Leitsatz (redaktionell)
Mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängende besondere Gefahren konnten nicht nur durch Gewalttätigkeiten und Willkürakte gegen Einzelpersonen, sondern auch durch allgemeine Maßnahmen der Besatzungsmächte herbeigeführt werden.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 14. September 1955 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der am 2. Mai 1897 geborene Ehemann der Klägerin wurde nach der Besetzung seines Wohnortes W bei K durch die Russen im Jahre 1945 zwangsweise zur Arbeitsleistung bei einer Kommandantur der Besatzungsmacht herangezogen. Am 7. Oktober 1945 starb er an einer Diphterie. Der behandelnde deutsche Arzt konnte gegen die Krankheit nichts unternehmen, weil er kein Diphterieserum zur Verfügung hatte.
Der Antrag der Klägerin vom 22. September 1952 auf Gewährung von Hinterbliebenenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wurde durch Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA.) K vom 23. Januar 1953 abgelehnt, der hiergegen erhobene Einspruch durch Entscheidung des Beschwerdeausschusses des VersorgA. K vom 7. Juli 1953 zurückgewiesen, weil ihr Ehemann nicht an den Folgen einer unmittelbaren Kriegseinwirkung gestorben sei.
Das Sozialgericht (SG.) Köln hat die Klage (§ 215 Abs. 2 und Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) durch Urteil vom 9. April 1954 abgewiesen. Nach seiner Begründung sei zwar die Versorgung der deutschen Zivilbevölkerung nach der Kapitulation im Jahre 1945 in den besetzten Ostgebieten sehr schlecht gewesen; Arzneimittel hätten aber auch in den Westzonen gefehlt. Von diesem Mangel sei die gesamte Bevölkerung betroffen gewesen. Der Tod sei deshalb nicht durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung verursacht worden.
Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen hat den Beklagten durch Urteil vom 14. September 1955 für verpflichtet erklärt, der Klägerin vom 1. Oktober 1952 ab Witwenrente nach Maßgabe des Bundesversorgungsgesetzes zu gewähren. Der Verstorbene sei insofern einer besonderen, mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG erlegen, als er im August 1945 trotz seiner durch leichtere Erkrankung geschwächten Gesundheit gezwungen worden sei, bei einer russischen Kommandantur zu arbeiten. Dadurch habe er einer erhöhten Infektionsgefahr nicht ausweichen können. Eine besondere Gefahr habe für den Ehemann der Klägerin ferner deshalb vorgelegen, weil das notwendige Heilserum - bei dessen rechtzeitiger Anwendung die Diphterie mit großer Wahrscheinlichkeit hätte erfolgreich bekämpft werden können - dem behandelnden deutschen Arzt nicht zur Verfügung gestanden habe. Gerade dieser Mangel sei die wesentliche Ursache für den Tod gewesen. Somit habe nicht der damals in Deutschland allgemein herrschende Mangel an Arzneimitteln, sondern das Fehlen eines bestimmten erfolgssicheren Heilserums den Tod herbeigeführt. Aus diesem Mangel sei eine besondere mit der Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängende Gefahr entstanden. Die Klägerin habe daher einen Anspruch auf Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte rügt mit der Revision die Verletzung der §§ 1 Abs. 2 Buchst. a und 5 Abs. 1 Buchst. d BVG. Das LSG. habe den Begriff der unmittelbaren Kriegseinwirkung und den der besonderen Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG verkannt. Eine besondere Gefahr liege bei einem von der Besatzungsmacht angeordneten Arbeitseinsatz ohne besondere Beschränkung der persönlichen Freiheit nur dann vor, wenn jemand zu einer berufsfremden und seinen bisherigen Lebensverhältnissen nicht entsprechenden schweren körperlichen Arbeit herangezogen worden sei. Eine solche besondere Gefahr könne auch nicht darin erblickt werden, daß für die Behandlung kein Diphterieserum zur Verfügung gestanden habe. Von diesem Mangel an Arzneimitteln sei in der damaligen Zeit die gesamte deutsche Bevölkerung betroffen gewesen.
Der Beklagte hat beantragt,
das Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 14. September 1955 aufzuheben und den von der Revisionsbeklagten erhobenen Anspruch auf Versorgung zurückzuweisen;
hilfsweise: das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Klägerin hat beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet.
Der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente (§ 38 Abs. 1 BVG) hängt davon ab, ob der Tod ihres Ehemannes infolge Diphterie durch Vorgänge verursacht worden ist, die als eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst. a, § 5 BVG gelten. Der erkennende Senat hat bereits in Übereinstimmung mit dem Urteil des 10. Senats vom 15. November 1955 (BSG. 2 S. 29 (30-32)) entschieden, daß nur beim Vorliegen einer der im § 5 BVG aufgezählten Tatbestände eine unmittelbare Kriegseinwirkung gegeben ist (BSG. 2 S. 265 (268)). Nach den Ausführungen des LSG. ist die tödliche Erkrankung durch die Zwangsarbeit bei der russischen Besatzungsmacht bei einer durch leichtere Erkrankung geschwächten Gesundheit und durch das Fehlen des für ihre Bekämpfung notwendigen Heilserums verursacht worden. Dieser Sachverhalt könnte nach Auffassung des Senats den Tatbestand des § 5 Satz 1 Buchst. d BVG erfüllen. Nach dieser Vorschrift gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen schädigende Vorgänge, die u. a. infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Allerdings genügt ein Zusammenhang mit der Besetzung allein nicht; vielmehr muß der schädigende Vorgang durch eine Gefahr verursacht sein, die der militärischen Besetzung deutschen Gebiets im zweiten Weltkrieg unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen und örtlichen Besonderheiten eigentümlich war (BSG. 2 S. 99 (103); Urteil des 10. Senats des BSG. vom 22.1.1957 - 10 RV 865/55). Die Einfügung des Wortes "besonderen" vor den Wort "Gefahr" im § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG bedeutet nämlich, wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 26. Oktober 1956 - 8 RV 321/54 - im Anschluß an das Urteil des 9. Senats vom 6. Dezember 1955 (BSG. 2 S. 99 (102)) entschieden hat, eine Einschränkung des zu berücksichtigenden Gefahrenkreises. Gefahren, die ihrer Art nach etwa in ähnlicher Weise hätten eintreten können, wenn das Deutsche Reich nicht besetzt gewesen wäre, sollten als Versorgungsgrund ausgeschlossen werden, selbst wenn im Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Besetzung und einem schädigenden Vorgang vorliegt. Die Rüge der Revision, daß das angefochtene Urteil auf einer unrichtigen Anwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG beruhe, ist begründet. Die Meinung des LSG., eine mit der Besetzung zusammenhängende besondere Gefahr sei schon in dem Zwang zur Arbeit an einem bestimmten Ort trotz einer durch leichtere Erkrankung geschwächten Gesundheit zu erblicken, widerspricht dieser Vorschrift. Es ist davon auszugehen, daß zu den mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahren nicht nur Gewalttätigkeiten und Willkürakte gegen Einzelpersonen gehören. Auch allgemeine Maßnahmen der Besatzungsmacht konnten die deutsche Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet an Leib und Leben bedrohen und dadurch eine der Besetzung eigentümliche besondere Gefahr schaffen (BSG. 2 S. 105). Dazu sind insbesondere solche Maßnahmen zu rechnen, welche die Besatzungsmächte auf Grund ihrer Besatzungsgewalt zur Erreichung ihrer Besatzungsziele ohne Rücksicht auf Leben und Gesundheit der Bevölkerung, gegebenenfalls unter Androhung militärischer Machtmittel, getroffen haben. Ob dies bei einer Maßnahme der Fall ist, muß im Einzelfall geprüft werden. Für die deutsche Bevölkerung in den von den Russen besetzten, unter polnische Verwaltung gestellten Ostgebieten konnte eine besondere Gefahr darin bestehen, daß Bewohner des besetzten Gebiets von der Besatzungsmacht ohne Rücksicht auf ihren Gesundheitszustand bei unzureichender Ernährung zu Arbeitsleistungen gezwungen worden sind, die ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit, ihrem Lebensalter, ihrer körperlichen Beschaffenheit und ihrem Gesundheitszustand nicht entsprachen. Zu diesem Ergebnis ist der Senat aus der Erwägung gelangt, daß ein solcher zwangsweiser Arbeitseinsatz auch unter Berücksichtigung der Verschärfung der Arbeitsbedingungen nach dem zweiten Weltkriege sonst nicht gefordert worden wäre. Eine der Besetzung eigentümliche Gefahr kann auch darin erblickt werden, daß die Besatzungsmacht kranke, arbeitsunfähige oder wesentlich arbeitsbehinderte Bewohner des besetzten Gebiets gezwungen hat, die Arbeit fortzusetzen. Allerdings kann dies nicht bei jeder Krankheit gelten. Es kommt vielmehr auf die Art und den Grad der Erkrankung an. Daher muß im Einzelfall geprüft werden, ob der Betroffene im Erkrankungsfall seine Arbeit in normalen Zeiten wegen der Krankheit unterbrochen hätte. Die im bisherigen Verfahren getroffenen Feststellungen reichen als Entscheidungsgrundlage nicht aus. Es bedarf insbesondere der Klärung, welche Arbeit der Ehemann der Klägerin verrichten mußte, ob sie unter Berücksichtigung seines Berufs und seines Gesundheitszustandes zumutbar gewesen ist, woran er im August 1945 erkrankt und ob diese Erkrankung an dem Entstehen der Diphterie und ihrem Verlauf mit beteiligt war. Ferner muß geklärt werden, ob er einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt war. Dies wäre dann zu bejahen, wenn in seiner Umgebung Diphteriefälle aufgetreten sind und er mit Kranken zwangsweise in Berührung gekommen ist. Erst wenn diese Umstände aufgeklärt sind, kann die Frage abschließend entschieden werden, ob die besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG darin zu erblicken ist, daß der Ehemann der Klägerin Zwangsarbeit leisten mußte.
Den rechtlichen Ausführungen des LSG., daß eine besondere Gefahr aus dem Fehlen des Diphterieserums erwachsen sei, kann ebenfalls nicht ohne weiteres zugestimmt werden. Wenn der Beklagte hierzu geltend macht, daß schon der allgemeine Mangel an Heilmitteln, der damals die gesamte deutsche Bevölkerung betroffen habe, nicht als eine der Besetzung eigentümliche Gefahr gewertet werden könne, und daß dieser erst recht bei dem Fehlen eines bestimmten Serums, daß damals die gesamte deutsche Bevölkerung entbehrt habe, gelten müsse, so kann auch ihm hierin nicht voll gefolgt werden. Es ist zwar richtig, daß ein Mangel an Arzneimitteln aller Art nicht allgemein als unmittelbare Kriegseinwirkung angesehen werden kann (BSG. 2 S. 29 (35) S. 265 (269)). Das schließt aber nicht aus, daß ein solcher Mangel im Einzelfall als Versorgungsgrund in Frage kommen kann. Zu einer besonderen Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG konnte der Mangel an Arzneimitteln dann werden, wenn besondere Maßnahmen der Besatzungsmächte für ihn ursächlich waren. Die insoweit vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen für eine Entscheidung im vorliegenden Fall nicht aus. Das LSG. hätte feststellen müssen, in welchem Ausmaß das erforderliche Heilserum knapp geworden war, und ob Maßnahmen der Besatzungsmacht für das Fehlen ursächlich waren. Als solche Maßnahmen kommen die Beschlagnahme, Vernichtung oder Unterbindung der Beschaffung dieses Heilmittels in Betracht. Da diese Feststellungen nicht getroffen sind, kann die Frage, ob das Fehlen des Serums und der hierdurch eingetretene Tod einen Versorgungsgrund nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG darstellen, nicht abschließend entschieden werden.
Aus diesen Gründen beruht das angefochtene Urteil auf einer Verletzung dieser Vorschrift (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist daher aufzuheben. Gleichzeitig ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen, weil der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden kann (§ 170 Abs. 2 SGG). Das LSG. wird nach erschöpfender Aufklärung des Sachverhalts unter Beachtung der aufgezeigten Gesichtspunkte über den Versorgungsanspruch der Klägerin zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen