Leitsatz (redaktionell)
Die Anwartschaftsvergünstigungen der 1. VereinfV Art 19 vom 1945-03-17 kommen nur dann zugute, wenn der Versicherungsfall nach dem 1945-03-31 eingetreten ist.
Normenkette
SVVereinfV 1 Art. 19
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Dezember 1960 wird aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 6. August 1959 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger die versicherungsmäßigen Voraussetzungen für den Bezug einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erfüllt.
Der Kläger erkrankte im Alter von zwei Jahren an Kinderlähmung; seitdem ist er an beiden Beinen gelähmt. Er erlernte das Schneiderhandwerk und war bis zum Jahre 1919 als Schneidergeselle beschäftigt. Bis dahin wurden für ihn 236 Wochenbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet. Zwei weitere Wochenbeiträge leistete er freiwillig im Jahre 1930; damals war er selbständig tätig. Die Zeit von August 1938 bis Mai 1943 - während dieser Zeit war der Kläger als Schneider unselbständig beschäftigt - ist wiederum mit Pflichtbeiträgen belegt, für 152 Wochen im Markenverfahren und für 49 Wochen im Lohnabzugsverfahren. Im Jahre 1944 entrichtete er noch 48 freiwillige Wochenbeiträge für die Zeit von Juni 1943 an.
Im Mai 1943 erkrankte der Kläger an einer Infektion des rechten Zeigefingers, die er auf eine Verletzung durch einen Nadelstich zurückführt. Danach traten bei ihm Lähmungserscheinungen im Bereich des Schultergürtels und der Arme auf. Er hat seitdem seinen Beruf nicht mehr ausgeübt und ist erwerbsunfähig.
Im Jahre 1948 wandte sich der Kläger an die - jetzige - Verwaltungs-Berufsgenossenschaft, um die Anerkennung der Lähmung der Arme als Folge eines Arbeitsunfalls zu erreichen. Die Berufsgenossenschaft verneinte den ursächlichen Zusammenhang zwischen Lähmung und Nadelstich und lehnte demgemäß den Entschädigungsanspruch des Klägers ab. Der Bescheid wurde im Verfahren vor dem Oberversicherungsamt D und dem Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen bestätigt.
Im Juli 1957 beantragte der Kläger, ihm Rente aus der Arbeiterrentenversicherung zu gewähren. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 9. Juni 1958 ab, weil der Kläger nach den beim Eintritt des Versicherungsfalles - im Jahre 1943 - geltenden Vorschriften die erforderliche Wartezeit von 60 Beitragsmonaten aus Beiträgen mit anwartschaftserhaltender Wirkung nicht zurückgelegt habe.
Die hiergegen gerichtete Klage ist vom Sozialgericht (SG) Düsseldorf durch Urteil vom 6. August 1959 abgewiesen worden. Das SG hat sich der Begründung des Bescheides angeschlossen; es hat die Wartezeit auch nicht wegen des von dem Kläger behaupteten Arbeitsunfalls - nach § 1252 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) - als erfüllt angesehen, weil es nicht hinreichend wahrscheinlich sei, daß der angebliche Nadelstich das Leiden des Klägers hervorgerufen oder verschlimmert habe.
Auf die Berufung des Klägers hin hat das LSG Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 7. Dezember 1960 die Beklagte zur Gewährung einer Versichertenrente vom 1. Juli 1957 an verurteilt. Es hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Der Anspruch des Klägers sei nach dem vor dem 1. Januar 1957 geltenden Recht zu beurteilen, weil der Versicherungsfall vor dieser Zeit eingetreten sei (Art. 2 § 5 des ArVNG). Art. 2 § 8 ArVNG führe zu keinem anderen Ergebnis; denn diese Vorschrift betreffe nur Versicherungsfälle nach dem 31. März 1945. Da der Kläger schon im Jahre 1943 erwerbsunfähig geworden sei, müsse im vorliegenden Streitfalle altes Recht angewendet werden. Dabei könne offen bleiben, ob sich dies aus Satz 1 oder aus Satz 3 des Art. 2 § 8 ArVNG ergebe. Zu dem anzuwendenden alten Recht gehöre auch die Erste Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (1. VereinfVO) vom 17. März 1945. Nach deren Art. 19 und 26 gelte die Anwartschaft nicht nur aus den von 1938 bis 1943 entrichteten, sondern auch aus den Beiträgen von 1915 bis 1919 als erhalten; mit den 390 im Markenverfahren und den 49 im Lohnabzugsverfahren entrichteten Wochenbeiträgen habe der Kläger die Wartezeit erfüllt. Von der Anwartschaftsvergünstigung des Art. 19 der 1. VereinfVO sei der Kläger nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Versicherungsfall vor dem 1. April 1945 eingetreten sei. Die Vergünstigung komme ihm nach Art. 26 der VO zugute; denn am 31. März 1945 sei ein sein Versicherungsverhältnis abschließender rechtskräftiger Bescheid noch nicht ergangen gewesen. Art. 26 und Art. 19 widersprächen sich nur scheinbar; in Wirklichkeit seien die beiden Grenznormen gut miteinander zu vereinbaren. Die gegenüber dem früheren Recht günstigere Anwartschaftsregelung des Art. 19 gelte für seit dem 1. April 1945 eingetretene Versicherungsfälle unbedingt, also auch dann, wenn ein das Versicherungsverhältnis rechtskräftig abschließender Bescheid ergangen sei. Art. 26 besage darüber hinaus, daß die Anwartschaftsvergünstigung des Art. 19 auch für alle vor dem 1. April 1945 eingetretenen Versicherungsfälle gelte, für die bis zum 31. März 1945 noch keine rechtskräftige Entscheidung vorgelegen habe. Der Rentenanspruch des Klägers sei demnach begründet, ohne daß es darauf ankomme, ob seine Erwerbsunfähigkeit durch einen Arbeitsunfall verursacht worden sei und aus diesem Grunde die Wartezeit als erfüllt gelte. Im übrigen habe das SG diese Frage zutreffend verneint.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine unrichtige Anwendung des Art. 2 § 8 ArVNG und der Art. 19 und 26 der 1. VereinfVO. Sie führt aus: Die Anwendbarkeit des vor dem 1. Januar 1957 geltenden Rechts ergebe sich nicht aus Art. 2 § 8, sondern aus Art. 2 § 5 mit der Einschränkung des Art. 2 § 8 Satz 1 ArVNG. Zur Zeit des Versicherungsfalles - im Jahre 1943 - habe der Kläger keinen Rentenanspruch gehabt, weil er die Wartezeit aus anwartschaftserhaltenden Beiträgen nicht erfüllt habe. Auf die 1. VereinfVO komme es nicht an; denn diese sei erst nach dem Eintritt des Versicherungsfalles erlassen worden. Zudem gelte Art. 19 dieser Verordnung nur für nach dem 1. April 1945 eingetretene Versicherungsfälle.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Düsseldorf vom 6. August 1959 zurückzuweisen.
Der Kläger hat durch seine früheren Prozeßbevollmächtigten den Antrag gestellt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist jetzt nicht mehr durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit, aus dem der Kläger einen Anspruch auf Rente erhebt, ist im Jahre 1943 eingetreten. An diese Feststellung des LSG ist das Revisionsgericht gebunden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Für Rentenansprüche aus solchen - vor dem Inkrafttreten des ArVNG (1. Januar 1957) eingetretenen - Versicherungsfällen sind nach Art. 2 § 5 dieses Gesetzes die bis dahin geltenden Vorschriften maßgebend, soweit nichts anderes bestimmt ist. Damit wird dem Grundsatz Rechnung getragen, daß Ansprüche aus der Rentenversicherung im allgemeinen nach dem zur Zeit des Versicherungsfalls geltenden Recht zu beurteilen sind. Als eine Vorschrift, die ausnahmsweise auf einen Altfall - wie den vorliegenden - das neue Recht für anwendbar erklären könnte, kommt Art. 2 § 8 ArVNG in Betracht. Seine Voraussetzungen liegen jedoch - darin stimmen das LSG und die Beteiligten jedenfalls im Ergebnis überein - nicht vor. Die für die Erfüllung der Wartezeit günstigere Vorschrift des neuen Rechts (§ 1249 RVO nF) kann dem Kläger nach Art. 2 § 8 Satz 1 ArVNG nicht zugute kommen, weil der Versicherungsfall nicht nach dem 31. März 1945, sondern vorher eingetreten ist. Aus den Sätzen 2 und 3 des Art. 2 § 8 ArVNG läßt sich die Anwendbarkeit des § 1249 RVO nF ebenfalls nicht herleiten. Deshalb bedarf es keiner Ausführungen über das Verhältnis dieser beiden Sätze zueinander. Es verbleibt demnach bei der Regel des Art. 2 § 5 ArVNG, nach der für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor 1957 die bis dahin geltenden Vorschriften maßgebend sind.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt somit von der Anwendbarkeit des Art. 19 der 1. VereinfVO ab; denn ohne die Anwartschaftsvergünstigung dieser Vorschrift sind für den Kläger nach früherem Recht - auch darin stimmen die Beteiligten überein - die beitragsmäßigen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Rente nicht gegeben. Nach § 1253 RVO in der im Jahre 1943 geltenden Fassung (Verordnung des Reichsarbeitsministers über die Änderung, die neue Fassung und die Durchführung von Vorschriften der Reichsversicherungsordnung, des Angestelltenversicherungsgesetzes und des Reichsknappschaftsgesetzes vom 17. Mai 1934 - RGBl I 419) erhielt ein invalider Versicherter eine Rente, wenn die Wartezeit erfüllt und die Anwartschaft erhalten war. Die Wartezeit für die Invalidenrente war erfüllt, wenn mindestens 260 Wochenbeiträge auf Grund der Versicherungspflicht entrichtet waren (§ 1262 RVO idF des § 15 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 - RGBl I 1393). Zur Erhaltung der Anwartschaft bedurfte es der fortlaufenden Entrichtung von jährlich mindestens 26 Wochenbeiträgen oder der sogenannten Halbdeckung (§§ 1264, 1265 RVO aF). Daneben bestand im Jahre 1943 die Anwartschaftsvorschrift des § 3 des Gesetzes über die Verbesserung der Leistungen in der Rentenversicherung vom 24. Juli 1941 (RGBl I 443); danach galt für Versicherungsfälle seit dem 26. August 1939 die Anwartschaft aus allen Beiträgen als erhalten, die für die Zeit vom 1. Januar 1924 bis zum Ablauf des auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahres entrichtet worden waren. - Nach den angeführten Vorschriften sind im vorliegenden Fall die bis 1919 entrichteten Beiträge auf die Wartezeit nicht anrechenbar; aus ihnen war die Anwartschaft nicht erhalten, weil nach 1919 nicht mehr laufend Beiträge entrichtet wurden. Die Anwartschaft konnte nach Ablauf des Jahres 1937 auch nicht durch die später - von 1938 bis 1943 - entrichteten Beiträge wiederaufleben (§ 116 Abs. 2 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21. Dezember 1937 - RGBl I 1393). Ebensowenig galt die Anwartschaft im Wege der Halbdeckung als erhalten; hierzu wären 702 Wochenbeiträge erforderlich gewesen, insgesamt hat der Kläger jedoch nur 487 Wochenbeiträge entrichtet. Im Jahre 1943 war demnach die Anwartschaft lediglich aus den seit dem 1. Januar 1924 entrichteten 251 Wochenbeiträgen erhalten. Damit war keine Wartezeit von 260 Beitragswochen erfüllt.
Die Anwartschaftsvergünstigung des Art. 19 der 1. VereinfVO, die sich im Falle ihrer Anwendbarkeit auch auf die von 1915 bis 1919 entrichteten Beiträge erstrecken würde, kommt dem Kläger entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts nicht zugute. Die Vorschrift ist nicht anwendbar, weil es an der Voraussetzung fehlt, daß der Versicherungsfall nicht vor dem 1. April 1945 eingetreten sein darf. Art. 26, der den Art. 19 unter einer bestimmten Voraussetzung "auf alle Versicherungsfälle" für anwendbar erklärt, enthält nicht - das LSG versucht seine gegenteilige Auffassung mit einer, wie es meint, sinnvollen Auslegung der Vorschriften zu rechtfertigen - eine Erweiterung des Art. 19, vielmehr stehen die beiden Vorschriften, wie der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 15. Februar 1962 (SozR 1. VereinfVO Art. 19 Nr. 3) ausgeführt hat, zueinander in Widerspruch. Neue Rechtsvorschriften beeinflussen Rechtsbeziehungen, die in der Vergangenheit liegen und - wie hier das Versicherungsverhältnis des Klägers - abgeschlossen sind, in der Regel nur dann, wenn dies unmißverständlich in der neuen Vorschrift angeordnet ist. An einer solchen unmißverständlichen Anordnung fehlt es in der 1. VereinfVO. Es bestehen zwei inhaltlich nicht miteinander zu vereinbarende Normen, von denen keine der anderen aus Gründen der Spezialität oder Subsidiarität vor- oder nachgeht. Deshalb gilt die Anwartschaftsvergünstigung des Art. 19 nur für Versicherungsfälle außerhalb des Kollisionsbereichs der beiden Normen, also für solche nach dem 31. März 1945. Auf den im Jahre 1943 eingetretenen Versicherungsfall des Klägers ist sie nicht anwendbar.
Hiernach kann unerörtert bleiben, ob - wie die Beklagte meint - noch aus anderen Gründen Bedenken gegen die Anwendbarkeit der 1. VereinfVO bestehen.
Die von dem Kläger zu erfüllende Wartezeit könnte schließlich nach § 1252 Nr. 1 RVO i. V. m. Art. 2 § 10 Abs. 1 Buchst. a ArVNG als erfüllt gelten, wenn die Erwerbsunfähigkeit des Klägers die Folge eines Arbeitsunfalls wäre. Das LSG hat sich jedoch der Feststellung des SG, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem vom Kläger behaupteten Nadelstich und den Lähmungserscheinungen im Bereich des Schultergürtels und der Arme nicht hinreichend wahrscheinlich ist, angeschlossen. Diese Feststellung bindet den erkennenden Senat, weil der Kläger hiergegen keine Revisionsgründe vorgebracht hat. Unter diesen Umständen fehlt es an der Voraussetzung, die nach § 1252 Nr. 1 RVO zur Fiktion der Erfüllung der Wartezeit führen könnte.
Nach alledem muß das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen die klagabweisende Entscheidung des SG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen