Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. November 1993 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger ist 1973 als jugoslawischer Staatsangehöriger in Deutschland Opfer einer Gewalttat geworden. Der Beklagte gewährte ab Inkrafttreten der Härteregelung des § 10a Opferentschädigungsgesetz (OEG) am 1. Dezember 1984 Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 90 vH (Bescheide vom 29. August 1986 und 19. Januar 1987). Diese Verwaltungsakte nahm der Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Wirkung ab September 1987 zurück, weil die Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Jugoslawien zur Zeit der Tat noch nicht,sondern erst seit 1978 verbürgt gewesen sei (Bescheid vom 28. August 1987; Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 1987).
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts Mainz vom 3. Dezember 1992 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Rheinland-Pfalz vom 29. November 1993).
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger das Fehlen von Entscheidungsgründen. Zwischen der Verkündung des Urteils am 29. November 1993 und seiner Zustellung an den Kläger am 23. Juni 1994 lägen weit mehr als fünf Monate. Das Urteil leide deshalb gemäß §§ 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG), 571 Nr 7 Zivilprozeßordnung (ZPO) an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Im übrigen greift er die Feststellungen des LSG zum Fehlen der Gegenseitigkeit an.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 29. November 1993 und des Sozialgerichts Mainz vom 3. Dezember 1992 sowie den Bescheid des Beklagten vom 28. August 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 1987 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hat klargestellt, daß die angefochtenen Bescheide sich darauf beschränken, die Leistungsgewährung einzustellen. Die früheren Bescheide seien nicht aufgehoben, soweit der Kläger als Opfer einer Gewalttat anerkannt worden sei.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das Urteil des LSG ist nicht mit Gründen versehen.
Der Kläger hat den Formerfordernissen für eine auf Verfahrensmängel gestützte Revision noch genügt. Er hat die Tatsachen hinreichend bezeichnet, aus denen sich der Mangel ergibt (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG).
Nach § 134 Satz 2 SGG soll ein bei der Verkündung noch nicht schriftlich niedergelegtes Urteil binnen drei Tagen nach der Verkündung in vollständiger Abfassung der Geschäftsstelle übergeben werden. § 551 Nr 7 ZPO, der im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden ist (§ 202 SGG), enthält die unwiderlegliche Vermutung, daß eine Entscheidung stets auf einer Verletzung des Gesetzes beruht, wenn sie nicht mit Gründen versehen ist; es liegt ein unbedingter oder absoluter Revisionsgrund vor. Zwar ist ein solcher nicht schon dann anzunehmen, wenn die Drei-Tages-Frist des § 134 Satz 2 SGG überschritten ist. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat aber mit Beschluß vom 27. April 1993 (SozR 3-1750 § 551 Nr 4) entschieden, daß es einen absoluten Revisionsgrund darstellt, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe eines bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßten Urteils nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Wird dieser Mangel gerügt, so ist das Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (SozR 3-1750 § 551 Nrn 5, 6, 7 und 9; BSGE 75, 74 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12; Urteil vom 22. September 1993 – 12 RK 93/92 – BB 1994, 1014; Urteil vom 12. Oktober 1993 – 13 RJ 29/92 – USK 9365 und Beschluß vom 27. Januar 1994 – 9 BV 183/93 –, unveröffentlicht).
Aus dem Revisionsvorbringen läßt sich zwar nicht genau entnehmen, wann das vollständig abgesetzte und unterschriebene Urteil an die Geschäftsstelle gelangt ist. Das ist unter den Umständen dieses Falles aber unschädlich. Der Kläger konnte sich damit begnügen, auf die erst etwa sieben Monate nach Verkündung erfolgte Zustellung hinzuweisen, um daraus ohne weitere Substantiierung den Schluß zu ziehen, daß das Urteil nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung der Geschäftsstelle übergeben worden sei. Auch wenn sich ein solcher Schluß angesichts der Möglichkeiten erheblich verspäteter Zustellungen nicht allgemein ziehen läßt und deshalb weitere Darlegungen zum Zeitpunkt der Übergabe des Urteils an die Geschäftsstelle erforderlich werden können (vgl BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 5 im Falle einer Auslandszustellung, wo der Hinweis auf eine nach etwa sechs Monaten erfolgte und damit mehrwöchig „verspätete” Zustellung des Urteils nicht als ausreichende Tatsachenangabe des Verfahrensfehlers der verspäteten Urteilsabsetzung angesehen wurde), kann in eindeutigen Fällen, anders als möglicherweise bei Zustellungen nur knapp nach Ablauf der Fünf-Monats-Frist oder bei Zustellungen im Ausland, auf weitere Darlegungen zur Begründung der Verfahrensrüge verzichtet werden (BSGE 75, 74 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12). Das Formerfordernis bei der Rüge von Verfahrensmängeln dient allein dem Zweck, dem Revisionsgericht ohne aufwendige Ermittlungen die Prüfung zu ermöglichen, ob der gerügte Verfahrensmangel vorliegt (vgl BSG SozR 3-1500 § 164 Nr 6). Soweit sich ein für sich gesehen lückenhafter Tatsachenvortrag durch den Inhalt der dem Revisionsgericht vorliegenden Akten der Vorinstanz ohne weiteres und zweifelsfrei ergänzen läßt, wird dem Zweck der Formanforderungen an Verfahrensrügen noch hinreichend Rechnung getragen. So liegt der Fall hier. Der Senat konnte das genaue Datum der Urteilsübergabe ohne weitere Ermittlungen aufgrund des Akteninhalts feststellen. In den beigezogenen vorinstanzlichen Akten ist vermerkt, daß die Urschrift des Urteils am 9. Mai 1994 auf der Kanzlei und erst am 31. Mai 1994 auf der Geschäftsstelle des LSG eingegangen ist. Die Fünf-Monats-Frist war aber bereits am 29. April 1994 abgelaufen.
Die gebotene Aufhebung des angefochtenen Urteils führt auch zur Zurückverweisung an die Berufungsinstanz. Eine Sachentscheidung des Revisionsgerichts ist bei absoluten Revisionsgründen grundsätzlich nicht möglich; § 170 Abs 1 Satz 2 SGG gilt nicht (BSGE 63, 43, 45 = SozR 2200 § 368a Nr 21). Von diesem Grundsatz läßt die Rechtsprechung zwar Ausnahmen zu. So hat das Revisionsgericht durchzuentscheiden, obwohl der absolute Revisionsgrund verspäteter Urteilsabsetzung vorliegt, wenn die Klage nach dem Revisionsvorbringen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt begründet ist (BSGE 75, 74 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12; vgl dagegen Urteil vom 22. September 1993 – 12 RK 93/92 – BB 1994, 1014). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier aber nicht vor. Der Rechtsstreit ist nicht zur Entscheidung reif, weil der Kläger weiterhin geltend macht, daß das jugoslawische Recht eine Entschädigungsregelung für Gewaltopfer – auch deutscher Staatsangehörigkeit – enthalte, und weil auch bei fehlender Gegenseitigkeit im Verhältnis zu Jugoslawien bzw zu dessen Nachfolgestaaten ein Anspruch des Klägers auf Gewährung von Versorgungsleistungen ab 1. Juli 1990 nach dem 2. OEG-Änderungsgesetz vom 21. Juli 1993 (BGBl I 1262) bestehen kann.
Einen solchen durch das 2. OEG-Änderungsgesetz neu eingeführten Anspruch auf Versorgungsleistungen jedenfalls ab 1. Juli 1990 hat das LSG zu Recht geprüft, obwohl der Kläger zunächst eine reine Anfechtungsklage gegen den 1987 erlassenen Aufhebungsbescheid erhoben hatte. Der Kläger will mit seiner Klage in erster Linie die Fortführung der ursprünglichen Leistungsgewährung erreichen, hilfsweise aber auch eine Leistungsgewährung aufgrund neuen Rechts. Der Beklagte hat das auch so verstanden. Einer Klageerweiterung hat er nicht widersprochen (§§ 153 Abs 1, 99 Abs 2 SGG). Er hat vielmehr mit seinem Schriftsatz vom 8. Juli 1993 zur neuen Rechtslage Stellung genommen und ausgeführt, daß auch ab 1. Juli 1990 kein Anspruch auf die begehrten Leistungen bestehe, weil der Kläger wegen der Stichtagsregelung in § 10 Satz 3 OEG nF nicht unter das 2. OEG-Änderungsgesetz falle. Diese Auffassung, der das LSG gefolgt ist, trifft nicht zu. Die Stichtagsregelung schließt den Kläger nicht notwendig von Versorgungsleistungen ab 1. Juli 1990 aus.
Der Senat hat diese Vorschrift, mit der das 2. OEG-Änderungsgesetz die nahezu vollständige Einbeziehung von Ausländern in den Schutzbereich des OEG auf Taten nach dem 30. Juni 1990 begrenzt, in verfassungskonformer Auslegung dahin eingeschränkt, daß sie nicht für besondere Härtefälle gilt. Ein Härtefall liegt nach dem Modell des § 10a OEG vor, wenn der unter die Neuregelung des § 1 Abs 5 OEG fallende Ausländer schwerbeschädigt und bedürftig ist (vgl das Urteil des Senats vom 6. März 1996 – 9 RVg 4/95 –, zur Veröffentlichung bestimmt). Ob der Kläger danach Anspruch auf Versorgung hat, obwohl er bereits 1973 durch eine Gewalttat geschädigt worden ist, hängt vom Ausgang der Ermittlungen ab, die das LSG zum Aufenthalt des schwerbeschädigten Klägers in Deutschland und zu seiner Bedürftigkeit anzustellen hätte.
Das LSG wird ferner über die Kosten zu entscheiden haben.
Fundstellen