Leitsatz (amtlich)

Ist jemand bei einem Bandenüberfall in den ersten Monaten nach der Kapitulation getötet worden, so ist dies ein schädigender Vorgang im Sinne des BVG § 5 Abs 1 Buchst d, wenn infolge der durch die Besetzung hervorgerufenen Gefahr eine erhöhte Unsicherheit bestanden und ein wirksamer Schutz der Zivilbevölkerung gefehlt hat; es ist ohne Bedeutung, ob an einem solchen Überfall neben Ausländern auch Deutsche als Mittäter beteiligt gewesen sind, wenn sich nur die Straftat erkennbar von der üblichen, zu allen Zeiten vorkommenden Kriminalität abhebt.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07, § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. September 1956 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin, ..., kam am 22. Oktober 1945 bei einem Überfall mehrerer Personen auf sein Anwesen in Höfingen (Württemberg) ums Leben. In einem Bericht des Landespolizeipostens Leonberg vom 22. Oktober 1945 wurde mitgeteilt, vier bewaffnete Ausländer seien nachts in das Wohnhaus der Familie eingedrungen, um zu rauben; dabei sei erschossen worden. Wörtlich hieß es in diesem Bericht:

"Das Wohnhaus der ist ca. 500 m von Höflingen entfernt. Es war ein leichtes Spiel, einen räuberischen Überfall handelt, könne nur Ausländer in Frage kommen, da die Deutschen nicht mehr im Besitz von Waffen sind. Der Polizei ist es zur zeit unmöglich, Überfällen dieser Art entgegenzutreten, weil wir keinerlei Waffen besitzen. Es wäre das Gebot der Stunde, uns mit Waffen auszurüsten."

Bei den Ermittlungen nach den Tätern fiel der Verdacht, an dem Überfall beteiligt gewesen zu sein und getötet zu haben, auf den Gastwirt aus Renningen; wurde jedoch durch Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 27. Juni 1946 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Täter wurden nicht ermittelt.

Den Antrag der Klägerin vom Oktober 1949, ihr Witwenversorgung zu gewähren, lehnte das Versorgungsamt II (VersorgA.) Stuttgart mit Bescheid vom 28. Januar 1953 sowohl nach dem Württ.-Badischen Gesetz Nr. 74 über Leistungen an Körperbeschädigte vom 21. Januar 1947 (KBLG) als auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab; Gewaltakte, die nicht von Angehörigen der Besatzungsmächte verübt worden seien, seien nicht als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne der versorgungsrechtlichen Vorschriften anzusehen.

Das Sozialgericht (SG.) Stuttgart wies die Klage mit Urteil vom 17. Mai 1955 ab. Auf die Berufung der Klägerin hob das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg mit Urteil vom 12. September 1956 das Urteil des SG. Stuttgart vom 17. Mai 1955 und den Bescheid des VersorgA. II Stuttgart vom 28. Januar 1953 auf und erklärte den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente für die Zeit ab 1. Oktober 1949 dem Grunde nach für berechtigt: Der Tod des Ehemannes der Klägerin sei auf eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne der versorgungsrechtlichen Vorschriften zurückzuführen, er beruhe auf einem schädigenden Vorgang, der sich infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets zusammenhängenden besonderen Gefahr ereignet habe. Es sei rechtlich ohne Bedeutung, ob die Straftat, die zum Tod des Ehemanns der Klägerin geführt habe, von Angehörigen der alliierten Streitkräfte, ausländischen Arbeitern oder von deutschen kriminellen Elementen verübt worden sei.

Das LSG. ließ die Revision zu. Das Urteil wurde dem Beklagten am 12. Oktober 1956 zugestellt. Er legte am 9. November 1956 Revision ein und beantragte, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. September 1956 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. Mai 1955 zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht baden-Württemberg zurückzuverweisen.

Er begründete die Revision am 11. Dezember 1956: Das LSG. habe die Vorschriften der §§ 1 Abs. 2 Buchst. a, 5 Abs. 1 Buchst. d BVG (§§ 1 Abs. 1 KBLG, 2 Abs. 1 Buchst. d der 3. Durchführungsverordnung zum KBLG) nicht richtig angewandt. Die Annahme des LSG., daß auch die Straftat deutscher krimineller Elemente eine Schädigung im Sinne der erwähnten versorgungsrechtlichen Vorschriften sein könne, treffe nicht zu. Das LSG. habe nicht feststellen können, daß ein Ausländer den Ehemann der Klägerin getötet habe, das lasse sich auch nicht mehr ermitteln; damit seien die anspruchsbegründenden Tatsachen nicht dargetan. Der Versorgungsanspruch sei daher abzulehnen.

Die Revisionsbeklagte (Klägerin) beantragte, die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt, sie ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft; sie ist jedoch nicht begründet.

