Orientierungssatz
Fehlende Entscheidung über Beweisantrag - schriftlicher Antrag nach § 109 SGG:
1. § 109 SGG ist auf jeden Fall verletzt, wenn das Tatsachengericht weder durch besonderen Beschluß noch in den Urteilsgründen über einen Antrag nach § 109 SGG entscheidet (vgl BSG 1959-11-04 9 RV 862/56 = SozR Nr 26 zu § 109 SGG).
2. Der Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG kann auch im Verfahren mit mündlicher Verhandlung wirksam schriftlich gestellt werden; unter Umständen muß er sogar schon vor der mündlichen Verhandlung gestellt werden, weil andernfalls dem Kläger vom Gericht grobe Nachlässigkeit oder Verschleppungsabsicht vorgeworfen und der Antrag deshalb nach § 109 Abs 2 SGG abgelehnt werden könnte.
Normenkette
SGG § 109
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.12.1970) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Dezember 1970 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger leistete ab 1942 Wehrdienst, erlitt 1944/45 mehrere leichte Verwundungen, geriet 1945 in russische Kriegsgefangenschaft und wurde aus dieser im Januar 1949 nach Torgau entlassen. Er befindet sich seit 1950 in der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahre 1954 wurde beim Kläger vom Gesundheitsamt D eine Lungen-Tuberkulose (Tbc) festgestellt. Mit Bescheid vom 1. Juli 1965 (Antrag April 1964) anerkannte das Versorgungsamt "belanglose kleine reizlose Narben am linken Arm und Rücken" als Schädigungsfolge, lehnte aber die Gewährung von Rente und die Anerkennung der Lungen-Tbc als Schädigungsfolge ab. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 12.10.1965). Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten am 10. Oktober 1968 unter zusätzlicher Anerkennung einer Lungen-Tbc als Schädigungsfolge zur Rentengewährung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. Es stützte sich dabei auf das Gutachten des Dr. A vom 22. Mai 1968. Während des Berufungsverfahrens legte der Kläger Anschlußberufung ein. Das Landessozialgericht (LSG) erhob Beweis durch Einholung eines Gutachtens bei Dr. B/Dr. L (Gutachten vom 21.4.1970) und hörte Prof. Dr. W gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach Aktenlage (Gutachten vom 15.9.1970). Mit Schreiben vom 4./7. Dezember 1970 (nach Terminsladung) beantragte der Kläger, den auf 10. Dezember 1970 anberaumten Verhandlungstermin zu vertagen und gemäß § 109 SGG noch eine röntgenologische Untersuchung durch Prof. Dr. W anzuordnen, um dem Gutachter Gelegenheit zu geben, das Alter der Lungenveränderungen anhand eigener Aufnahmen zu überprüfen. Der Vorsitzende des erkennenden Senats des LSG verfügte am 9. Dezember 1970, daß der Termin vom 10. Dezember 1970 bestehen bleibe, und ließ den Prozeßbevollmächtigten des Klägers fernmündlich hiervon benachrichtigen. In der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 1970 wurde dem Beklagten eine Durchschrift des klägerischen Schriftsatzes vom 4. Dezember 1970 ausgehändigt. Der Kläger beantragte, die Berufung des Beklagten zurückzuweisen und den Beklagten im Wege der Anschlußberufung zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1968 Rente nach einer MdE um 60 v.H. zu gewähren. Aus der Verhandlungsniederschrift ergibt sich nicht, daß der Kläger den Antrag, nach § 109 SGG Prof. Dr. W als Gutachter zu hören, in der Verhandlung wiederholt hat. Das LSG wies am 10. Dezember 1970 auf die Berufung des Beklagten die Klage ab, die Anschlußberufung des Klägers wies es zurück. Hinsichtlich des Sachverhalts verwies es auch auf den Inhalt der Streitakten. Den Antrag des Klägers vom 4. Dezember 1970 erwähnte es nicht und entschied auch nicht über ihn.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger Verstöße des LSG gegen die §§ 103, 109 SGG. Er trägt vor, das LSG habe den Antrag vom 4. Dezember 1970 nicht beachtet und nicht über ihn entschieden, obwohl er erforderlich und sachdienlich gewesen sei, weil das LSG mit Beschluß vom 23. Juni 1970 von Prof. Dr. W nur ein Gutachten nach Aktenlage eingeholt habe. Die Übergehung des Antrags verstoße auch gegen die Sachaufklärungspflicht des Gerichts. Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10. Dezember 1970 den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er bringt vor: Der Kläger habe den Antrag nach § 109 SGG in der mündlichen Verhandlung nicht wiederholt bzw. nicht ausdrücklich aufrechterhalten. Darin könne eine Zurücknahme des Antrags erblickt werden. Jedenfalls aber habe der Kläger bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung nicht gerügt, daß das LSG auf seinen Antrag nichts veranlaßt habe, er habe dadurch sein Rügerecht nach § 202 SGG, § 295 der Zivilprozeßordnung verloren; auch die Sachaufklärungsrüge greife nicht durch.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der auch vorliegt (§§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 164, 166 SGG).
