Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein bloßes Zugeständnis rechtlich bedeutsamer Tatsachen. kein bloßer Widerruf
Leitsatz (amtlich)
Hat die Verwaltungsbehörde in einem Versorgungsbescheid eine Rente zwar abgelehnt, gleichzeitig aber festgestellt (anerkannt), ein Leiden sei Schädigungsfolge im Sinne der versorgungsrechtlichen Vorschriften, so liegt insoweit ein (selbständiger) feststellender, begünstigender Verwaltungsakt vor; eine "unrichtige Anerkennung" kann die Verwaltung nicht wie ein gerichtliches Geständnis widerrufen (ZPO § 290), sie kann die Bindung (SGG § 77, KOV-VfG § 24) an ihren Bescheid nur dadurch beseitigen, daß sie den Bescheid rechtswirksam zurücknimmt (Vergleiche KBLG Art 30 Abs 4; KOV-VfG §§ 41, 42; BSG 1958-02-12 11/9 RV 948/55 = BSGE 7, 8; BSG 1959-01-21 11/8 RV 181/57 = BSGE 9, 80).
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Bescheid, der den Kläger begünstigt, ist in dem Zeitpunkt, in dem er ihm zugeht, für die Beteiligten in der Sache bindend.
2. Soweit der Bescheid den Kläger belastet, bewirkt die Bindung, ähnlich dem Verbot der reformatio in peius (Verbot der Schlechterstellung), daß die Verwaltungsbehörde diese Belastung nicht erhöhen darf.
3. Die Feststellung bestimmter Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen im Bescheid gehört zum entscheidenden Teil des Verwaltungsaktes, sie ist nicht bloß Zugeständnis einer rechtlich bedeutsamen Tatsache (ZPO §§ 288 bis 290).
4. Die Verwaltungsbehörde kann sich von der Feststellung der Schädigungsfolgen nur durch einen Berichtigungsbescheid befreien.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 24 Fassung: 1955-05-02, § 41 Fassung: 1955-05-02, § 42 Fassung: 1955-05-02; ZPO § 290; KBLG BY Art. 30 Abs. 4; ZPO §§ 289, 288
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 13. November 1957 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Witwe L H beantragte im August 1948, ihr Witwenrente nach dem Bayerischen Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) vom 15. Januar 1947 zu gewähren; sie machte geltend, ihr Ehemann R H habe seit Mai 1941 als Funker und Flugmelder bei der Luftabwehr Wehrdienst geleistet, er sei im Januar 1943 in einem Lazarett an "Kachexie" gestorben, sein Tod sei auf den Wehrdienst zurückzuführen.
Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Unterfranken - KB.-Abteilung - erließ am 12. November 1948 einen Bescheid; darin hieß es: "Ihrem Antrag auf Gewährung einer Witwenrente kann nicht stattgegeben werden. Der Tod Ihres Ehemannes R H wird als Folge einer Dienstbeschädigung anerkannt. Sie haben aber weder durch Krankheit oder andere Gebrechen wenigstens zwei Drittel Ihrer Erwerbsfähigkeit verloren, noch das 60. Lebensjahr vollendet".
Im September 1949 beantragte Frau H erneut die Witwenrente, weil die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Rente nunmehr gegeben seien. Die LVA. stellte darauf Erhebungen über die Ursachen des Todes des R H an, sie zog den von der Stadtverwaltung W ausgestellten "Leichenpaß" sowie eine Auskunft der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen Deutschen Wehrmacht in B heran, veranlaßte Frau H, ihre Angaben zu ergänzen und holte ein versorgungsärztliches Gutachten ein. Der Versorgungsarzt führte aus, R H sei nach einjährigem Wehrdienst und nach weiterem etwa 1/2-jährigem Lazarettaufenthalt an einem inoperablen Magencarzinom gestorben, die Erkrankung sei anlagebedingt gewesen, sie habe einen schicksalsmäßigen Verlauf genommen, sie stehe zwar in einem zeitlichen, nicht aber in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Wehrdienst, auch eine Verschlimmerung der Krankheit durch Einflüsse des Wehrdienstes sei unwahrscheinlich. Das Versorgungsamt (VersorgA.) W erließ darauf am 29. April 1952 einen Bescheid "gemäß Art. 30 Abs. 4 KBLG"; es hob darin den Bescheid vom 12. November 1948 auf, weil die Voraussetzungen, die der Erteilung dieses Bescheides zugrunde gelegen hätten, sich als unzutreffend erwiesen hätten; der Witwe könne keine Rente gewährt werden, da der Tod ihres Ehemannes keine Schädigungsfolge im Sinne der versorgungsrechtlichen Vorschriften sei.
Die Berufung (nach altem Recht) gegen den Bescheid vom 29. April 1952 ("Berichtigungsbescheid, Zuungunstenbescheid") wies das Oberversicherungsamt (OVA.) W mit Urteil vom 10. April 1953 zurück. Frau H legte Rekurs beim Bayerischen Landesversicherungsamt (LVAmt) ein. Der Rekurs ging mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung (nach neuen Recht) auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) über. Das LSG. holte ein Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik in W ein; die Gutachter führten aus, R H sei wahrscheinlich an einem inoperablen Magencarzinom verstorben; es sei nicht anzunehmen, daß das Leiden durch den Wehrdienst entstanden sei, es sei auch nicht wahrscheinlich, daß der Wehrdienst das Leiden verschlimmert habe. Das LSG. wies mit Urteil vom 13. November 1957 die Berufung zurück. Nach dem ärztlichen Gutachten sei der Tod des R H nicht auf eine wehrdienstliche Schädigung zurückzuführen; der Beklagte habe zwar in dem Bescheid vom 12. November 1948 den Tod des R H als Folge einer Dienstbeschädigung anerkannt, der Witwe jedoch eine Rente aus Gründen, die in ihrer Person gelegen haben, versagt; der Beklagte habe aber die Anerkennung der Schädigungsfolge - wie ein gerichtliches Geständnis - widerrufen können, da eine Kriegsdienstbeschädigung nicht vorgelegen und damit die Anerkennung auf einem Irrtum beruht habe; der Beklagte habe die Anerkennung rechtswirksam widerrufen; die Witwe könne daher aus der Anerkennung keine Rechte mehr herleiten; auf die "strengen" Voraussetzungen für einen Zuungunstenbescheid nach Art. 30 Abs. 4 KBLG komme es nicht an. Das LSG. ließ die Revision zu.
Das Urteil des LSG. wurde der (damaligen) Klägerin Frau H am 2. Januar 1958 zugestellt. Frau H legte am 7. Januar 1958 Revision ein und beantragte,
1. das angefochtene Urteil und die diesem zugrunde liegenden Vorentscheidungen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenversorgung nach ihrem am 26. Januar 1943 verstorbenen Ehemann R H vom 1.3.1949 ab zu gewähren;
2. hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Revision wurde - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 2. April 1958 begründet: Das LSG. habe zu Unrecht Art. 30 Abs. 4 KBLG nicht angewandt; die Anerkennung habe nicht wie ein Zugeständnis nach § 290 der Zivilprozeßordnung (ZPO) durch Widerruf beseitigt werden können, sondern nur durch einen Rücknahmebescheid ("Berichtigungsbescheid") nach Art. 30 Abs. 4 KBLG; das LSG. habe daher prüfen müssen, ob die Anerkennung in dem Bescheid vom 12. November 1948 "zweifelsfrei" unrichtig gewesen sei; es habe aber insoweit keine ausreichenden Feststellungen getroffen und damit auch die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Klägerinnen setzten den Rechtsstreit nach dem Tode von Frau H als ihre Rechtsnachfolger fort.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 124 Abs. 2, 165, 153 SGG) einverstanden.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft; sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Die Revision ist sonach zulässig. Sie ist auch begründet.
Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten "gemäß Art. 30 Abs. 4 KBLG" vom 29. April 1952; in diesem Bescheid hat der Beklagte den Bescheid vom 12. November 1948, soweit er darin den Tod des Ehemannes der Frau H als Schädigungsfolge festgestellt (anerkannt) hat, zurückgenommen. Der Beklagte hat den Bescheid vom 12. November 1948 insoweit als rechtswidrig angesehen, weil der Sachverhalt darin nach seiner Ansicht unrichtig beurteilt worden ist; die Annahme, der Tod des R H sei Schädigungsfolge, habe nach den späteren Erhebungen der wahren Sach- und Rechtslage nicht entsprochen.
Das LSG. hat angenommen, der Bescheid vom 12. November 1948, in dem der Beklagte den Tod des R H als Schädigungsfolge festgestellt (anerkannt) hat, habe insoweit das "Zugeständnis einer rechtlich bedeutsamen Tatsache" enthalten, dieses Zugeständnis habe der Beklagte mit dem "Zuungunstenbescheid" vom 29. April 1952 rechtswirksam widerrufen. Das LSG. hat damit die Bescheide des Beklagten nicht richtig gewürdigt. Die Feststellung des Beklagten in dem Bescheid vom 12. November 1948, der Tod des Robert H sei Schädigungsfolge, ist keine prozeßrechtliche Erklärung im Sinne eines gerichtlichen Geständnisses; sie ist kein "Zugeständnis einer rechtserheblichen Tatsache", sie verliert nicht schon ihre rechtliche Wirkung, wenn sie unter den Voraussetzungen des § 290 ZPO im Rechtsstreit widerrufen wird. Der Bescheid vom 12. November 1948 ist ein Verwaltungsakt; er ist es nicht nur insoweit, als darin der Rentenanspruch der Witwe abgelehnt wird, sondern auch insoweit, als darin festgestellt (anerkannt) wird, der Tod des Ehemannes sei Schädigungsfolge; dieser Teil enthält einen selbständigen "Verfügungssatz", er trifft eine besondere Regelung, er ist ein feststellender, begünstigender Verwaltungsakt (vgl. auch BSG. 9 S. 80 (84) mit weiteren Hinweisen; Urteil des BSG. vom 24.2.1960, 9 RV 286/56; Haueisen, NJW. 1959 S. 697 ff.). Der Bescheid vom 12. November 1948 ist insoweit nach den §§ 77 SGG, 24 VerwVG ebenso wie nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen für die Beteiligten in der Sache bindend geworden, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist (vgl. auch BSG. 7 S. 8 (S. 11)). Der Beklagte hat danach, wenn er die Bindung an die Feststellung, daß der Tod des Ehemannes Schädigungsfolge sei, hat beseitigen wollen, nicht eine frühere Erklärung widerrufen, sondern den Bescheid vom 12. November 1948 zurücknehmen müssen. Der Beklagte hat dies mit dem Bescheid vom 29. April 1952 (Zuungunstenbescheid) auch getan, er hat die Rücknahme auf Art. 30 Abs. 4 KBLG gestützt. Das LSG. hat danach prüfen müssen, ob der Beklagte den Bescheid vom 12. November 1948 zu Recht zurückgenommen hat, d.h. ob insoweit die Voraussetzungen, die der Erteilung des Bescheides vom 12. November 1948 zugrunde gelegt worden sind, sich als unzutreffend erwiesen haben (Art. 30 Abs. 4 KBLG). Das LSG. hat zwar festgestellt, es habe keine Wehrdienstbeschädigung vorgelegen und die Anerkennung habe auf einem Irrtum der Versorgungsbehörde beruht; es hat daraus gefolgert, der Beklagte habe das "Zugeständnis der Tatsache", daß der Tod des Ehemannes Schädigungsfolge sei, rechtswirksam widerrufen; das LSG. hat indes, wie sich aus seinen weiteren Ausführungen ergibt, nur entschieden, daß die Voraussetzungen für die Anerkennung nicht vorgelegen haben, weil es nicht wahrscheinlich gewesen sei, daß die Krankheit des R H, die zu seinem Tod geführt hat, durch den Wehrdienst beeinflußt worden sei. Die medizinischen Unterlagen, auf die sich das LSG. gestützt hat, haben auch nur diese Feststellung zugelassen. Das LSG. hat dagegen nicht erörtert, ob sich die Feststellung, der Tod des Ehemannes sei Schädigungsfolge, als unrichtig erwiesen hat (vgl. BSG. 7 S. 103; 10 S. 209), weil es - zu Unrecht - der Meinung gewesen ist, es habe nicht prüfen müssen, ob die "strengen" Voraussetzungen für den Erlaß eines "Zuungunstenbescheides" nach Art. 30 Abs. 4 KBLG erfüllt gewesen seien. Das LSG. hat sonach zu Unrecht Art. 30 Abs. 4 KBLG nicht angewandt, sein Urteil beruht möglicherweise auf einen Verstoß gegen diese Vorschrift, die revisibles Recht betrifft (§ 162 Abs. 2 SGG). Die Revision ist deshalb begründet, das Urteil des LSG. ist aufzuheben. Für die Entscheidung darüber, ob der angefochtene Bescheid vom 29. April 1952 rechtmäßig ist, weil die tatsächlichen Voraussetzungen, von denen der Beklagte bei dem Bescheid vom 12. November 1948 ausgegangen ist, sich als unzutreffend erwiesen haben, reichen die Tatsachen, die das LSG. festgestellt hat, nicht aus. Die Sache ist deshalb an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen