Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Westfalen |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 1999 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Der im März 1940 geborene Kläger bezieht seit Oktober 1990 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Im August 1996 erkannte die Süddeutsche Metall-BG bei ihm eine Berufskrankheit nach Nr 2301 der Anlage zur BKVO (Lärmschwerhörigkeit mit Innenohrschwerhörigkeit und Ohrgeräuschen beidseits) ohne rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit und damit ohne Anspruch auf Rentenzahlung an.
Den im Dezember 1995 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte – nach Begutachtung durch den Chirurgen Dr. V. und die Neurologin und Psychiaterin Dr. M. – mit Bescheid vom 14. Juni 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 1997 ab. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 27. Februar 1998; Urteil des LSG vom 17. Dezember 1999). Das LSG hat sein Urteil im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger sei nicht erwerbsunfähig; denn die ihm zur Vermeidung von Erwerbsunfähigkeit zumutbaren Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts könne er noch vollschichtig in wechselnder Körperhaltung zwischen Gehen, Stehen und Sitzen verrichten. Zu dieser Leistungsbeurteilung mit einer sogar noch bestehenden Einsatzfähigkeit für mittelschwere Arbeiten seien im wesentlichen übereinstimmend das im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte orthopädische Gutachten des Sachverständigen Dr. A. und das im Berufungsverfahren gemäß § 109 SGG erstellte Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. H. gekommen. Prof. Dr. H. habe ein diffuses chronifiziertes Ganzkörperschmerzsyndrom, Bewegungseinschränkung und Funktionsstörung des rechten Ellenbogengelenks, des rechten Unterarms und des rechten Handgelenks nach operativ versorgtem Speichenbruch mit Ellenbogengelenkumformung, eine Einschränkung der Drehbeweglichkeit der Hüftgelenke, eine Muskelminderung am linken Bein nach dreimaliger arthroskopischer Kniegelenksoperation, röntgenologisch fortgeschrittene umformende Veränderungen der unteren Halswirbelsäule und leichte Fehlhaltung des Rumpfes mit Vertiefung der Brustwirbelsäule beschrieben und ausgeführt, daß sich für den Bereich der Kniegelenke kein klinisch auffälliger Befund mehr feststellen lasse, mithin eine Besserung gegeben sei. Auch anläßlich der Untersuchung durch Dr. A. habe sich lediglich ein noch leichtgradiger Erguß des linken Kniegelenks mit Muskelminderung ergeben; die von Dr. V. geäußerte Auffassung, daß der operativ bedingte Reizzustand des linken Kniegelenks sich zurückbilden werde, habe sich demnach bestätigt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme könne der Kläger auch noch täglich viermal eine Wegstrecke von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand zurückzulegen. Daß die Versorgungsverwaltung das Merkzeichen „G” beim Kläger angenommen habe, beruhe auf dem Befundbericht des den Kläger behandelnden Dr. T., Facharzt für Orthopädie, vom 8. Juli 1988; dessen Einschätzungen hätten aber durch die Beweisaufnahme in keiner Weise bestätigt werden können. Übereinstimmend hätten die neurologischen Untersuchungen des Klägers durch Dr. M., Dr. A. und Prof. Dr. H. auch keine Nachweise einer Wurzelreiz- bzw Ausfallsymptomatik im HWS- und LWS-Bereich ergeben. Eine weitere (vom Kläger beantragte) Sachaufklärung durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens sei auch unter Berücksichtigung der Darlegungen von Prof. Dr. H. nicht geboten. Mit der Beweisanordnung des Senats sei Prof. Dr. H. ausdrücklich gebeten worden, dem Gericht Mitteilung zu machen, falls ein Zusatzgutachten für erforderlich gehalten werde. Die umfassende Schilderung der Beschwerden und der Vortrag des Klägers, er sei absolut unfähig, noch in irgendeiner Weise regelmäßig körperlich tätig zu sein, hätten den Gutachter nicht dazu veranlaßt, Zweifel im Hinblick auf das von ihm angenommene Leistungsvermögen für vollschichtige Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts zu äußern und eine psychiatrische Begutachtung anzuregen. Auch Dr. M. und die Ärzte des Klinikzentrums M. hätten in ihrem Entlassungsbericht vom 1. Juli 1996 (richtig: 1. Oktober 1996) – über die dortige stationäre Heilbehandlung im August/September 1996 – eine vollschichtige Erwerbsfähigkeit des Klägers angenommen. Dessen Behauptung, psychophysisch zu einer Erwerbstätigkeit nicht mehr in der Lage zu sein, werde weder durch die Gutachten der ärztlichen Sachverständigen noch durch die Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte in irgendeiner Weise gestützt. Selbst der Psychiater Dr. M. berichte in seiner – im Berufungsverfahren vom Kläger vorgelegten – Bescheinigung vom 27. April 1998 von derartigen Beschwerden, die von seinem Fachgebiet erfaßt würden, nichts. Eine derartige Erkrankung spiele auch in der ansonsten breiten Schilderung der Beschwerden durch den Kläger keine Rolle. Ärztliche und psychotherapeutische Behandlung deswegen nehme er ebenfalls nicht in Anspruch. Die bei dem Kläger festgestellten, über das Erfordernis einer körperlich leichten Arbeit hinausgehenden gesundheitlichen Einschränkungen führten letztlich weder für sich allein noch bei einer Gesamtbetrachtung dazu, daß eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen sei. Das Restleistungsvermögen des Klägers reiche vielmehr für zahlreiche in ungelernten Tätigkeiten anfallende Verrichtungen, wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen, aus.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 44 SGB VI in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung, sowie eine Verletzung von § 103 SGG iVm § 62 SGG und Art 103 GG. Er trägt vor, das LSG hätte antragsgemäß aufklären müssen, ob er psychisch-physisch noch zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit in der Lage sei und ob sich bei ihm ein im Laufe der Zeit entwickeltes psychisches Krankheitsbild zwischenzeitlich dahingehend verfestigt habe, daß es der Aufnahme und Durchführung einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit entgegenstehe. Dafür hätten sich hinreichend Anhaltspunkte ergeben. Im Entlassungsbericht des Klinikzentrums M. vom 1. Oktober 1996 und im Gutachten von Dr. M. seien psychische Störungen beschrieben worden, in dem im Berufungsverfahren vorgelegten Schwerbehindertenbescheid sei eine Depression anerkannt. Aus dem Gutachten von Prof. Dr. H. und dessen Einschätzung, wonach er, der Kläger, sich weiterhin für absolut unfähig halten werde, in irgendeiner Weise noch regelmäßig körperlich tätig zu sein, alle Rehabilitationsmaßnahmen, die in diese Richtung zielten, von vornherein nicht mehr erfolgversprechend seien, und die Erfahrung darüber hinaus zeige, daß sowohl bei einer endgültigen Ablehnung des Rentenantrags wie auch bei einer Gewährung derartige neurotische Erscheinungen nicht verschwänden, hätten sich Hinweise ergeben, daß sich die psychische Erkrankung seit Beginn der 90-iger Jahre stetig verstärkt und sich psychisch eine Verfestigung vollzogen habe, die einer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und Überwindung der Krankheit aus eigener Kraft entgegenstehe. Daß Prof. Dr. H. als Orthopäde die von ihm iS eines Krankheitsbildes geschilderte Verweigerungshaltung des Klägers bzw dessen Überzeugung eines aufgehobenen Leistungsvermögens nicht auf ihren Krankheitswert hinterfragt und eine psychiatrische Untersuchung angeregt habe, zeige nur, daß er für die Beurteilung des psychischen Gesundheitszustands nicht kompetent sei. Bei der Befundmitteilung von Dr. M. vom 27. April 1998 sei zu berücksichtigen, daß diese nicht aus Anlaß des Rechtsstreits um die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente, sondern lediglich aus Anlaß einer Anfrage und ergänzenden neurologischen Untersuchung für den Orthopäden Dr. T. erstellt worden sei. Indem das LSG dem Beweisantrag nicht gefolgt sei und sich mit seinen Ausführungen in der Berufungsbegründung nicht hinreichend auseinandergesetzt habe, habe es auch das rechtliche Gehör verletzt. Bei der gebotenen Aufklärung hätte sich zumindest eine erhebliche Einschränkung der Einsatzfelder des allgemeinen Arbeitsmarkts ergeben, so daß zum Ausschluß von Erwerbsunfähigkeit eine konkrete Verweisungstätigkeit hätte benannt werden müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 1999, das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 27. Februar 1998 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Juni 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab Dezember 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist in dem Sinn begründet, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist. Es bedarf noch weiterer Tatsachenfeststellungen zum Eintritt eines Versicherungsfalls.