Das LSG. hat den Anspruch der Klägerin auf Witwenversorgung bejaht, es hat dabei auch die Vorschriften des § 1 Abs. 1 des Württ.-Badischen Gesetzes Nr. 74 über Leistungen an Körperbeschädigte vom 21. Januar 1947 (Reg. Bl. 7) und des § 2 Abs. 1 der 3. Durchführungsverordnung zu diesem Gesetz vom 23. Juli 1949 (Reg. Bl. Nr. 24) angewandt. Diese Vorschriften sind revisibel im Sinne des § 162 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) (vgl. hierzu BSG. 1 S. 56 [59] und Urteile des BSG. vom 16.10.1956 - 10 RV 315/54, vom 7.11.1957 - 11/8 RV 1159/55 - und vom 17.7.1958 - 11/8 RV 1205/56 -).

Die Klägerin hat Anspruch auf Witwenversorgung; nach dem Württ.-Badischen KBLG und nach dem BVG, wenn der Tod ihres Ehemannes auf eine unmittelbare Kriegseinwirkung zurückzuführen ist (§ 1 Abs. 1 KBLG, §§ 38 Abs. 1 Satz 1, 1 Abs. 1 und 2 Buchst. a BVG). Nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG (§ 2 Abs. 1 Buchst. d der 3. Durchführungsgesetze zum KBLG) gelten als unmittelbare Kriegseinwirkung: (schädigende) Vorgänge, die u.a. infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Eine mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängende "besondere Gefahr" im Sinne dieser Vorschriften liegt nicht schon dann vor, wenn die Gefahr mit der Besetzung ursächlich zusammenhängt, sondern nur, wenn sie auch der Besetzung eigentümlich ist. Der schädigende Vorgang muß einer Gefahr entsprungen sein, die der militärischen Besetzung deutschen Gebietes im und nach dem 2. Weltkrieg unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen und örtlichen Besonderheiten eigentümlich war (BSG. 2, 99 [103]). Der Begriff "Besetzung" erstreckt sich nicht nur auf den Vorgang der Inbesitznahme, sondern auch auf den Zustand des Besetzthaltens, deshalb kann auch noch Monate nach der Inbesitznahme deutschen Gebietes der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG verwirklicht sein, wenn und solange die besondere, d.h. die der Besetzung eigentümliche Gefahr fortbestanden hat. Auch gesundheitliche Schäden und der Tod als Folgen von Straftaten, die nach der Kapitulation verübt worden sind, können im Einzelfall mit einer der Besetzung eigentümlichen Gefahr im Zusammenhang stehen und als schädigende Vorgänge im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ein Versorgungsgrund sein. Dazu können auch Straftaten gehören, die nicht von Angehörigen der Besatzungsmacht begangen worden sind. Für die Frage, ob eine solche Straftat auf einer besonderen, der militärischen Besetzung deutschen Gebietes eigentümlichen Gefahr beruht, sind vor allem die Art der Straftat sowie die zeitlichen und örtlichen Verhältnisse und Besonderheiten zur Zeit der Begehung dieser Straftat von Bedeutung (BSG. 5, 116 [119] mit weiteren Hinweisen). Der Begriff "besondere Gefahr" schließt schädigende Vorgänge aus, die nicht charakteristisch für den Zustand der militärischen Besetzung sind. Eine Straftat, die der gewöhnlichen, zu allen Zeiten vorkommenden Kriminalität zuzurechnen ist, ist daher kein schädigender Vorgang im Sinne des § 5 Abs. 1 d BVG. Anders ist die Straftat zu bewerten, die eine typische Folge der Gefahr ist, deren Entstehung auf Maßnahmen der Besatzungsmächte zurückzuführen ist und deren Natur der Besetzung eigentümlich ist. Durch die Maßnahmen der alliierten Streitkräfte unmittelbar nach der Besetzung ist für die deutsche Bevölkerung eine besondere Lage entstanden. Bestimmte Personengruppen - ausländische Fremdarbeiter, kriminelle Häftlinge -, die bisher zwangsweise festgehalten und dann plötzlich freigelassen worden waren und die gerade deshalb naturgemäß zu Unbotmäßigkeiten und Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung neigten, sind der Kontrolle der deutschen Behörden jedenfalls praktisch entzogen worden; trotz der dadurch bedingten erhöhten Unsicherheit für die Bevölkerung sind den damaligen deutschen Sicherheitsbehörden, soweit sie überhaupt funktionsfähig waren, die erforderlichen Kräfte, die Ausrüstung und insbesondere die Waffen, also die Mittel zu einer wirksamen Verbrechensbekämpfung, vor allen auch der Bekämpfung bewaffneter Banden, genommen oder versagt worden; damit ist die Bevölkerung den Ausschreitungen und Gewaltakten krimineller Elemente schutzlos preisgegeben gewesen; diese Elemente haben fast ohne eigenes Risiko ihre verbrecherischen Vorhaben verwirklichen können; es hat sich so eine besondere, der Besetzung eigentümliche Gefahr ergeben. Der Überfall, dem der Ehemann der Klägerin zum Opfer gefallen ist, ist dieser besonderen Gefahr zuzurechnen; er ist eine typische Folge dieser Gefahr. Die Straftat steht nach ihrer Eigenart und nach den örtlichen und zeitlichen Verhältnissen, unter denen sie verübt worden ist, mit der Besetzung des Landes in engstem Zusammenhang. Von wesentlicher Bedeutung dafür ist, daß es sich bei diesem Überfall bewaffneter Täter auf ein entfernt liegendes ländliches Anwesen um eine Straftat gehandelt hat, die nach der Art der Ausführung, nach ihrem Ziel und nach ihrem Täterkreis mit der besonderen Gefahr der Besetzung in unmittelbarem Zusammenhang steht; dabei ist vor allem von Bedeutung, daß jedenfalls zu dieser Zeit und in diesem örtlichen Bereich die Polizei nicht in der Lage gewesen ist, die bedrohte Zivilbevölkerung zu schützen, weil sie keinerlei Waffen gehabt hat und auch von den Besatzungsmächten kein wirksamer Schutz der Zivilbevölkerung organisiert worden ist. Wenn es in dem Schlußsatz des Polizeiberichts vom 22. Oktober 1945 heißt, "es wäre ein Gebot der Stunde, uns mit Waffen auszurüsten", so kennzeichnet das die Lage in charakteristischer Weise und macht deutlich, daß es sich bei dem Überfall um eine typische Zeiterscheinung handelt.

