Leitsatz (amtlich)

In den unter polnischer Verwaltung stehenden Ostgebieten stellt eine von der Besatzungsmacht im Jahre 1946 verlangte, unentgeltlich geleistete Hausarbeit einer Frau in einem polnischen Haushalt keine mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängende besondere Gefahr im Sinne des BVG § 5 Abs 1 Buchst d dar. Eine bei solcher Hausarbeit erlittene Gesundheitsschädigung ist deshalb nicht als durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung herbeigeführt( BVG § 1 Abs 2 Buchst a) anzusehen.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. April 1956 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die am 19. März 1883 geborene Klägerin wohnte seit der Zerstörung ihrer Wohnung in Berlin im Jahre 1944 bei ihrer Schwester in Swinemünde/Pommern. Nach der Besetzung der Stadt im Frühjahr 1945 betreute sie zunächst ein Kind von Nachbarn; später mußte sie für Polen Hausarbeiten verrichten. Im Dezember 1946 verletzte sie sich bei der Arbeit an der rechten Hand; sie wurde deswegen ärztlich versorgt. Im Mai 1947 kehrte sie nach Berlin zurück. Wegen der Verletzungsfolgen besteht eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v.H.

Die Klägerin machte in ihrem beim Versorgungsamt (VersorgA.) am 11. August 1952 eingegangenen Rentenantrag geltend, daß sie sich die Verletzung beim Sägen von Holz zugezogen habe. Sie legte eine eidesstattliche Versicherung der Frau Hertha St... vor, in der diese Angaben bestätigt wurden. Das VersorgA. II Berlin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 24. Juni 1953 ab, weil die Klägerin nicht interniert gewesen sei. Der Einspruch blieb erfolglos (Entscheidung des Landesversorgungsamtes Berlin vom 18.9.1953).

Das Sozialgericht (SG.) Berlin hat die Klage durch Urteil vom 8. Februar 1955 abgewiesen: Die Tatsache, daß die Klägerin in Swinemünde Hausarbeit habe verrichten müssen, sei nicht charakteristisch für den Zustand der militärischen Besetzung. Eine Schädigung durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung liege nicht vor.

Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG.) Berlin hat die Zeugin Hertha St... u.a. ausgesagt, ihr sei nicht bekannt, daß sich die Klägerin beim Hacken oder Sägen von Holz verletzt habe. Die Klägerin habe u.a. Fische zum Verzehr hergerichtet. Eines Tages habe sie ihr erzählt, daß sie sich bei ihren Arbeiten die Finger der rechten Hand verletzt habe. Das LSG. hat die Berufung durch Urteil vom 20. April 1956 zurückgewiesen: Die Klägerin sei weder interniert gewesen noch durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung geschädigt worden. Die polnische Besatzungsmacht habe zwar die deutsche Zivilbevölkerung zu unentgeltlichen Arbeiten herangezogen. Darin sei aber keine mit der Besetzung zusammenhängende besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zu erblicken. Die Klägerin habe die für sie als Hausfrau nicht ungewohnten Hausarbeiten freiwillig und in ihrem eigenen Interesse ausgeführt, um sich das Wohnrecht in der Wohnung ihrer Verwandten zu sichern, und weil sie wegen ihres Alters und ihrer körperlichen Beschaffenheit keine lohnbringende Arbeit habe verrichten können. Die Gefahr einer körperlichen Verletzung sei für sie bei ihren Arbeiten im Haushalt durch die Verhältnisse der Besatzung nicht erhöht worden. Sie habe daher keinen Anspruch auf Versorgung. Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin rügt mit den Revision die Verletzung der §§ 1 Abs. 2 Buchst. a, 5 Abs. 1 Buchst d BVG, 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die von ihr geleistete ungewohnte Arbeit sei im Hinblick auf ihr Alter und ihren Gesundheitszustand geeignet gewesen, eine besondere Gefährdung zu begründen. Im Gegensatz zur Ansicht des Berufungsgerichts sei es für die Entscheidung wesentlich, ob sie sich bei Holzarbeiten oder beim Zurechtmachen von Fischen verletzt habe. Das LSG. hätte den Sachverhalt genau aufklären müssen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil und die diesem zugrunde liegenden Vorentscheidungen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Verlust des Mittelfingers der rechten Hand und die Versteifung der rechten Hand als Schädigungsfolge anzuerkennen und vom 1. Juli 1952 an Rente nach einer Minderung um 30 v.H. zu gewähren;

hilfsweise: die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig.

Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Das BVG ist im Revisionsverfahren nachprüfbares Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG, weil das Land Berlin dieses Gesetz inhaltsgleich durch das Gesetz über die Versorgung der Opfer des Kriegs vom 12. April 1951 (GVBl. für Berlin S. 317) übernommen hat (BSG. 2 S. 106 [108]; 1 S. 98 [100, 101] und S. 189 [190, 191].

Das LSG. hat festgestellt, daß die persönliche Freiheit der Klägerin während ihres Aufenthalts in Swinemünde nach der Besetzung der Stadt durch die Russen und Polen nicht beschränkt war. Sie konnte sich frei bewegen. Nachdem sie zunächst freiwillig ein Kind von Nachbarsleuten betreut hatte, mußte sie lediglich für die Polen unentgeltlich Hausarbeiten verrichten. Eine Internierung wegen deutscher Staatsangehörigkeit in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden Gebieten im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst c BVG lag daher nicht vor.

Die Verletzung der Klägerin ist auch nicht durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung verursacht worden. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung schädigende Vorgänge, die u.a. infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Allerdings genügt, wie der erkennende Senat im Anschluß an BSG. 2 S. 99 (103) und 4 S. 234 (236) bereits entschieden hat, ein Zusammenhang des schädigenden Vorgangs mit der Besetzung allein nicht. Vielmehr muß der schädigende Vorgang durch eine Gefahr herbeigeführt sein, die der militärischen Besetzung deutschen Gebiets im zweiten Weltkrieg unter Berücksichtigung ihrer seitlichen und örtlichen Besonderheiten eigentümlich war. Denn die Einfügung des Wortes "besondere" vor dem Wort "Gefahr" bedeutet eine Einschränkung des zu berücksichtigenden Gefahrenkreises. Gefahren, die ihrer Art nach etwa in ähnlicher Weise hätten eintreten können, wenn das deutsche Reich nicht besetzt gewesen wäre oder wenn nach der Besetzung eine deutsche Verwaltung fortbestanden hätte, sollten als Versorgungsgrund ausgeschlossen werden, selbst wenn im Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Besetzung und einem schädigenden Vorgang vorliegt (Urt. des 8. Senats vom 26.4.1957, BSG. 5 S. 116 und vom 26.6.1957 - 8 RV 31/56 -). Die Ansicht des LSG., daß die Verletzung der Klägerin nicht mit einer der Besetzung eigentümlichen Gefahr in ursächlichem Zusammenhang stehe, begegnet keinen Bedenken. Die militärische Besetzung deutschen Gebiets hat zwar für die deutsche Zivilbevölkerung mancherlei Gefahren mit sich gebracht. Hierzu gehören nicht nur Gewalttätigkeiten und Willkürakte gegen Einzelpersonen, sondern auch allgemeine Maßnahmen der Besatzungsmächte gegen deutsche Zivilisten. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 26. Juni 1957 - 8 RV 31/56 - ausgeführt hat, konnte z.B. eine "besondere Gefahr" im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG für die deutsche Zivilbevölkerung in den von den Russen besetzten, unter polnischer Verwaltung gestellten Ostgebieten, darin bestehen, daß die Besatzungsmacht kranke, arbeitsunfähige oder wesentlich arbeitsbeschränkte Deutsche bei unzureichender Ernährung ohne Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand zu Arbeitsleistungen gezwungen hat, die ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit, ihrem Lebensalter, ihrer körperlichen Beschaffenheit und ihrem Gesundheitszustand nicht entsprachen. Der Senat ist in dem angeführten Urteil zu diesem Ergebnis aus der Erwägung gelangt, daß ein solcher zwangsweiser Arbeitseinsatz auch unter Berücksichtigung der Verschärfung der Arbeitsbedingungen nach dem zweiten Weltkrieg sonst nicht gefordert worden wäre. Solche Verhältnisse lagen jedoch bei der Klägerin nicht vor. Nach den tatsächlichen, von der Revision nicht angegriffenen und deshalb das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts (§ 163 SGG) mußte sich die Klägerin nicht zum Arbeitseinsatz melden und war keiner besonderen Zwangsmaßnahme ausgesetzt. Sie hat die Hausarbeiten bei den Polen geleistet, um sich das Wohnrecht in der Wohnung ihrer Verwandten zu erhalten, und weil sie wegen ihres körperlichen Zustandes und ihres Alters nicht in der Lage war, sich eine lohnbringende Arbeit zu verschaffen. Das LSG. hat auch zutreffend darauf hingewiesen, daß die Haushaltsarbeiten für die Klägerin nicht mit besonderen, besatzungseigentümlichen Gefahren verbunden waren. Diese Arbeiten waren für die Klägerin als Hausfrau im übrigen auch nicht ungewohnt. Zur Hausarbeit gehört auch das gelegentliche Hacken oder Sägen von Holz. Solche Tätigkeiten hätte die Klägerin, insbesondere in der damaligen Zeit, notfalls auch in ihrem eigenen Haushalt verrichten müssen. Es ist daher entgegen der Ansicht der Revision nicht wesentlich, ob sich die Klägerin bei Holzarbeiten oder beim Zurechtmachen von Fischen verletzt hat. In beiden Fällen muß angenommen werden, daß eine allgemeine, mit der Haushaltsarbeit verbundene Gefahr und nicht eine besondere, der Besatzung eigentümliche Gefahr die Verletzung herbeigeführt hat. Das Berufungsgericht konnte daher davon absehen, genau aufzuklären, bei welcher der genannten Haushaltsarbeiten sich die Klägerin die Verletzung zugezogen hat. Die Rüge der Revision, das LSG. habe seine Pflicht, den Sachverhalt aufzuklären, verletzt und daher gegen § 103 SGG verstoßen, ist somit nicht begründet. Auch eine Überschreitung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 SGG), die von der Revision ebenfalls behauptet wird, ist nicht ersichtlich.

Aus diesen Gründen hat das Berufungsgericht mit Recht festgestellt, daß die Klägerin keinen Anspruch auf Versorgung nach dem BVG hat. Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 294

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