Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermessensausübung im Rahmen von § 45 SGB 10

 

Leitsatz (amtlich)

Das Gericht darf einen Verwaltungsakt, der einen rechtswidrigen Verwaltungsakt zurücknimmt, jedenfalls dann nicht allein wegen fehlender Ermessensausübung aufheben, wenn es selbst keine Ermessensgesichtspunkte feststellt.

Gesichtspunkte, die die gerichtlich voll überprüfbare Interessenabwägung bestimmen, sind nicht zugleich Ermessensgesichtspunkte.

 

Orientierungssatz

Bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB 10 auf dem Gebiet des Versorgungsrechts verbleibt im Regelfall kein Gestaltungsspielraum für eine Ermessensausübung. Das gilt auch im Schwerbehindertenrecht.

 

Normenkette

SGB 10 § 45 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 30.03.1987; Aktenzeichen L 2a Vsb 86/86)

SG Kiel (Entscheidung vom 29.05.1986; Aktenzeichen S 10 Vsb 141/85)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Beklagte die Anerkennung des Klägers als Schwerbehinderten zurücknehmen durfte.

Das Versorgungsamt hatte zunächst auf den Antrag des Klägers verschiedene Behinderungen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit -MdE- (jetzt Grad der Behinderung -GdB-) von 30 vH festgestellt. Auf den Widerspruch des Klägers, mit dem er einen höheren Grad der Behinderung geltend machte, erkannte das Versorgungsamt mit Abhilfebescheid vom 27. Dezember 1983 unter anderem einen bereits operierten Leistenbruch, der nach dem ersten Bescheid nicht als Behinderung bewertet wurde, als weitere Behinderung an und stellte die MdE mit 50 vH sowie die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" fest. Auf Weisung des Landesversorgungsamtes, an das die Akten weitergeleitet worden waren, weil der Kläger seinen Widerspruch nicht für erledigt erklärt hatte, nahm das Versorgungsamt nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 12. März 1985 den Bescheid vom 27. Dezember 1983 (Abhilfebescheid) mit Wirkung für die Zukunft insoweit zurück, als es nunmehr das Vorliegen eines Leistenbruchs als Behinderung verneinte, die MdE auf 40 vH festsetzte und außerdem feststellte, daß die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" nicht vorgelegen haben. Mit Bescheid vom 4. April 1985 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat nach Einholung von Sachverständigengutachten die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Mai 1986). Auf die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) den Bescheid vom 12. März 1985 sowie den Widerspruchsbescheid vom 4. April 1985 aufgehoben. Es hat die angefochtenen Bescheide bereits deshalb als rechtswidrig angesehen, weil der Beklagte sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe (Urteil vom 30. März 1987).

Dagegen wendet sich der Beklagte mit der vom LSG zugelassenen Revision. Er ist der Auffassung, daß er sein Ermessen nach den eindeutigen Feststellungen zur Höhe der MdE und der Anhörung des Klägers fehlerfrei ausgeübt habe, weil die Rücknahme der Anerkennung als Schwerbehinderter mit Wirkung für die Zukunft die einzig richtige Entscheidung gewesen sei. Es seien keine Gründe erkennbar, weshalb das Vertrauen des Klägers gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme eines unrichtigen Verwaltungsaktes schutzwürdig sei. Soweit das LSG Gesichtspunkte aufgezeigt habe, die bei der Ermessensabwägung zu berücksichtigen seien, träfen diese im Falle des Klägers von vornherein nicht zu. Es könne nicht verlangt werden, daß die Verwaltung bei Ermessensentscheidungen alle nur denkbaren Argumente ohne jeden konkreten Fallbezug anführe. Der Kläger habe keine Gründe dafür, daß sein Vertrauen schutzwürdig sei. Im Gegenteil sei davon auszugehen, daß der Kläger zumindest hinsichtlich des Leistenbruchs gewußt habe, daß die Anerkennung als Behinderung zu Unrecht erfolgt sei, weil nach der vorangegangenen Operation ein Leistenbruch nicht mehr bestanden habe. Es sei ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht, wenn das LSG diesen Sachverhalt im Gegensatz zum SG nicht festgestellt habe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bestreitet gewußt zu haben, daß die Anerkennung des Leistenbruchs als Behinderung zu Unrecht erfolgt sei.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist in dem Sinne erfolgreich, daß das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist. Die getroffenen Tatsachenfeststellungen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Das LSG ist zunächst mit der Vorinstanz und in Übereinstimmung mit den Beteiligten zu Recht davon ausgegangen, daß die Frage, ob der Beklagte den zugunsten des Klägers erteilten Abhilfebescheid noch im Laufe des Widerspruchsverfahrens teilweise zurücknehmen durfte, sich allein nach § 45 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) richtet (zur sog. reformatio in peius im Vorverfahren vgl Stelkens/Bonk/Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl 1983, § 48 RdNr 10 a). Nach § 45 Abs 1 SGB X darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt) nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 dieser Vorschrift ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Das LSG hat zu Unrecht gemeint, die Frage offenlassen zu können, ob der dem Kläger erteilte Abhilfebescheid rechtswidrig gewesen ist. Es durfte die angefochtenen Bescheide nicht allein wegen fehlerhafter Ermessensausübung aufheben.

Bei der Sachlage dieses Falles kann offen bleiben, ob ein nach § 45 SBG X erlassener Rücknahmebescheid, der nicht erkennbar auf einer Ermessensabwägung beruht, stets allein deswegen aufzuheben ist (BSG SozR 1300 § 45 Nrn 32 und 39) oder ob er nur dann aufgehoben werden darf, wenn feststeht, daß der berichtigte Verwaltungsakt unrichtig war, die sonstigen Voraussetzungen für seine Aufhebung gegeben sind und schließlich noch Raum für die Ausübung von Ermessen bleibt (BSGE 63,37 = SozR 1300 § 45 Nr 34; Urteil vom 17. April 1986 - 7 RAr 127/84 - = Die Beiträge 1986, 254). Das LSG hat in diesem Fall nicht erkannt, daß - bei unterstellter Unrichtigkeit des Abhilfebescheides - es nicht im Ermessen der Verwaltung stände, von der Rücknahme abzusehen, so daß entschieden werden muß, ob die sonstigen Voraussetzungen für eine Rücknahme gegeben waren.

Der Senat hält an seiner im Urteil vom 25. Juni 1986 (BSGE 60, 147 = SozR 1300 § 45 Nr 24) zum Ausdruck gebrachten Auffassung fest, daß bei der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 45 SGB X auf dem Gebiet des Versorgungsrechts im Regelfall kein Gestaltungsspielraum für eine Ermessensausübung verbleibt. Das gilt auch im Schwerbehindertenrecht. Wie die Revision zu Recht ausführt, wäre das Vertrauen des Klägers auf die Richtigkeit des Abhilfebescheides nicht schutzwürdig; damit wäre die Rücknahme nicht nach der gemäß § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X vorzunehmenden Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der richtigen Entscheidung ausgeschlossen, falls die MdE zu Unrecht mit 50 vH statt mit 40 vH bewertet und deshalb mangels gesetzlicher Voraussetzungen auch das Merkzeichen "G" zu Unrecht festgestellt worden ist. Bei der Sachlage dieses Falles ist binnen der - hier eingehaltenen - Zwei-Jahres-Frist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X der unrichtige Bescheid für die Zukunft zurückzunehmen; denn nach der Abwägung verbleiben keine Gesichtspunkte, die allein im Ermessenswege berücksichtigt werden könnten. Um eine Berichtigung für die Vergangenheit und damit um einen Vertrauensschutz für die Zeit vor der Rücknahme geht es hier nicht. Auch der Kläger hat nur dargelegt, warum er auf die Richtigkeit des Verwaltungsaktes vertraut hat. Er hat keine Gesichtspunkte aufgezeigt, die dafür sprechen, daß sein Vertrauen in die Zukunft schutzwürdig wäre. Insbesondere ist weder vorgetragen noch festgestellt, daß der Kläger, dem durch die Zuerkennung des Schwerbehindertenstatus Vergünstigungen auf verschiedenen Rechtsgebieten zukämen, im Vertrauen auf die Richtigkeit Dispositionen in einzelnen Bereichen getroffen hätte, die nicht oder nur schwer wieder rückgängig gemacht werden könnten. Es spricht nichts dafür, dem Kläger die mit der Anerkennung als Schwerbehinderter verbundenen Vorteile auch dann für die Zukunft zu belassen, wenn er tatsächlich nicht schwerbehindert ist. Soweit das LSG einzelne Gesichtspunkte aufgezeigt hat - wie Zeitablauf, Umfang und Gewicht der Fehlentscheidung, Verantwortungszuweisung -, fließen sie in die vorzunehmende Abwägung ein und ergeben ebenfalls nicht, daß das Vertrauen des Klägers schutzwürdig wäre. Das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Berichtigung überwiegt so klar, daß eine dennoch zugunsten des Klägers ausfallende Ermessensentscheidung nicht in Betracht kommt.

Das LSG wird nunmehr festzustellen haben, ob der Abhilfebescheid rechtswidrig war. Es hat auch über die Kosten des Verfahrens abschließend zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649107

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