Zwar ist die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs unbegründet. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs besagt, daß das Gericht die Beteiligten hören muß, sie Gelegenheit haben müssen, sich vor Erlaß der Entscheidung zum Prozeßstoff zu äußern, und daß der Entscheidung nur solche Tatsachen zugrundegelegt werden, zu denen sie sich äußern konnten. Das war hier indes auch der Fall; der Kläger hat sich zu allen Tatsachen, auf die das LSG seine Entscheidung gestützt hat, äußern können. Die Begründung der Entscheidung des LSG läßt auch erkennen, daß das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags des Klägers eingegangen ist. Zutreffend hat der Kläger jedoch eine Verletzung des § 103 SGG gerügt. Denn das Berufungsgericht hätte sich von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müssen.
Der Rentenanspruch des Klägers richtet sich nach § 44 SGB VI in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung. Die ab 1. Januar 2001 geltende Neuregelung durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I 1827) ist im vorliegenden Fall noch nicht anwendbar (vgl § 300 Abs 1 iVm Abs 2 SGB VI).
Auf dieser Rechtsgrundlage ist das LSG zwar zu Recht davon ausgegangen, daß der Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von dem ihm verbliebenen gesundheitlichen Leistungsvermögen abhängt, und es hat dabei ferner zutreffend berücksichtigt, daß eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung des Leistungsvermögens grundsätzlich auch infolge psychischer Störungen gegeben sein kann. Indem es in der Anlage zu seiner Beweisanordnung vom 24. April 1999 den Sachverständigen Prof. Dr. H. auch gefragt hat, ob intendierte Aggravation und Simulation auszuschließen sei, ob der Kläger die durch den objektiven Befund nicht begründbare Vorstellung habe, nicht mehr erwerbstätig sein zu können, ob der Kläger, wenn dies zu bejahen sei, sich aus dieser Vorstellung aus eigener Kraft oder mit fremder Hilfe lösen könne, und ob er, wenn er dies nicht könne, gleichwohl in dem vorgeschriebenen Umfang erwerbstätig sein könne oder ob die neurotischen Erscheinungen bei endgültiger Ablehnung der Rente ohne weiteres verschwinden würden, hat es zudem nach solchen Tatsachen gefragt, welche iS der Rechtsprechung des BSG eine Beurteilung erlauben, ob seelisch bedingte Störungen wie eine körperliche Krankheit anzusehen sind. Danach ist dies zwar der Fall, wenn die Störungen durch Willensentschlüsse nicht zu beheben sind, die Rente muß jedoch versagt werden, wenn im Einzelfall zuverlässig die Prognose gestellt werden kann, daß bei Ablehnung der Rente bei dem betroffenen Versicherten die neurotischen Erscheinungen ohne weiteres verschwinden (BSG Urteile vom 1. Juli 1964 – 11/1 RA 158/61 – BSGE 21, 189 = SozR Nr 39 zu § 1246, vom 21. Oktober 1969 – 11 RA 219/66 – SozR Nr 76 zu § 1246 RVO und vom 12. September 1990 – 5 RJ 88/89 – SozVers 1991, 81). Für die berufungsgerichtlichen Feststellungen, eine solche Erkrankung liege beim Kläger nicht vor, reichen aber die vorliegenden Befundberichte und Sachverständigengutachten nicht aus; insoweit greift die auf § 103 SGG gestützte Verfahrensrüge des Klägers durch. Das LSG hätte sich hinsichtlich dieses Punktes nach den Umständen des vorliegenden Falls zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müssen; es konnte sich insbesondere insoweit nicht auf das Sachverständigengutachten von Prof. Dr. H. vom 12. August 1999 und den Befundbericht des Dr. M. stützen.
Der Sachverständige Prof. Dr. H. wies – wie von der Revision zutreffend ausgeführt – gerade auf die Möglichkeit hin, die subjektive Vorstellung des Klägers, keiner Erwerbstätigkeit mehr standhalten zu können, könne sich krankhaft verfestigt haben. Zwar hatte der Sachverständige selbst diesen Schluß nicht gezogen, er hatte jedoch Ausführungen gemacht, die zumindest Anhaltspunkte dafür gaben. So beschrieb er die Befindlichkeit des Klägers ua wie folgt:
„Zwar waren vereinzelt Verdeutlichungstendenzen nicht unverkennbar, jedoch habe ich den Eindruck gewonnen, daß Herr P. sich tatsächlich für von seiten des Bewegungsapparates erheblich erkrankt und leistungsbeeinträchtigt hält…. Als erstes wäre eine Einordnung (der Diagnose ‚diffuses chronifiziertes Ganzkörperschmerzsyndrom, Muskeldysbalancen’) als psychosomatisch verursachter, nicht entzündlicher Weichteilrheumatismus möglich, bei dessen Entstehung die Tatsache eine Rolle spielt, daß Herr P. seit 10 Jahren einer geregelten Erwerbstätigkeit nicht mehr nachgeht.”
In bezug auf die zuvor angegebene Diagnose lauteten seine Antworten auf die Beweisfragen: „Seit wann bestehen die einzelnen Gesundheitsstörungen und die sie verursachenden Befunde?” und „Worin besteht gegebenenfalls die Änderung und welche Gründe sind für die abweichende Beurteilung maßgebend?”:
„Die unter 1. genannte Diagnose (Diffuses chronifiziertes Ganzkörperschmerzsyndrom, Muskeldysbalancen) hat sich im Lauf der Jahre allmählich entwickelt; vorübergehend lag wahrscheinlich eine deutlichere Kniegelenkssymptomatik vor, die Umfangsminderung am linken Bein ist Ausdruck dieses Geschehens, es hat sich jedoch ein praktisch normalisierter Kniegelenksbefund ergeben… .Ich konnte keine aktuelle Nervenwurzelreizsymptomatik, von der Lendenwirbelsäule ausgehend, erkennen. Im neurologischen Gutachten durch Frau M. ist von einer ‚aktuellen Anpassungsstörung mit depressiver Verstimmung bei privater Diagnose die Rede, hier handelt es sich um eine Problematik, die am ehesten (der) von mir unter 1. genannten zuzuordnen wäre. Inwieweit der Tinnitus für diese Diagnose mitwirkend ist, vermag ich nicht zu beurteilen.”
Und – nach Bejahung eines vollschichtigen Leistungsvermögens des Klägers für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten – führte der Sachverständige aus:
„Es sei jedoch angemerkt, daß die Chance, einen 59-jährigen Mann bei der heutigen Arbeitsmarktsituation, der bereits 10 Jahre nicht mehr am Erwerbsleben teilnimmt, wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern, gleich null sind. Für Herrn P. wird die von mir unter 1. genannte Diagnose führend bleiben, er wird sich auch weiterhin für absolut unfähig halten, in irgendwelcher Weise noch regelmäßig körperlich tätig zu sein. Nach der Erfahrung sind alle Rehabilitationsmaßnahmen, die in diese Richtung zielen, von vornherein nicht mehr erfolgversprechend. Die Erfahrung zeigt allerdings darüber hinaus, daß sowohl bei einer endgültigen Ablehnung eines Rentenantrags wie auch bei einer Gewährung ‚neurotische Erscheinungen’ nicht verschwinden.”
In diesen Ausführungen ist die Entwicklung eines – vom Sachverständigen als unumkehrbar eingeschätzten – subjektiven Empfindens des Klägers beschrieben, an deren Anfang objektivierbare körperliche Beschwerden sowie seelische Beeinträchtigungen gestanden hätten. Daß der Sachverständige Prof. Dr. H. – trotz diesbezüglicher Anfrage in der Beweisanordnung des LSG – die Einholung eines Zusatzgutachtens nicht für erforderlich hielt bzw sich hierzu nicht äußerte, ändert nichts am Fehlen einer gesicherten Diagnose im psychischen Bereich und an fehlenden Darlegungen des Sachverständigen, daß und weshalb er sich zu einer fachübergreifenden Beurteilung in der Lage sah.
Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. hatte in seinem Bericht vom 27. April 1998 an die behandelnden Fachärzte für Orthopädie Dr. F. und Dr. T. aus Anlaß einer Überweisung des Klägers lediglich Mitteilungen über neurologische und elektrophysiologische Befunde gemacht, nach neurotischen Einstellungen des Klägers war er nicht gefragt worden, und psychiatrische Untersuchungen hatte er nicht vorgenommen. Für seine Feststellung, es liege keine (leistungsrelevante) seelische Erkrankung (die vom Kläger behauptete psychische Fixierung) vor, konnte sich das LSG daher auf diesen Befundbericht nicht stützen (vgl auch BSG Urteil vom 14. Januar 1986 – 5a RKn 5/85 – Meso B 310/79).
