Leitsatz (amtlich)
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) sind - außer bei Blinden - nur gegeben, wenn der Leidenszustand das Gehen als solches auf das schwerste einschränkt; Orientierungsstörungen bei der Fortbewegung reichen nicht aus.
Orientierungssatz
Zum Begriff "außergewöhnliche Gehbehinderung"
1. Für eine Gleichstellung mit dem in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 46 Abs 1 Nr 11 StVO im einzelnen genannten Personenkreis kommt es nicht auf die vergleichbare allgemeine Schwere des Leidens an, sondern allein darauf, daß die Auswirkungen funktionell gleichzuachten sind. Der Leidenszustand muß also ebenfalls wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das schwerste einschränken.
2. Ein Schwerbehinderter, der mongoloid und taubstumm ist, an Bewegungseinschränkungen beider Hände leidet und weder schreiben noch lesen kann (MdE 100 vH), gehört nicht zu dem in Abs 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften angeführten Personenkreis und kann ihm auch nicht gleichgestellt werden. "Ebenso scheidet eine Gleichstellung mit den in Abs 2 S 2 dieser Verwaltungsvorschriften näher bezeichneten Blinden aus, die für andere Behinderte nicht vorgesehen ist. Auch kommt ein allgemeiner Grundgedanke, daß nicht nur eine tatsächliche Gehbehinderung außergewöhnlicher Art für das Merkzeichen "aG" Voraussetzung sein kann, in dieser Ausnahmevorschrift für Blinde nicht zum Ausdruck.
Normenkette
SchwbAwV § 3 Abs 1; StVG § 6 Abs 1 Nr 14; StVO § 46 Abs 1 Nr 11; StVOVwV § 46 Abs 1 Nr 11; SchwbG § 3 Abs 4, § 57 Abs 1 S 1 Fassung: 1985-07-18, § 58 Abs 1 Fassung: 1985-07-18
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 20.05.1983; Aktenzeichen L 8 Vs 246/83-2) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 10.12.1982; Aktenzeichen S 16 Vs 2977/81) |
Tatbestand
Der im Jahre 1945 geborene Kläger begehrt die Feststellungen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) nach dem Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz -SchwbG-).
Der Kläger ist mongoloid, taubstumm und leidet an Bewegungseinschränkungen beider Hände. Er kann nicht lesen und nicht schreiben. Seine Behinderungen sind mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH bewertet. Außerdem sind die Merkzeichen G, B und H in seinem Ausweis vermerkt. Den Antrag des Klägers, eine außergewöhnliche Gehbehinderung anzuerkennen, lehnte das Versorgungsamt ab, weil hierfür die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht gegeben seien (Bescheid vom 22. Januar 1981). Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. September 1981). Mit der Klage machte er geltend, die bei ihm bestehenden Behinderungen wirkten sich im Straßenverkehr vergleichbar denjenigen aus, denen ein Blinder unterliege. Diesem, dem die außergewöhnliche Gehbehinderung zuerkannt werde, sei er gleichzustellen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Dezember 1982). Es ist davon ausgegangen, daß der Kläger normal gehfähig sei und größere Strecken zu Fuß zurücklegen könne. Für eine "Fortbewegung" selbst bedürfe er fremder Hilfe nicht.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 20. Mai 1983 festgestellt, daß beim Kläger die Voraussetzungen des gesundheitlichen Merkmals "außergewöhnliche Gehbehinderung" seit dem 1. Januar 1981 erfüllt seien. Der Kläger könne sich im Straßenverkehr wegen seiner Leiden (Mongolismusfolgen) nicht ohne fremde Hilfe bewegen oder gar fortbewegen; deshalb gehöre er zu den Personen, die außergewöhnlich gehbehindert seien. Es komme nicht allein und ausschließlich auf die körperliche Fähigkeit zu gehen an.
Der Beklagte hat gegen dieses Urteil die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er ist der Meinung, nach den maßgeblichen Verwaltungsvorschriften komme es ausschließlich auf die körperliche Fähigkeit zu gehen an. Eine Ausnahmeregelung gebe es lediglich für Blinde. Obwohl der Kläger auf eine Begleitperson angewiesen sei, bedürfe er zur "Fortbewegung" selbst keiner fremden Hilfe.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Mai 1983 aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht das Urteil des SG Stuttgart vom 10. Dezember 1982 aufgehoben. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) im Ausweis für Schwerbehinderte liegen bei dem Kläger nicht vor.
Nach § 3 Abs 4 des SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 (BGBl I, 1649) treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen über weitere gesundheitliche Merkmale, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer Vergünstigung sind. Der Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung, um einen Ausweis mit dem Merkzeichen "aG" zu erhalten, der ihn berechtigen würde, von Beschränkungen des Haltens und Parkens im Straßenverkehr ausgenommen zu werden.
Für die Beurteilung, ob die gesundheitlichen Schäden des Klägers eine außergewöhnliche Gehbehinderung darstellen, sind nicht mehr die Richtlinien über Ausweise für Schwerbeschädigte und Schwerbehinderte nach dem Stand von Januar 1977 (BVBl Heft 3 bis 4/77 Beilage), sondern auf Grund § 3 Abs 1 der Vierten Verordnung zur Durchführung des SchwbG (Ausweisverordnung-Schwerbehindertengesetz -SchwbGAwV-) vom 15. Mai 1981 und § 6 Abs 1 Nr 14 des Straßenverkehrsgesetzes mit § 46 Abs 1 Nr 11 Straßenverkehrs-Ordnung die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Straßenverkehrs-Ordnung idF vom 22. Juli 1976 -Vwv-StO- (Bundesanzeiger Nr 142 vom 31. Juli 1976) zu § 46 Abs 1 Nr 11 der Straßenverkehrs-Ordnung maßgebend. Hiernach sind (II, 1) als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können; hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.
Zu dem im einzelnen angesprochenen Personenkreis gehört der Kläger nicht.
Er kann diesem Personenkreis auch nicht gleichgestellt werden. Wie der Senat schon in dem Urteil vom 8. Mai 1981 (9 RVs 5/80 = SozR 3870 § 3 Nr 11) entschieden hat, liegt eine außergewöhnliche Gehbehinderung vor, wenn die Möglichkeit der Fortbewegung in einem hohen Maße eingeschränkt ist, wobei der Senat ausdrücklich auf die Behinderung beim Gehen abgestellt hat. Die enumerative Aufzählung der Behindertengruppen in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften bestätigt diese Auffassung. Bei ihnen liegen vornehmlich Schädigungen der unteren Extremitäten in einem erheblichen Ausmaß vor, die bewirken, daß Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der Fortbewegung nicht oder nur unter besonderen Erschwernissen erfüllen. Für eine Gleichstellung mit dem in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften im einzelnen genannten Personenkreis kommt es deshalb nicht entscheidend auf die vergleichbare allgemeine Schwere der Leiden an, sondern allein darauf, daß die Auswirkungen funktionell gleichzuachten sind. Der Leidenszustand muß also ebenfalls wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das Schwerste einschränken (BSG aaO). Der Kläger ist jedoch nicht wesentlich gehindert, sich im Gehen fortzubewegen. Wegen seines gestörten Orientierungsvermögens vermag er allerdings ein gewünschtes Ziel nicht allein zu erreichen. Hierfür würde ihm aber eine Parkerleichterung keine Hilfe sein. Denn unabhängig von einer Verkürzung des Weges zu seinem Ziel bedarf er zu dessen Erreichen einer fremden Hilfe zur Orientierung. Der Sinn der Parkerleichterung ist es, Wege, die nur mit außergewöhnlicher und großer Anstrengung zu Fuß zurückgelegt werden können, zu verkürzen.
Der Ansicht des Klägers, die bei ihm bestehenden Behinderungen wirkten sich im Straßenverkehr vergleichbar denjenigen aus, denen ein Blinder unterliege, und deshalb sei ihm das Merkzeichen "aG" zu bewilligen, schlägt nicht durch. Zwar sehen die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Straßenverkehrs-Ordnung Ausnahmegenehmigungen für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sowie für Blinde vor. Die Ausnahmegenehmigungen sind aber nicht für Blinde schlechthin zu erteilen, sondern nach der Vorschrift II, 2 der Vwv-StO zu § 46 Abs 1 Nr 11 nur für diejenigen Blinden, die auf die Benutzung eines Kraftfahrzeuges angewiesen sind und die sich nur mit fremder Hilfe bewegen können. In dieser Vorschrift ist eine Gleichstellung anderer Beschädigter mit Blinden nicht vorgesehen wie in Abs II, 1. Ein allgemeiner Grundgedanke, daß nicht nur eine tatsächliche Gehbehinderung außergewöhnlicher Art für das Merkzeichen "aG" Voraussetzung sein kann, kommt in dieser Ausnahmevorschrift für Blinde nicht zum Ausdruck. Hätte der Gesetzgeber weitere Ausnahmen beabsichtigt, hätte er sie im einzelnen aufgeführt, wie er das in den §§ 57 und 58 SchwbG idF des Gesetzes zur Erweiterung der unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 18. Juli 1985 (BGBl I, 1516) für das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit im Straßenverkehr) getan hat. In § 57 Abs 1 Satz 1 SchwbG hat er neben den erheblich in ihrer Bewegungsfähigkeit Beeinträchtigten die Hilflosen und die Gehörlosen ausdrücklich genannt. Zu den erheblich in ihrer Bewegungsfähigkeit Beeinträchtigten zählt das SchwbG in § 58 Abs 1 auch diejenigen, die infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit beeinträchtigt sind.
Der angefochtene Bescheid vom 22. Januar 1981, der eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht anerkannte, ist deswegen nicht rechtswidrig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen