Leitsatz (amtlich)

Die von der Besatzungsmacht allgemein angeordnete Einstellung der Versorgungsrenten beruht nicht auf einer mit der militärischen Besetzung zusammenhängenden besonderen Gefahr und ist daher nicht unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne der DV KBLG BY § 2 Abs 1 Buchst d und des BVG § 5 Abs 1 Buchst d.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07; KBLGDV BY § 2 Abs. 1 Buchst. d

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. April 1956 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin bezog seit 1916 wegen Absetzung des rechten Armes, Schwäche des linken Armes, geheilten Bruches des linken Schlüsselbeins und Einschränkung der Beweglichkeit des linken Daumens Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 80 v.H. Seit 1939 litt er an einer Prostatahypertrophie und einer Blasenentzündung. Am 9. August 1945 tötete er sich selbst.

1947 beantragte die Klägerin Versorgung nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG). Medizinalrat Dr. Sch bescheinigte, der Ehemann der Klägerin habe an einer schweren Entzündung der Blase und der Vorsteherdrüse gelitten, er sei seit langem arbeitsunfähig gewesen und habe dauernd gepflegt werden müssen. Die Gendarmerie berichtete, der Ehemann der Klägerin sei freiwillig aus dem Leben geschieden, die Ursache dieses Entschlusses dürfte sein Blasenleiden gewesen sein. Die Versorgungsärzte stellten fest, der Entschluß zur Selbsttötung beruhe nicht auf Schädigungen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG. Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) als damalige Versorgungsbehörde lehnte danach den Versorgungsantrag ab, da die Selbsttötung nicht auf Schädigungen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG zurückzuführen sei.

Die Berufung (alten Rechts) wies das Oberversicherungsamt (OVA.) N durch Urteil vom 20. November 1951 zurück. Nach den Gutachten des Gerichtsarztes Dr. M, des Medizinalrats Dr. Sch und der Versorgungsärzte sei es wahrscheinlich, daß für den Entschluß zur Selbsttötung nicht die durch Einstellung der Rente erschwerte wirtschaftliche Lage, sondern das Blasen- und Prostataleiden ursächlich gewesen sei; unwahrscheinlich sei, daß der Ehemann der Klägerin bei der Selbsttötung durch Einwirkungen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG in seiner Willensbestimmung beeinträchtigt gewesen sei.

Gegen das Urteil des OVA. legte die Klägerin Rekurs ein. Sie begründete ihn insbesondere damit, daß ihr Ehemann durch die Einstellung der Versorgungsbezüge bei Kriegsende und die damit verbundene Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz zur Selbsttötung getrieben worden sei. Der Rekurs ging am 1. Januar 1954 als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) über. Dieses wies die Berufung mit Urteil vom 17. April 1956 zurück. Es führte aus: Zwar habe sich der Ehemann der Klägerin zur Zeit der Selbsttötung in einer starken Gemütsverstimmung befunden, dieser Zustand sei aber weder auf Einflüsse des Wehrdienstes im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG oder des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zurückzuführen, noch sei durch solche Schädigungen die freie Willensbestimmung beeinträchtigt gewesen. Wie sich aus den ärztlichen Gutachten, den wiederholten Nachuntersuchungen und dem Krankenblatt des Städtischen Krankenhauses H ergebe, hätten die anerkannten Verwundungsfolgen seelische oder geistige Störungen nicht verursacht. Das Prostataleiden und die damit verbundenen Beschwerden seien nicht die Folge von Einflüssen des Wehrdienstes gewesen. Wäre aber der Ehemann der Klägerin seelisch oder geistig dadurch beeinträchtigt gewesen, daß er seine wirtschaftliche Existenz durch die alsbald nach Kriegsende eingestellte Zahlung der Versorgungsbezüge als bedroht angesehen habe, so hätte insoweit eine Schädigung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG oder des § 1 BVG nicht vorgelegen. Die Schließung der Versorgungsämter und die Einstellung der Versorgungsbezüge sei zwar eine Kriegsfolge aber kein Vorgang, der den Anspruch auf Versorgung nach dem KBLG oder dem BVG begründe. Selbst wenn sie als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG, § 5 BVG anzusehen sei, hätte sie unmittelbar eine vermögensrechtliche, nicht eine versorgungsrechtlich allein erhebliche gesundheitliche Schädigung bewirkt. Wäre der Verstorbene dadurch in den Zustand krankhafter Störungen der Geistestätigkeit oder in eine Gemütsverstimmung versetzt und deswegen zur Selbsttötung veranlaßt worden, so sei dies nicht Folge schädigender Einwirkungen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG oder des § 1 BVG. Das LSG. ließ die Revision zu.

Die Klägerin beantragte mit der Revision, unter Aufhebung des Urteils des LSG. und der diesem Urteil vorhergehenden Entscheidungen den Beklagten zu verurteilen, vom 1. August 1947 an Witwenrente zu gewähren. Sie ist der Auffassung, der Tod ihres Ehemannes gehe auf die Einstellung der Versorgungsbezüge zurück. Diese sei von der Besatzungsmacht verfügt worden und daher unmittelbare Kriegseinwirkung (Art. 1 Abs. 1 KBLG, § 1 Abs. 2 und § 5 Abs. 1 BVG).

Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft; die Klägerin hat sie in der gesetzlichen Frist und Form eingelegt und begründet. Die Revision ist daher zulässig. Sachlich ist sie nicht begründet.

Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat die Klägerin nur, wenn ihr Ehemann an den Folgen einer gesundheitlichen Schädigung durch militärischen oder militärähnlichen Dienst oder unmittelbare Kriegseinwirkung gestorben ist (Art. 1 Abs. 1 KBLG, § 38 Abs. 1 Satz 1, § 1 Abs. 1 und 2 Buchst. a BVG). Eine absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieser Vorschriften (Art. 2 Abs. 3 KBLG, § 1 Abs. 4 BVG). Eine bei freier Willensbestimmung begangene Selbsttötung ist eine absichtlich herbeigeführte Gesundheitsschädigung, die den Anspruch auf Versorgung ausschließt (vgl. BSG. 1 S. 150 (156)). Das LSG. ist daher mit Recht davon ausgegangen, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin nur dann Folge einer Schädigung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG oder des § 1 Abs. 1 BVG ist, wenn er die Selbsttötung in einem Zustand ausgeführt hat, in dem seine freie Willensbestimmung beeinträchtigt gewesen ist, und wenn dieser Zustand wahrscheinlich durch Einflüsse des Wehrdienstes oder unmittelbare Kriegseinwirkungen verursacht worden ist. Es muß ein doppelter ursächlicher Zusammenhang vorliegen: Zwischen dem militärischen (militärähnlichen) Dienst oder der unmittelbaren Kriegseinwirkung und der Geistesstörung (Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung) und zwischen dieser Geistesstörung und der Selbsttötung. Das LSG. hat schon den ersten Zusammenhang verneint. Es hat nicht ausschließen können, daß sich der Ehemann der Klägerin zur Zeit der Selbsttötung in einem Zustand starker Gemütsstörung (Depression) befunden habe, hat es aber nicht für wahrscheinlich erachtet, daß die freie Willensbestimmung durch Umstände beeinträchtigt gewesen ist, die auf Einflüsse des militärischen Dienstes oder auf unmittelbare Kriegseinwirkungen zurückgehen.

Das LSG. hat zunächst festgestellt, die anerkannten Schädigungsfolgen einer Verwundung im ersten Weltkrieg hätten die freie Willensbestimmung des Ehemannes der Klägerin nicht beeinträchtigt. Das Prostataleiden und die damit verbundenen Beschwerden seien, wie sich aus der Krankengeschichte und den übereinstimmenden ärztlichen Unterlagen ergebe, nicht auf Umstände des militärischen Dienstes zurückzuführen, sondern altersbedingt gewesen. Diese Feststellungen hat die Revision nicht angegriffen; sie sind deshalb für den Senat bindend (§ 163 SGG).

Die freie Willensbestimmung des Ehemannes der Klägerin ist auch nicht durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung (Art. 1 Abs. 1 KBLG, § 1 Abs. 1 und 2 Buchst. a BVG) beeinträchtigt gewesen. Die Klägerin führt die Selbsttötung darauf zurück, daß die Versorgungsbezüge ihres Ehemannes im Mai 1945 auf Anordnung der Besatzungsmacht eingestellt worden seien. Sie sieht in diesem Vorgang eine unmittelbare Kriegseinwirkung. Als unmittelbare Kriegseinwirkungen gelten schädigende Vorgänge, welche die Tatbestandsmerkmale des § 2 Abs. 1 Buchst. a bis e der Durchführungsverordnung (DurchfVO) zum KBLG vom 1. Mai 1949 (Bayer. GVBl. S. 113) oder des § 5 Abs. 1 Buchst. a bis e BVG erfüllen. Nach § 2 Abs. 1 Buchst. d der DurchfVO zum KBLG und § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG sind unmittelbare Kriegseinwirkungen auch schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Wesentliches Tatbestandsmerkmal der unmittelbaren Kriegseinwirkung dieser Art ist die besondere Gefahr, die den schädigenden Vorgang verursacht haben muß. Eine solche "besondere Gefahr" liegt nicht schon dann vor, wenn sie mit der militärischen Besetzung deutschen Gebiets verbunden ist, sondern nur wenn sie für die besonderen Verhältnisse der militärischen Besetzung typisch ist. Der schädigende Vorgang muß einer Gefahr entsprungen sein, die der militärischen Besetzung deutschen Gebiets in und nach dem zweiten Weltkrieg unter Berücksichtigung ihrer zeitlichen und örtlichen Besonderheiten eigentümlich ist (BSG. 2 S. 99 (103); 8 S. 203 (204)). Die "besondere Gefahr" schließt Vorgänge aus, die nicht charakteristisch für den Zustand der militärischen Besetzung sind.

In Bayern sind die früheren Versorgungsgesetze durch Art. 3 des Gesetzes Nr. 1 der amerikanischen Militärregierung gegenstandslos geworden. Die Versorgungsrenten wurden nicht mehr gezahlt, die Versorgungsämter am 1. September 1945 aufgelöst (vgl. Schieckel, Bundesversorgungsgesetz, 2. Aufl., Vorbemerkung S. 25, 27). Diese Maßnahmen sind aber nicht einer, gerade für die militärische Besetzung eigentümlichen Gefahr entsprungen. Diesem Gefahrenkreis sind beispielsweise Vorgänge wie körperliche Durchsuchung, Verhaftung, Ausquartierung, Zwangsarbeit, Verschleppung und ähnliche zuzurechnen (BSG. 2 S. 99, Urt. des erkennenden Senats vom 3.11.1959 - 9 RV 80/56 -), nicht dagegen Schädigungen, die auf allgemeine, wenn auch mit der Besetzung zusammenhängende Maßnahmen zurückzuführen sind. Ausgenommen sind daher schädigende Vorgänge, die ihrer Art nach ebenso hätten eintreten können, wenn sie durch Maßnahmen der deutschen Verwaltung statt der Besatzungsmacht verursacht worden wären. Eine der militärischen Besetzung eigentümliche Gefahr liegt nicht in Maßnahmen der gesetzgebenden oder vollziehenden Gewalt der Besatzungsmacht, die sich von Maßnahmen einer zivilen Regierung oder Verwaltung nicht wesentlich unterscheiden. Das Verbot, die bisherigen Versorgungsgesetze anzuwenden und Angehörige der Wehrmacht nach diesen Gesetzen bevorzugt zu versorgen, hat den Kriegszielen der Besatzungsmacht entsprochen. Es hat seine Ursache darin, daß die gesetzgebende und vollziehende Gewalt in den besetzten Gebieten auf die Besatzungsmacht übergegangen war. Mit Recht hat sie das LSG. daher nicht als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des KBLG oder des BVG angesehen.

Ungeachtet dessen wird Versorgung nach dem KBLG und dem BVG auch nur für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer gesundheitlichen Schädigung gewährt. Insoweit ist bei einer Selbsttötung Voraussetzung, daß sie die Folge einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG oder des § 1 BVG ist, d.h. der schädigende Vorgang (militärischer Dienst oder unmittelbare Kriegseinwirkung) muß die Gesundheit betroffen haben. Die Anordnung der Besatzungsmacht, die bisherigen Versorgungsgesetze nicht mehr anzuwenden, und die damit verbundene Einstellung der Versorgungsrente hat aber unmittelbar eine wirtschaftliche, nicht eine gesundheitliche Schädigung bewirkt. Eine gesundheitliche Schädigung, wie sie der Versorgungsanspruch voraussetzt, liegt auch dann nicht vor, wenn die durch Einstellung der Rente verursachte wirtschaftliche Gefährdung zu Depressionen geführt hätte. Eine derartige nur mittelbare Schädigung genügt als Versorgungstatbestand nach dem KBLG und dem BVG nicht.

Das LSG. hat sonach Art. 1 Abs. 1 KBLG, § 2 Abs. 1 Buchst. d der DurchfVO zum KBLG sowie die §§ 1 und 5 BVG richtig angewandt und den Versorgungsanspruch der Klägerin zu Recht verneint. Die Revision ist deshalb nicht begründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 13

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