Im übrigen setzt aber eine Verfestigung als Endpunkt einer Entwicklung auch begriffsnotwendig voraus, daß zuvor nicht von einer Krankheit gesprochen werden kann. Die Feststellungen des im SG-Verfahren beauftragten orthopädischen Sachverständigen Dr. A., es hätten sich bei seiner Untersuchung (im August 1997) ausgeprägte Momente von Aggravation und Simulation ergeben und die vorhandene Vorstellung des Klägers, nicht mehr erwerbstätig sein zu können, sei behebbar, vermochten daher die Behauptung des Klägers, seine Erwerbsfähigkeit sei aufgehoben, allenfalls insoweit zu widerlegen, daß zum damaligen Zeitpunkt eine solche Erkrankung auch noch nicht im Sinne einer aus eigener Willenskraft nicht überwindbaren psychischen (neurotischen) Störung festgestellt worden war. Daraus konnte das LSG aber ebensowenig einen entsprechenden Schluß für die weitere Entwicklung ziehen wie aus den übrigen ärztlichen Unterlagen und der Tatsache, daß sich der Kläger bislang keiner psychiatrischen Behandlung unterzogen hatte. Zudem war dem LSG aus diesen Unterlagen bekannt, daß der Kläger wegen schmerzhafter Beschwerden, insbesondere im Bereich der Kniegelenke und der Hals- und Lendenwirbelsäule, jahrelang in orthopädischer Behandlung und laufend arbeitsunfähig geschrieben war, daß ihm eine tatsächlich eingetretene Besserung seiner Kniegelenksbeschwerden und der Wegfall der auch noch von Dr. M. festgestellten „Wurzelreizsymptomatik L5/S1 rechts bei bekannter degenerativen Wirbelsäulenveränderungen mit Bandscheibenvorwölbung” erst während des sozialgerichtlichen Verfahrens attestiert wurde, und daß bei ihm ferner jedenfalls zu Beginn des Verfahrens auch psychische Beeinträchtigungen, ua in Form einer reaktiven Depression, festgestellt worden waren. Dr. M. sprach in diesem Zusammenhang von Anpassungsstörungen bei privater Problematik. Im Entlassungsbericht der Klinik M. war ausgeführt, das Erscheinungsbild des Patienten sei geprägt von phobischen Zügen; eine psychologische Mitbehandlung sei vom Patienten nicht erwünscht gewesen, ein fachneurologischer Termin wegen Krankheit ausgefallen. Danach lagen beim Kläger zumindest anfänglich objektivierbare gesundheitliche Beeinträchtigungen im körperlichen und seelischen Bereich vor, aus denen sich dessen von beiden Sachverständigen beschriebene Vorstellung, wegen der (subjektiv empfundenen) Ganzkörperschmerzsymptomatik zu keinerlei Erwerbstätigkeit mehr in der Lage zu sein, entwickelt haben konnte.
Wegen der „Simulationsnähe” zahlreicher Neurosen wird in der Rechtsprechung des BSG bei der Feststellung der anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale ein strenger Maßstab gefordert; für ihr Vorhandensein, also für das tatsächliche Vorliegen von seelisch bedingten Störungen, ihre Unüberwindbarkeit aus eigener Kraft und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit trifft den Rentenbewerber die (objektive) Beweislast (vgl dazu BSG Urteile vom 1. Juli 1964 – 11/1 RA 158/61 – BSGE 21, 189 = SozR Nr 39 zu § 1246 RVO und vom 21. Oktober 1969 – 11 RA 219/66 – SozR Nr 76 zu § 1246 RVO). Die Nichterweislichkeit einer nach der Rechtsauffassung des Gerichts anspruchsbegründenden Tatsache – hier einer das Leistungsvermögen des Klägers beeinträchtigenden Krankheit – steht aber erst fest, wenn die Möglichkeiten des Gerichts zur Sachverhaltserforschung ausgeschöpft sind. Das ist hier indes nicht der Fall. Erst wenn trotz sorgfältiger Ermittlungen und bei gebotener kritischer Würdigung der Verfahrensergebnisse eine Vortäuschung der Störungen, Überwindbarkeit der Störungen oder Unerheblichkeit der Störungen nicht auszuschließen ist, geht dies zu Lasten des Klägers (BSG aaO, BSGE 21, 189 = SozR Nr 39 zu § 1246 RVO und SozR Nr 76 zu § 1246 RVO).
Da das BSG die noch erforderliche Sachverhaltsaufklärung nicht selbst vornehmen kann, war der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten, an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen