabter und besonders interessierter Meßgehilfe während seiner Hilfstätigkeit die Kenntnisse, die für die Vermessungssteigertätigkeit erforderlich sind, ohne die besonders geregelte Ausbildung aneigne. Der Kläger habe in den Jahren 1941 bis Anfang 1956 auch mehr als die Hälfte seiner Arbeitszeit mit Untertagearbeiten verbracht. Während der Kriegsjahre habe er häufiger einfahren müssen als später. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Amerikaner sei für einen kurzen Zeitraum die Untertagetätigkeit etwas zurückgetreten. Alle zwei Jahre hätte der Kläger jeweils für 2 Monate nur Übertagearbeiten (Leit- und Schleifennivellements) verrichtet. Der Zeitraum, in dem der Kläger als Vermessungsangestellter die Tätigkeit eines Vermessungssteigers überwiegend unter Tage verrichtet habe, umfasse vom 1. März 1941 bis zum 30. April 1956 insgesamt 182 Monate. Da der Kläger vorher bereits im Gedinge 50 Monate Hauerarbeiten verrichtet hatte, könne dahinstehen, ob von diesen 182 Beitragsmonaten etwa einzelne Monate nicht angerechnet werden könnten; es käme hierfür praktisch nur eine gewisse Zeit nach dem Einmarsch der Besatzungstruppen in Frage, in der die Untertagearbeiten eingeschränkt worden seien, während die alle zwei Jahre aus betrieblichen Gründen erforderliche Beschäftigung mit Übertagearbeiten gemäß § 7 Nr. 3 HaVO als "vorübergehende sonstige Beschäftigung" ebenfalls den Hauerarbeiten unter Tage gleichgestellt sei. Die zur Erfüllung der besonderen Wartezeit nach § 49 Abs. 2 RKG erforderlichen 180 Monate Hauerarbeiten unter Tage oder diesen gleichgestellte Arbeiten lägen also beim Kläger vor.

Gegen dieses - am 27. Februar 1962 zugestellte - Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 20. März 1962, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 21. März 1962, Revision eingelegt und sie mit Schriftsatz vom 18. April 1962, eingegangen beim BSG am 21. April 1962, begründet.

Sie rügt die Verletzung des § 128 SGG, der §§ 45 Abs. 1 Nr. 2, 49 Abs. 2 RKG und des § 5 Nr. 5 HaVO. Die Auffassung des LSG, die streitige Zeit müsse nach § 5 Nr. 5 der HaVO berücksichtigt werden, da der Kläger die Tätigkeit eines Vermessungssteigers verrichtet habe, könne nicht überzeugen. Eine Gleichstellung des Markscheidergehilfen und des Bergvermessungstechnikers mit dem Vermessungssteiger sei in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht möglich.

Aus den von der Dortmunder Bergbau-AG eingereichten Unterlagen der Markscheiderabteilung der Schachtanlage Adolf von Hansemann gehe hervor, daß in der fraglichen Zeit neben dem Kläger noch zwei bzw. drei Vermessungssteiger tätig gewesen sind, so daß der Kläger als 2. Markscheidergehilfe bzw. als Bergvermessungstechniker nur Hilfskraft des verantwortlichen Vermessungssteigers gewesen sein könne. Dies ergebe sich auch aus den Bekundungen des Zeugen B, wonach die Vermessungssteiger den Kläger auch schon beauftragt hätten, Messungen durchzuführen. Er sei somit den Vermessungssteigern unterstellt gewesen. Der Kläger habe nicht die alleinige Gesamtverantwortung für seine Tätigkeit getragen, wie es bei den Vermessungssteigern der Fall sei. Dies liege auch im Wesen der unterschiedlichen Ausbildung. Die lange Ausbildung des Vermessungssteigers wäre wohl nicht erforderlich, wenn angelernte Kräfte die Tätigkeiten eines Vermessungssteigers in gleichem Maße wie dieser ausüben könnten.

Wenn das LSG unter Zugrundelegung der Aussagen der Zeugen B und H zu dem Schluß komme, der Kläger habe die Arbeiten eines Vermessungssteigers verrichtet, habe es die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten und § 128 Abs. 1 SGG verletzt. Da in § 5 HaVO die an anderer Stelle (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 3, § 3 Nr. 1 HaVO) festgelegte Fassung "mit gleicher Tätigkeit unter einer anderen Bezeichnung" fehle, sei die Anerkennung der Tätigkeit eines 2. Markscheidergehilfen und eines Bergvermessungstechnikers als der Hauerarbeit unter Tage gleichgestellte Arbeit nicht zulässig.

Sie beantragt,

das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. Dezember 1961 und das Urteil des SG Dortmund vom 11. April 1961 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die Verfahrensrügen der Beklagten nicht für durchgreifend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Denn der Auslegung des § 5 Nr. 5 der Verordnung über den Begriff der Hauerarbeiten unter Tage und der diesen gleichgestellten Arbeiten in der knappschaftlichen Rentenversicherung vom 4. März 1958 (BGBl I 137) - HaVO - durch das Berufungsgericht kann nicht in allen Punkten gefolgt werden.

Das Berufungsgericht geht zwar von der zutreffenden Ansicht aus, daß die HaVO eine abschließende Regelung enthält, daß es daher den Knappschaften und den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht möglich ist, den Kreis der in dieser VO aufgeführten Tätigkeiten zu erweitern. Das Berufungsgericht hat auch zutreffend ausgeführt, daß andererseits die Berufsbezeichnung und die Höhe des Entgelts allein nicht maßgebend für die Einreihung einer Tätigkeit in die HaVO sein können. Der erkennende Senat kann der Auffassung des Berufungsgerichts jedoch insoweit nicht folgen, als es nur die Untertagetätigkeit des Versicherten mit der eines in der HaVO Genannten verglichen hat. Es ist vielmehr erforderlich, daß der Versicherte die Stellung des in der HaVO Genannten, wie sie üblicherweise im Betrieb über und unter Tage vorkommt, uneingeschränkt und ausschließlich verrichtet (SozR HaVO Nr. 4 zu § 5, Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage i. S. Ruhrknappschaft ./. D -- 5 RKn 22/62 --).

Nun hat der erkennende Senat bereits anderweitig entschieden, daß ein in der HaVO Aufgeführter auch dann begünstigt wird, wenn er die genannte Tätigkeit zwar nicht ausschließlich, aber doch zumindest im wesentlichen ausschließlich ausübt; eine bloß unwesentliche Beschäftigung mit anderen Tätigkeiten ist unschädlich (Urteil vom 25. August 1965 i. S. St ./. Niederrhein. Knappschaft - 5 RKn 89/63 -). Das muß auch dann gelten, wenn es sich, wie im vorliegenden Falle, um die Frage handelt, ob ein Versicherter, der nicht die Berufsbezeichnung und das Entgelt eines in der HaVO Aufgeführten hat, wie ein solcher behandelt werden soll. Wenn daher oben gesagt ist, daß der Versicherte die Stellung eines in der HaVO Genannten uneingeschränkt und ausschließlich innegehabt haben muß, so heißt das unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes, daß eine nur unwesentliche Abweichung von dem Berufsbild eines in der HaVO Aufgeführten unschädlich ist.

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, daß die Tätigkeit, die der Kläger seit 1941 ausgeübt hat, nur dann als Vermessungssteigertätigkeit anerkannt werden kann, wenn er die Stellung eines überwiegend unter Tage beschäftigten Vermessungssteigers zumindest im wesentlichen uneingeschränkt und ausschließlich innegehabt hat. Da in aller Regel der Arbeiter und Angestellte die Stellung hat, die seiner Berufsbezeichnung und seinem Entgelt entspricht, müssen im Einzelfall überzeugende Gründe vorliegen, die es verständlich machen, daß er ausnahmsweise eine von seiner Berufsbezeichnung und seinem Entgelt abweichende Stellung innegehabt hat. Eine solche Ausnahme liegt vor, wenn ein Versicherter vor dem Zeitpunkt, in welchem im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau nach Abschluß einer geregelten Ausbildung erstmals Vermessungssteiger zur Verfügung standen (Herbst 1928), eine solche Tätigkeit ausgeübt hat. Das gilt auch für die folgende Zeit, während welcher auf der Zeche, auf der der Versicherte tätig war, noch keine Vermessungssteiger beschäftigt wurden. Insoweit kann der 1. Markscheidergehilfe und der 1. Vermessungstechniker im Einzelfall einem Vermessungssteiger in der Regel gleichgestellt werden. Es wäre aber andererseits ungewöhnlich, wenn eine Zeche nach der Einstellung von Vermessungssteigern, die eine geregelte Ausbildung genossen hatten, einem Versicherten, der die Ausbildung als Vermessungssteiger nicht durchlaufen hat, die Stellung eines Vermessungssteigers überträgt. Richtig ist zwar, daß in Einzelfällen von dieser Regel abgewichen worden sein kann, etwa wenn es sich um einen besonders tüchtigen und zuverlässigen Versicherten handelt, der z. B. wegen seines Alters die Bergschule nicht mehr besuchen konnte. Dieser Grund muß aber deutlich erkennbar sein, und außerdem muß erwiesen sein, daß der Versicherte tatsächlich zumindest im wesentlichen uneingeschränkt und ausschließlich die Stellung eines Vermessungssteigers gehabt hat. Die Zeit dagegen, während welcher ein Versicherter nur als Markscheidergehilfe und Vermessungstechniker, nicht aber als 1. Markscheidergehilfe und 1. Vermessungstechniker geführt worden ist, kann in der Regel nicht als Tätigkeit eines Vermessungssteigers anerkannt werden. Jedenfalls sind insofern besonders strenge Anforderungen an den Nachweis zu stellen, daß der Versicherte trotz anderer Berufsbezeichnung die Arbeiten eines Vermessungssteigers verrichtet hat.

Das Berufungsgericht hat bei der Beurteilung der vom Kläger seit dem 1. März 1941 ausgeübten Tätigkeit nur seine Untertagetätigkeit mit der üblichen Untertagetätigkeit eines Vermessungssteigers verglichen, ohne der Frage nachzugehen, welche Arbeiten er über Tage verrichtet hat und ob es sich dabei um Tätigkeiten gehandelt hat, die sonst von einem Vermessungssteiger verrichtet werden. Die Revision der Beklagten ist daher begründet. Eine eigene Entscheidung konnte der Senat in der Sache nicht treffen, da es an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen mangelt. Der Senat konnte als Revisionsgericht diese Feststellungen nicht selbst treffen und daher auch nicht prüfen, ob die erhobenen Beweise die Feststellung rechtfertigen, daß der Kläger auch über Tage im wesentlichen die Stellung des Vermessungssteigers gehabt hat. Da die Revision schon wegen dieser materiellen Rechtsverletzung begründet ist, bedurfte es keiner Prüfung, ob die Verfahrensrügen der Beklagten durchgreifen.

Das Urteil des LSG ist nach alledem aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297076

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