Das LSG hat die Tötung des Ehemannes der Klägerin bei dem Bandenüberfall in den versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG eingeordnet. Es hat dabei als den entscheidenden Gesichtspunkt angesehen, daß durch Maßnahmen der Besatzungsmacht der Zivilbevölkerung der Schutz vor derartigen Gewaltakten genommen worden sei; es hat daraus gefolgert - und dagegen wendet sich die Revision -, es sei rechtlich ohne Bedeutung, ob die Ausschreitungen von Angehörigen der alliierten Streitkräfte, ausländischen Arbeitern oder von deutschen kriminellen Elementen verübt worden seien. Im vorliegenden Fall bleibt nach dem festgestellten Sachverhalt nur offen, ob einer der an dem Überfall beteiligten Täter - und zwar der, der den Ehemann der Klägerin getötet hat - ein Deutscher oder ein Ausländer gewesen ist. Jedenfalls ergibt sich aber aus dem Polizeibericht des Landespolizeipostens Leonberg vom 22. Oktober 1945 und, wie dem Urteil des Landessozialgerichts zu entnehmen ist, auch aus dem Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 27. Juli 1946 in der Strafsache gegen daß es sich um ein von mehreren Personen - darunter auch Ausländern, nämlich Polen - gemeinschaftlich geplantes und ausgeführtes Verbrechen gehandelt hat (§ 47 Strafgesetzbuch - StGB). Dabei ist es für die rechtliche Beurteilung nicht entscheidend, welchen Tatbeitrag jeder der Mittäter geleistet hat; es genügt, daß festgestellt ist, daß es sich um einen Gewaltakt einer marodierenden Bande gehandelt hat. Das Bandenunwesen einerseits und der fehlende Schutz der Zivilbevölkerung andererseits haben die besondere, der Besetzung eigentümliche Gefahr begründet, an die der versorgungsrechtliche Schutz geknüpft ist. Ein schädigender Vorgang im sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG wäre auch nicht ohne weiteres auszuschließen, wenn eine Straftat nur von deutschen kriminellen Elementen verübt worden ist,; auch eine solche Tat kann durch Maßnahmen der Besatzungsmacht wesentlich begünstigt worden und für die erste Zeit vorkommenden Kriminalität abgegrenzt werden kann. Einer näheren Erörterung dieser Frage bedarf es hier schon deshalb nicht, weil im vorliegenden Fall jedenfalls auch ausländische Mittäter an dem Bandenüberfall, bei dem der Ehemann der Klägerin getötet worden ist, beteiligt gewesen sind; daraus ergibt sich zwingend, daß es sich jedenfalls hier um eine Straftat gehandelt hat, die aus der besonderen, der militärischen Besetzung eigentümlichen Gefahr erwachsen ist und die nicht der üblichen, auch sonst vorkommenden Kriminalität zuzurechnen ist. Der Tod des Ehemannes der Klägerin ist daher auf eine unmittelbare Kriegseinwirkung, d.h. auf einen schädlichen Vorgang im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d zurückzuführen.

Das LSG. hat danach den Sachverhalt im Ergebnis zutreffend gewürdigt und zu Recht den Anspruch der Klägerin auf Witwenversorgung als begründet angesehen. Die Revision muß daher zurückgewiesen werden.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 203

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