Zutreffend rügt die Revision, daß das LSG über den Antrag vom 4. Dezember 1970, Prof. Dr. W nach § 109 SGG ergänzend zu hören, nicht entschieden und daher gegen diese Vorschrift verstoßen habe. Unerheblich ist, ob dem Antrag nach § 109 SGG hätte stattgegeben werden müssen oder ob das LSG den Antrag etwa deshalb, weil Prof. Dr. W in der Berufungsinstanz bereits nach § 109 SGG - wenn auch nur nach Aktenlage - gehört worden ist, oder auch aus anderen Gründen hätte ablehnen dürfen (Entscheidungen des Bundessozialgerichts - BSG - SozR Nr. 14, 18 zu § 109 SGG). Entscheidend ist vielmehr, daß das Berufungsgericht weder durch besonderen Beschluß noch in den Urteilsgründen über den Antrag nach § 109 SGG entschieden hat (BSG SozR Nr. 26, 35 zu § 109 SGG). Zu einer solchen Entscheidung ist das LSG aber nach § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG verpflichtet gewesen, solange der Kläger den Antrag nicht ausdrücklich zurückgenommen hatte oder nicht nach den gesamten Umständen anzunehmen war, daß er ihn nicht mehr aufrechterhält. Da der Kläger hier den (zweiten) Antrag nach § 109 SGG auf Anhörung von Prof. Dr. W schriftlich erst wenige Tage (Datum 4. Dezember 1970) vor der mündlichen Verhandlung gestellt hat und die Mehrfertigung dieses Schreibens dem Beklagten in der mündlichen Verhandlung übergeben worden ist, hätte das LSG, falls es den Antrag als stillschweigend zurückgenommen angesehen und deshalb nicht über ihn entschieden hätte, mindestens darlegen müssen, welche Umstände den Schluß zugelassen hätten, der Kläger habe den Antrag "fallengelassen". Das LSG hat dies jedenfalls nicht schon deshalb annehmen dürfen, weil der Kläger den kurz zuvor schriftlich gestellten Antrag hier möglicherweise nicht auch in der mündlichen Verhandlung gestellt (wiederholt) hat. Der Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG kann auch im Verfahren mit mündlicher Verhandlung wirksam schriftlich gestellt werden (BSG SozR Nr. 17 zu § 169 SGG); unter Umständen muß er sogar schon vor der mündlichen Verhandlung gestellt werden, weil andernfalls dem Kläger vom Gericht grobe Nachlässigkeit oder Verschleppungsabsicht vorgeworfen und der Antrag deshalb nach § 109 Abs. 2 SGG abgelehnt werden könnte (vgl. BSG SozR Nr. 19, 24 zu § 109 SGG). Da das Gericht über einen schriftlich gestellten Antrag auch schon vor der mündlichen Verhandlung durch Beschluß entscheiden kann, darf es von einer Entscheidung - durch Beschluß oder in den Urteilsgründen - nicht schon deshalb absehen, weil der Antrag nicht auch in der mündlichen Verhandlung gestellt (wiederholt) worden ist, der wirksam schriftlich gestellte Antrag ist damit nicht "unwirksam" geworden.
Der Kläger hat den Antrag hier auch nicht etwa deshalb in der mündlichen Verhandlung wiederholen müssen, weil der Vorsitzende nach Eingang des Schreibens vom 4. September 1970 dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers hat mitteilen lassen, der Termin zur mündlichen Verhandlung bleibe aufrechterhalten. Selbst wenn dem Kläger damit erkennbar geworden wäre, daß dem Antrag nach § 109 SGG nach der Auffassung des Vorsitzenden nicht entsprochen werden solle, so hätte das weder die Wirksamkeit dieses Antrags noch die Pflicht des Gerichts zur Entscheidung über diesen Antrag berührt.
Schließlich trifft es auch nicht zu, daß der Kläger, wie der Beklagte meint, das Recht zur Rüge eines Verstoßes des LSG nach § 109 SGG schon im Berufungsverfahren verloren habe. Der Kläger hat einen Verstoß des LSG gegen § 109 SGG nicht rügen können, solange eine Entscheidung über diesen Antrag, die das LSG auch erst im Urteil hätte treffen können, noch nicht vorgelegen hat.
Da das LSG gegen § 109 SGG verstoßen und der Kläger diesen Mangel gerügt hat, ist die Revision statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG und auch begründet. Deshalb ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Es kann dahingestellt bleiben, ob auch die Rüge eines Verstoßes gegen § 103 SGG durchgreift.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen