Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Versäumung der Revisionseinlegungsfrist. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Rechtsanwaltsverschulden. Fristberechnung. Berechnung von Routinefristen durch Büropersonal. Revisionsverfahren keine Routineangelegenheit
Orientierungssatz
1. Zu den Routinefristen, deren Feststellung und Berechnung gut ausgebildetem und sorgfältig beaufsichtigtem Büropersonal überlassen werden darf, gehört die in Verfahren vor dem BSG zu beachtende Rechtsmittelfrist im Allgemeinen nicht.
2. Die Führung von Revisionsverfahren ist für Rechtsanwälte typischerweise keine Routineangelegenheit. Daher kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, dass ihrem Büropersonal die teilweise voneinander abweichenden Regelungen des Revisionsverfahrensrechts der einzelnen Verfahrensordnungen hinreichend vertraut sind (vgl BSG vom 7.7.1999 - B 3 P 4/99 R = SozR 3-1500 § 67 Nr 13; offengelassen vgl BSG vom 29.4.2014 - B 10 ÜG 5/13 R ; zur Revisionsbegründungsfrist vgl BSG vom 28.12.1999 - B 6 KA 18/99 R = SozR 3-1500 § 67 Nr 15; zur Nichtzulassungsbeschwerdefrist vgl BSG vom 27.7.2005 - B 11a AL 93/05 B ).
3. Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde nicht zur Entscheidung angenommen ( BVerfG 1. Senat 1. Kammer vom 2.2.2023 - 1 BvR 1569/18 ).
Normenkette
SGG § 164 Abs. 1 S. 1, § 67 Abs. 1, 2 S. 2, § 73 Abs. 6 S. 7; ZPO § 85 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. Dezember 2015 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Erhebung des Beitragszuschlags für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung.
Die beklagte Pflegekasse lehnte den Antrag des Klägers auf Erstattung gezahlter Beitragszuschläge für Kinderlose ab (Bescheid vom 7.2.2014; Widerspruchsbescheid vom 10.4.2014). Das SG Mainz hat der Klage teilweise stattgegeben (Urteil vom 21.4.2015). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG Rheinland-Pfalz die Klage insgesamt abgewiesen (Urteil vom 10.12.2015). Das Berufungsurteil ist dem Kläger am 22.12.2015 zugestellt worden. Die Prozessbevollmächtigten des Klägers haben am 29.1.2016 per Telefax mit Schriftsatz vom selben Tag Revision eingelegt.
Der Kläger begehrt Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Revision und rügt in der Sache die Verletzung des § 55 Abs 3 S 2 SGB XI.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. Dezember 2015 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 21. April 2015 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist als unzulässig zu verwerfen (§ 169 S 2 SGG), weil sie nicht fristgemäß eingelegt worden ist (dazu 1.) und ein Wiedereinsetzungsgrund nicht vorliegt (dazu 2.).
1. Die Revision ist bei dem BSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich einzulegen (§ 164 Abs 1 S 1 SGG). Da das angegriffene Urteil des LSG dem Kläger am 22.12.2015 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt worden ist, hätte die Revision bis zum 22.1.2016 bei dem BSG eingehen müssen. Die Revisionsschrift ist aber erst am 29.1.2016 und damit verspätet eingegangen.
2. War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs 1 S 1 SGG). Dabei sollen die Tatsachen zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs 2 S 2 SGG). Das Verschulden eines Prozessbevollmächtigten steht dem des Beteiligten selbst gleich (§ 73 Abs 6 S 7 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO). Ohne Verschulden iS des § 67 Abs 1 SGG ist eine Frist nur versäumt, wenn der Beteiligte diejenige Sorgfalt angewendet hat, die einem gewissenhaft Prozessführenden nach den gesamten Umständen zuzumuten ist (BSG Urteil vom 7.10.2004 - B 3 KR 14/04 R - SozR 4-1750 § 175 Nr 1 RdNr 15; BSG Beschluss vom 21.8.2000 - B 2 U 230/00 B - SozR 3-1500 § 67 Nr 19, jeweils mwN). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
Der Kläger macht zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrags geltend, die mit der Bearbeitung des Posteingangs in der von ihm für das Revisionsverfahren mandatierten Rechtsanwaltssozietät betraute Rechtsanwaltsfachangestellte habe seine Sache mit einer vom LSG ebenfalls am 10.12.2015 verhandelten und entschiedenen Parallelsache, für die bereits eine Revisionsfrist im anwaltlichen Fristenkalender notiert gewesen sei, verwechselt. Die betreffende Mitarbeiterin habe das Vorliegen von Parallelverfahren nicht erkannt und daher keine weitere Frist notiert. Da sich die bisher mit der Eintragung und Überwachung der Fristen betraute Mitarbeiterin als überaus sorgfältig erwiesen habe, hätten seine Prozessbevollmächtigten keine Veranlassung gehabt, die Eintragung im Fristenkalender infrage zu stellen. Mit diesem Vortrag ist ein Wiedereinsetzungsgrund nicht dargetan.
Zwar hat ein Rechtsanwalt grundsätzlich nicht für Versäumnisse seines Büropersonals einzustehen. An einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten fehlt es daher, wenn er darlegen kann, dass ein Büroversehen vorliegt und er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat. Ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine Büroangestellte, die sich bisher als zuverlässig erwiesen hat, eine konkrete Einzelanweisung befolgt und ist deshalb im Allgemeinen nicht verpflichtet, sich anschließend über die Ausführung zu vergewissern (BSG Beschluss vom 1.11.2017 - B 14 AS 26/17 R - Juris RdNr 5 f mwN). Dem Kläger ist aber ein ihm zuzurechnendes Organisationsverschulden seiner Prozessbevollmächtigten zur Last zu legen. Ein solches Organisationsverschulden ist gegeben, wenn die Nichteinhaltung einer Frist darauf beruht, dass versäumt worden ist, durch eine zweckmäßige Büroorganisation, insbesondere hinsichtlich der Fristen- und Terminüberwachung und der Erledigungs- und Ausgangskontrolle, ausreichende Vorkehrungen zur Vermeidung von Fristversäumnissen zu treffen. Delegierbar sind nur Routineangelegenheiten. Die Berechnung von Fristen, die nicht zu den Routinefristen gehören, muss der Rechtsanwalt selbst übernehmen (BSG aaO RdNr 6 f mwN). Zu den Routinefristen, deren Feststellung und Berechnung gut ausgebildetem und sorgfältig beaufsichtigtem Büropersonal überlassen werden darf, gehört indes die in Verfahren vor dem BSG zu beachtende Rechtsmittelfrist im Allgemeinen nicht.
Die Führung von Revisionsverfahren ist für Rechtsanwälte typischerweise keine Routineangelegenheit. Daher kann regelmäßig nicht davon ausgegangen werden, dass ihrem Büropersonal die teilweise voneinander abweichenden Regelungen des Revisionsverfahrensrechts der einzelnen Verfahrensordnungen hinreichend vertraut sind (BSG Beschluss vom 7.7.1999 - B 3 P 4/99 R - SozR 3-1500 § 67 Nr 13 S 40; offengelassen in BSG Beschluss vom 29.4.2014 - B 10 ÜG 5/13 R - Juris RdNr 6; vgl zur Revisionsbegründungsfrist BSG Beschluss vom 28.12.1999 - B 6 KA 18/99 R - SozR 3-1500 § 67 Nr 15 S 43 f; zur Nichtzulassungsbeschwerdefrist BSG Beschluss vom 27.7.2005 - B 11a AL 93/05 B - Juris RdNr 4). So ist die Revision innerhalb eines Monats nach Zustellung der angegriffenen Entscheidung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entweder beim Vordergericht oder beim Revisionsgericht einzulegen (§ 139 Abs 1 S 1 und 2 VwGO), nach den übrigen Verfahrensordnungen hingegen beim Revisionsgericht (§ 164 Abs 1 S 1 SGG; § 549 Abs 1 S 1 ZPO; § 120 Abs 1 S 1 FGO; § 72 Abs 5 ArbGG iVm § 549 Abs 1 S 1 ZPO). Darüber hinaus sehen allein das zivil- und das arbeitsgerichtliche Verfahren eine "Höchstfrist" für die Revisionseinlegung von fünf Monaten nach der Verkündung vor (§ 548 ZPO; § 74 Abs 1 S 2 ArbGG). Nach einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beginnt im sozialgerichtlichen Verfahren mit der Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision die Revisionseinlegungsfrist (§ 164 Abs 1 S 1 iVm § 160a Abs 4 S 1 oder § 161 Abs 3 S 2 SGG; nur zur Sprungrevision ebenso § 134 Abs 3 S 2 VwGO; § 76 Abs 3 S 2 ArbGG), während nach den übrigen Verfahrensordnungen das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde mit der Zulassung der Revision als Revisionsverfahren fortgesetzt wird (§ 139 Abs 2 VwGO; § 544 Abs 6 ZPO; § 72a Abs 6 ArbGG; § 116 Abs 7 FGO; entsprechendes gilt auch für die im Zivilprozess beim Revisionsgericht zu beantragende Zulassung der Sprungrevision, § 566 Abs 7 ZPO). Schließlich wird zwischen der Revisionseinlegungs- und der Revisionsbegründungsfrist unterschieden (§ 164 Abs 1 S 1, Abs 2 S 1 und 2 SGG; § 139 Abs 1 S 1 und 2, Abs 3 S 1 und 3 VwGO; § 120 Abs 1 S 1, Abs 2 S 1 und 3 FGO; §§ 548, 551 Abs 2 S 2 bis 6 ZPO; § 74 Abs 1 ArbGG). Dass dem Büropersonal der Prozessbevollmächtigten des Klägers diese unterschiedlichen Verfahrensregelungen vertraut sind und damit für sie die hier einschlägige Revisionseinlegungsfrist des § 164 Abs 1 S 1 SGG eine Routinefrist wäre, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Ob der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch deshalb ohne Erfolg bleiben muss, weil zudem nicht dargetan ist, dass und weshalb die von den Prozessbevollmächtigten des Klägers mit der Eintragung und Überwachung von Fristen betraute Mitarbeiterin hinreichend qualifiziert wäre, kann daher dahinstehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
NZA 2018, 1466 |
NZS 2018, 999 |