Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenvorschüsse
Leitsatz (redaktionell)
1. Sowohl der Widerruf der Vorschußbewilligung als auch die Rückforderung der gezahlten Vorschüsse in einem Bescheid ist ein Verwaltungsakt.
2. Der Widerrufsvorbehalt gibt der Verwaltungsbehörde nicht das Recht, von ihm nach freiem Belieben Gebrauch zu machen.
3. Entspricht der Widerruf nicht pflichtgemäßen Verwaltungsermessen, dann darf zwar die Rente für die Zukunft versagt werden, nicht aber die Rückforderung der Vorschüsse erfolgen.
Normenkette
KOVVfG § 47 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Juni 1959 aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24. Februar 1955 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Im August 1947 beantragte der Kläger Versorgung nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) wegen Magenleidens. Der Facharzt für Chirurgie Dr. T stellte eine Magenausgangsverengung mit enormer Magenerweiterung nach mehrfachen Zwölffingerdarmgeschwüren und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v.H. fest. Die Landesversicherungsanstalt - KB-Abteilung - bewilligte dem Kläger am 9. August 1948 unter Vorbehalt des Widerrufs und der Rückforderung ab 1. September 1948 einen laufenden Vorschuß von 36,- DM monatlich auf die künftige Rente, der ab 1. Januar 1949 auf 10,- DM und ab 1. April 1951 nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) auf 20,- DM festgesetzt wurde.
Nach versorgungsärztlicher Untersuchung im September 1952 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 16. Oktober 1952 den Versorgungsantrag von 1947 ab, weil das Magenleiden mit dem Wehrdienst nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe. Gleichzeitig wurde die Rentenvorschußzahlung ab Ende Oktober 1952 eingestellt und der "zu Unrecht gezahlte Rentenvorschuß" von 794,- DM zurückgefordert. Die Berufung des Klägers ging bei Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) über. Der Kläger beantragte zuletzt die Aufhebung des Bescheides, soweit er die Rückforderung von 794,- DM aussprach. Das SG. entsprach diesem Antrag.
Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG.) das Urteil des SG. mit Urteil vom 11. Juni 1959 auf und wies die Klage ab. Die Versorgungsverwaltung sei nach § 47 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) zur Rückforderung der geleisteten Vorschüsse verpflichtet und berechtigt. Dieses Recht sei nicht verwirkt; denn die Verwaltung habe die Rückforderung nicht früher aussprechen können, weil es infolge der großen Zahl von Versorgungsanträgen nicht möglich gewesen sei, den Kläger früher zu untersuchen. Die Grundsätze in BSG. 7 S. 226 seien hier nicht anzuwenden.
Mit der zugelassenen Revision rügte der Kläger u.a. Verletzung des § 47 Abs. 1 VerwVG. Das LSG. irre, wenn es annehme, der Verwaltungsakt, mit dem Vorschüsse bewilligt wurden, sei von Anfang an rechtswidrig und der Versorgungsanspruch unbegründet gewesen. Gegenstand der Regelung vom 9. August 1948 sei nicht die Feststellung bestimmter Schädigungsfolgen oder der MdE., sondern die Bewilligung von Vorschüssen gewesen. Die Ausübung des Widerrufsrechts sei nur rechtmäßig, wenn sie pflichtgemäßem Verwaltungsermessen entspreche. Das habe das Bundessozialgericht (BSG.) schon verneint, wenn zwischen der Vorschußbewilligung und der Ablehnung des Rentenantrages zweieinhalb Jahre lagen; hier seien es mehr als vier Jahre gewesen. Diese Verzögerung falle allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung. Der Widerruf sei unter Mißbrauch des Ermessens erfolgt, und der Beklagte habe deshalb keinen Anspruch auf Rückzahlung.
Der Kläger beantragte, die Berufung des Beklagten unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG - begründet worden; sie ist daher zulässig (§§ 160, 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG). Die Revision ist auch sachlich begründet.
Im Bescheid des Beklagten vom 16. Oktober 1952 wurde zunächst der Widerruf der Vorschußbewilligung vom 9. August 1948 ausgesprochen, sodann wurden die Vorschüsse auf die künftige Rente als zu Unrecht geleistet zurückgefordert. Jede dieser Anordnungen stellt sich als die Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts und damit als Verwaltungsakt dar (BSG. Bd. 2 S. 188 (190) = SozR. SGG § 77 Bl. Da 1 Nr. 1, Bd. 7 S. 8, S. 226 (229), BVerwG in MDR 1960 S. 163).
Das LSG. ist davon ausgegangen, der Kläger habe die Vorschüsse von 794,- DM im Sinne des § 47 VerwVG zu Unrecht empfangen, weil ihm nach dem Bescheid vom 16. Oktober 1952 eine Rente nicht zugestanden habe. Hieraus allein hat aber das LSG. nicht schließen dürfen, daß der Kläger 794,- DM "zu Unrecht" erhalten habe. Zwar richtet sich die Klage nur noch gegen die Rückforderung des Rentenvorschusses von 794,- DM. Für die Beurteilung dieses Anspruchs kommt es aber entscheidend darauf an, ob der Beklagte berechtigt war, durch das Geltendmachen des Rückforderungsanspruchs in dem Bescheid vom 16. Oktober 1952 gleichzeitig auch den Bescheid vom 9. August 1948 zu widerrufen, auf dem die Zahlung laufender Rentenvorschüsse bis zum 30. September 1952 beruhte. Nur wenn dies zu bejahen ist, ist zu prüfen, ob der Beklagte überhaupt einen Rückforderungsanspruch hat und in welchem Umfange. Der Bescheid vom 9. August 1948 stellt einen Verwaltungsakt dar (vgl. BSG. 7 S. 226), der bis zu seiner rechtswirksamen Aufhebung als rechtmäßig zu gelten hat. Erst wenn der Beklagte diesen Bescheid rechtswirksam zurückgenommen hätte, wäre der Vorschußzahlung die rechtliche Grundlage entzogen worden. Der Bescheid vom 16. Oktober 1952 entbehrt aber insoweit der Rechtswirkung.
Zwar hatte sich der Beklagte den "Widerruf" der Vorschußbewilligung vorbehalten. Auch ein solcher Vorbehalt gibt aber der Verwaltungsbehörde nicht das Recht, von ihm nach freiem Belieben Gebrauch zu machen, der Widerruf kann nur dann als rechtmäßig angesehen werden, wenn seine Anwendung pflichtmäßigem Verwaltungsermessen entsprochen hat. Dabei ist unter Berücksichtigung aller Umstände abzuwägen, ob das Vertrauen, das der Leistungsempfänger in die Rechtmäßigkeit und den Bestand der Leistungsbewilligung setzte und setzen durfte, gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Wiederherstellung des dem Recht entsprechenden Zustandes Schutz verdient oder ob das Interesse des Einzelnen dem öffentlichen Interesse weichen muß. Hier ist der Kläger zwar bei Bewilligung der Vorschüsse darauf hingewiesen worden, daß er sie zurückzuzahlen habe, wenn sich herausstellen sollte, daß ein Versorgungsanspruch nicht oder nicht in Höhe der Vorschüsse bestehe. Er durfte also nicht von vornherein darauf vertrauen, diese Leistungen behalten zu dürfen. Andererseits waren ihm die Vorschüsse offensichtlich gerade zur Besserung seiner wirtschaftlichen Lage bewilligt worden, sie waren zum Verbrauch bestimmt. Es war nicht damit zu rechnen, daß der Kläger diese Leistungen sparen würde und sie deshalb leicht wieder zurückerstatten könne. Der Beklagte mußte davon ausgehen, daß die Rückzahlung bereits verbrauchter Vorschüsse für den Kläger eine zusätzliche Belastung darstellte. Je länger der Beklagte die endgültige Feststellung der Rente anstehen ließ, umsomehr stärkte er das Vertrauen des Klägers, er könne die Vorschüsse behalten, weil es nicht im Sinne der Kriegsopferversorgung liegen konnte, den Berechtigten in ständig wachsende Schulden zu verstricken. Wenn der Beklagte den Kläger - ohne stichhaltigeren Grund als den der Arbeitsüberlastung der Versorgungsbehörden - erst nach mehr als vierjähriger Vorschußzahlung untersuchen ließ und nunmehr feststellte, daß dem Kläger ein Versorgungsanspruch nicht zustand, so durfte er ihm wegen des Widerrufsvorbehalts zwar die Rente für die Zukunft versagen, es entsprach unter diesen Umständen aber nicht mehr pflichtgemäßem Verwaltungsermessen, gleichzeitig auch die bisher gezahlten Vorschüsse zu widerrufen und den Bescheid vom August 1948 für die Vergangenheit zum Nachteil des Klägers zu ändern. Die Rücknahme des Bescheides über laufende Rentenvorschüsse für die Zeit bis zur Feststellung der Rente ist deshalb rechtswidrig. Schon aus diesem Grunde fehlt die Voraussetzung für die Rückforderung der Vorschüsse nach § 47 Abs. 1 Satz 1 VerwVG. Ob die Rückforderung auch nach § 47 Abs. 3 Nr. 1 VerwVG ausgeschlossen wäre, bedarf hier keiner Entscheidung mehr.
Dieses Ergebnis entspricht auch der im Urteil vom 17. März 1960 - 8 RV 1321/57 - hervorgehobenen Erwägung, daß sich in § 86 Abs. 1 BVG eine ähnliche Regelung findet. Dort ist bestimmt, daß nach Inkrafttreten des BVG die auf Grund bisheriger versorgungsrechtlicher Vorschriften zu zahlenden Versorgungsbezüge solange weitergezahlt werden, bis die Bezüge nach dem BVG festgestellt sind. Damit würde, da die früheren Vorschriften mit dem Inkrafttreten des BVG aufgehoben und die alten Bescheide gegenstandslos geworden waren, als Übergang die Gewährung einer vorläufigen Rente zugelassen. Der Gesetzgeber hat dabei in § 86 Abs. 1 BVG bestimmt, daß eine aus den Vorschriften des BVG folgende Minderung oder Entziehung der Rente erst mit Ablauf des auf die Zustellung des Bescheides folgenden Monats eintreten solle. Ebenso wie hier die Gefahr einer Überzahlung vorläufiger Leistungen zu Lasten der Versorgungsverwaltung geregelt ist, muß sinngemäß diese Gefahr zu Lasten des Beklagten gehen, wenn er vorläufige Rentenvorschüsse zugelassen und über vier Jahre lang gewährt hat.
Die Revision war daher nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen