Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. August 1954 wird, soweit sie aufrechterhalten ist, als unbegründet zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger ist am 21. April 1939 in Berlin unehelich geboren. Sein Vater Walter MXXXXXX ist als Sanitäter im zweiten Weltkrieg verschollen und durch das Amtsgericht Neukölln für tot erklärt worden. Der Aufenthalt seiner Mutter ist unbekannt. Vom Jugendamt des Bezirks Kreuzberg, West-Berlin, seinem Amtsvormund, ist er seit 1940 in Halbe, Kreis Teltow, sowjetische Besatzungszone Deutschlands, in städtische Pflege gegeben worden.
Mit Schreiben vom 2. September 1950 beantragte das Jugendamt Kreuzberg, dem Kläger eine Waisenrente zu gewähren. Das Versorgungsamt (VersorgA.) II Berlin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 28. November 1952 ab, und zwar sowohl für die Geltungsdauer des Berliner Versorgungsgesetzes – KVG – vom 24. Juli 1950 (Verordnungsblatt für Groß-Berlin 1950 Teil I S. 318) als auch für die Geltungsdauer des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges – BVG – vom 20. Dezember 1950 (BGBl. I S. 791), dessen Vorschriften nach dem Kriegsopferversorgungsgesetz vom 12. April 1951 (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin 1951 S. 317) auf West-Berlin Anwendung finden. Zur Begründung führte das VersorgA. aus, daß der Kläger seinen ständigen Wohnsitz außerhalb von West-Berlin habe und daher auf ihn die genannten Gesetze nicht anzuwenden seien. Der Einspruch des Klägers gegen diesen Bescheid blieb nach der Entscheidung des Landesversorgungsamts (LVersorgA.) Berlin vom 31. Januar 1953 erfolglos. Mit der hiergegen erhobenen Klage erreichte der Kläger, daß der Beklagte durch Urteil des Sozialgerichts (SG.) Berlin vom 29. April 1954 verurteilt wurde, ihm eine Waisenrente seit dem 1. Juli 1950 zu gewähren. Das SG. hielt den Anspruch für die Zeit vom 1. Juli 1950 bis 30. September 1950 gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 4 KVG und für die Zeit vom 1. Oktober 1950 ab gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 6 BVG für begründet. Die Anwendung dieser Vorschriften hinge nur davon ab, ob der Kläger seinen Wohnsitz in West-Berlin habe. In diesem Fall fänden das KVG gemäß § 1 Abs. 4 und das BVG gemäß § 7 Nr. 1 auf ihn Anwendung. Da der Kläger in West-Berlin geboren sei, habe er durch die Geburt in West-Berlin seinen Wohnsitz erworben. Diesen habe er nur mit dem Willen seines gesetzlichen Vertreters verändern können. Einen derartigen Willen habe aber das Jugendamt Kreuzberg niemals geäußert. Für die Unterbringung des Klägers in einer Pflegestelle auf dem Dorfe außerhalb West-Berlins seien allein fürsorgerische Gründe maßgebend gewesen. Hätte das Jugendamt Kreuzberg den Wohnsitz des Klägers in West-Berlin aufgeben wollen, dann hätte es die Amtsvormundschaft an das für den neuen Wohnsitz zuständige Kreisjugendamt abgeben müssen. Das sei nicht geschehen.
Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Berufung ein, die das Landessozialgericht (LSG.) mit Urteil vom 20. August 1954 zurückwies. Nach den Ausführungen des LSG. in der Urteilsbegründung richtet sich der Begriff des Wohnsitzes im § 7 BVG nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts. Danach habe der Kläger gemäß § 11 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) den Wohnsitz seiner Mutter geteilt, nämlich West-Berlin. Diesen Wohnsitz habe er ohne den Willen seines gesetzlichen Vertreters nicht aufgeben können. Auf einen derartigen Willen des Jugendamts Kreuzberg sei aber den Umständen nach nicht zu schließen.
Das LSG. ließ die Revision zu. Das Urteil wurde den Beteiligten am 21. September 1954 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 11. Oktober 1954, der beim Bundessozialgericht (BSG.) am 12. Oktober 1954 einging, hat der Beklagte gegen dieses Urteil Revision eingelegt und sie mit Schriftsatz vom 8. November 1954, eingegangen beim BSG. am 10. November 1954, begründet. Er hat beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und der Berufung gegen die Entscheidung des SG. vom 29. April 1954 stattzugeben.
In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte erklärt, daß er die Revision, soweit die Entscheidung der Vorinstanz nach dem Berliner KVG ergangen ist, zurücknehme.
Zur Begründung seiner Revision hat der Beklagte ausgeführt, daß der Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen des Klägers in den Ort seines langjährigen Aufenthalts in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands liege. Demgegenüber komme der Wille des Amtsvormunds, West-Berlin als Wohnsitz zu bestimmen, nicht in Betracht. Ein dahingehender Wille sei nicht durchgeführt worden. Die Voraussetzung für die Versorgung des Klägers gemäß § 7 Nr. 1 BVG sei nicht erfüllt, weil der Kläger weder seinen ständigen Aufenthalt noch seinen Wohnsitz in West-Berlin habe.
Die in der Revisionsbegründung vorgebrachte Rüge, daß das angefochtene Urteil unter Verletzung von Verfahrensvorschriften nur von den drei Berufsrichtern unterschrieben worden sei, hat der Beklagte in der mündlichen Verhandlung fallen gelassen.
Der Kläger hat beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach seiner Auffassung ist West-Berlin ständig der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse gewesen. Die gesamte wirtschaftliche und persönliche Fürsorge des Klägers während des Aufenthalts in Halbe sei vom Jugendamt Kreuzberg geleitet und beaufsichtigt worden. Es sei niemals beabsichtigt gewesen, den Wohnsitz des Klägers zu verändern. Andernfalls wäre das für den Aufenthalt zuständige Jugendamt veranlaßt worden, die Amtsvormundschaft zu übernehmen. Im übrigen sei der Kläger inzwischen im Bundesgebiet untergebracht worden.
In der mündlichen Verhandlung erklärte der erschienene Amtsvormund Robert PXXXXXXX der gemäß § 32 Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) zum gesetzlichen Vertreter des Klägers bestellt worden ist, daß er auf die Erstattung von Kosten verzichte.
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist statthaft, weil sie das LSG. nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen hat. Die danach zulässige Revision konnte aber keinen Erfolg haben.
Da der Beklagte seine Revision nur noch insoweit aufrechterhalten hat, als das angefochtene Urteil seine Verurteilung nach den Vorschriften des BVG betrifft, war zu prüfen, ob die Vorschriften des BVG auf den Kläger anzuwenden sind. Hierzu schreibt § 7 Nr. 1 BVG vor, daß das Gesetz auf deutsche Staatsangehörige und deutsche Volkszugehörige anzuwenden ist, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt befugt im Bundesgebiet oder im Land Berlin haben. Zutreffend ist das LSG. davon ausgegangen, daß der Begriff des Wohnsitzes im § 7 BVG dem des bürgerlichen Rechts entspricht. Wie das BVG zwischen Aufenthaltsort und Wohnort einerseits (§ 2 Abs. 3, § 4 Abs. 1 Satz 2, § 7 Nr. 1, § 35 Abs. 2 Satz 1, § 56 Abs. 3, § 14 Abs. 2 Satz 3) und Wohnsitz andererseits (§ 2 Abs. 3, § 7 Nr. 1 und 2, § 91) unterscheidet, unterschied auch bereits das Gesetz über die Versorgung der Militärpersonen und ihrer Hinterbliebenen (RVG) in der Fassung vom 1. April 1939 (RGBl. 1939 I S. 663) zwischen Wohnort und Aufenthalt einerseits (§ 8 Abs. 3 Satz 2, § 34 Abs. 2 Satz 2, § 4 Abs. 5) und Wohnsitz andererseits (§ 26 Nr. 4, § 45 Abs. 2 Satz 2, § 51 Abs. 1). Dabei wurde unter engster Anlehnung an die Vorschriften des bürgerlichen Rechts, das ebenfalls die Begriffe Wohnsitz (§ 7 ff. BGB) und Aufenthalt (§ 132 Abs. 2 Satz 2 BGB und § 29 EGBGB) kennt, unter „Wohnsitz” der gewollte dauernde Mittelpunkt der gesamten Lebensverhältnisse verstanden, unter „Wohnort” oder „Aufenthalt” dagegen der Ort des tatsächlichen regelmäßigen Wohnens oder Aufenthalts ohne den Willen, sich an dem Ort dauernd niederzulassen (vgl. Ahrens, Kommentar zum Gesetz über die Versorgung von Militärpersonen und ihren Hinterbliebenen – Reichsversorgungsgesetz –, 2. Aufl. 1929, Anm. 4 zu § 51; Kommentar von Versorgungsbeamten zum RVG, 1929, Anm. 3 zu § 51; RVGer. 1 S. 153). Es muß daher der Begriff des Wohnsitzes im BVG, das bewußt der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Wohnort und Aufenthalt einerseits und Wohnsitz andererseits gefolgt ist, ebenfalls im herkömmlichen Sinne verstanden werden, nämlich im Sinne des bürgerlichen Rechts (so auch Schönleiter, Bundesversorgungsgesetz 1953, Erläuterungen Nr. 2 zu § 7; Thannheiser – Wende – Zech, Handbuch des Bundesversorgungsgesetzes, 3. Aufl., Bd. 1, Erläuterungen Nr. 1 Abs. 3 zu § 7; Neuhaus in „Die Kriegsopferversorgung”, 1. Jahrg. S. 59; Wilke in „Die Kriegsopferversorgung”, 2. Jahrg. S. 102; Erlaß des Bundesministers für Arbeit vom 24.7.1952, Bundesversorgungsblatt S. 98).
Der gegenteiligen Auffassung, daß der Begriff des Wohnsitzes im § 7 BVG nicht dem des bürgerlichen Rechts entspreche und darunter nur der Ort des tatsächlichen regelmäßigen Wohnens zu verstehen sei (so Schieckel, Bundesversorgungsgesetz, 2. Aufl. 1953, Anm. 2 zu § 7), kann nicht gefolgt werden. Sie stützt sich auf § 28 der ersten (bayerischen) Durchführungsverordnung zum Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte vom 27. Januar 1947 (1. DVO). Danach richtet sich der „Wohnsitz im Sinne des Art. 22 des KBLG” nicht nach den Vorschriften des BGB, sondern nach der in der Sozialversicherung herrschenden Praxis, wonach der tatsächliche ständige Aufenthaltsort maßgeblich ist. Der § 28 1. DVO hat aber übersehen, daß Art. 22 KBLG gar nicht vom „Wohnsitz”, sondern vom „Wohnort” spricht. Deshalb enthält § 28 1. DVO keine Abgrenzung des Begriffs Wohnsitz, sondern des Begriffs Wohnort. Ein Hinweis auf die besondere Rechtslage nach dem KBLG durch § 28 1. DVO war notwendig und verständlich weil das KBLG nicht an das RVG anknüpfte, sondern an die Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung (Art. 1 KBLG), welche die Zuständigkeit der Versicherungsbehörden nach dem Wohn- oder Beschäftigungsort des Versicherten regelten. Abgesehen davon wäre dann, wenn als Wohnsitz gemäß § 7 Nr. 1 BVG der tatsächliche Aufenthaltsort anzusehen wäre, die Anführung des Wohnsitzes neben dem Aufenthaltsort unverständlich. Der Wortlaut des § 7 Nr. 1 BVG wie der herkömmliche unterschiedliche Gebrauch der Worte Wohnsitz und Aufenthaltsort sprechen demnach dafür, daß mit diesen Worten zwei verschiedene Begriffe verbunden werden und daß der Begriff Wohnsitz dem des bürgerlichen Rechts entspricht.
Im vorliegenden Fall hat der Kläger, wie das LSG. zutreffend weiterhin angenommen hat, zwar nicht seinen ständigen Aufenthalt, wohl aber seinen Wohnsitz im Sinne des bürgerlichen Rechts in West-Berlin gehabt. Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 BGB hatte er mit der Geburt gesetzlich den Wohnsitz seiner Mutter in West-Berlin miterworben. Da kein Anhalt dafür besteht, daß seine Mutter ihren Wohnsitz verändert hat, konnte der Kläger bis zu seiner Volljährigkeit einen anderen Wohnsitz gemäß § 8 BGB nur mit dem Willen seines gesetzlichen Vertreters begründen. Zur Begründung des Wohnsitzes des Klägers in Halbe konnte daher nicht allein der Aufenthalt des Klägers an diesem Ort genügen, hinzu kommen mußte vielmehr noch der Wille des Jugendamts als gesetzlichen Vertreters, diesen Ort zum dauernden Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers zu machen. Einen dahingehenden Willen hat aber das Jugendamt weder ausdrücklich erklärt, noch kann aus den Handlungen des Jugendamts auf einen derartigen Willen geschlossen werden. Wie das LSG. bedenkenfrei angenommen hat, war allein aus der langjährigen Unterbringung des Klägers in einer Pflegestelle in Halbe auf einen dahingehenden Willen des Jugendamts nicht zu schließen. Der Beklagte beruft sich zu Unrecht für seine gegenteilige Ansicht auf den bereits erwähnten Erlaß des Herrn Bundesarbeitsministers vom 24. Juli 1954. Danach ist nur „in der Regel” bei einem nicht nur vorübergehenden Aufenthalt in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands auf den Willen zu schließen, daß dort ein Wohnsitz begründet werden soll. Im vorliegenden Fall stand dem entgegen, daß die Unterbringung des Klägers in Halbe nur fürsorgerische Gründe hatte, insbesondere daß der Kläger in der familiären Bindung seiner Pflegestelle verbleiben sollte, daß die eigentliche Betreuung wie auch die Bezahlung nach wie vor von dem Jugendamt des Bezirks Kreuzberg erfolgte, und daß die Amtsvormundschaft nicht an das für Halbe zuständige Jugendamt abgegeben wurde.
Hatte der Kläger somit seinen Wohnsitz in West-Berlin, so findet gemäß § 7 Nr. 1 BVG dieses Gesetz auf ihn Anwendung. Da im übrigen die Voraussetzungen für die Gewährung der Waisenrente gemäß § 38 in Verbindung mit § 45 Abs. 2 Nr. 6 BVG erfüllt sind, hat das LSG. mit Recht die Berufung gegen das Urteil des SG. Berlin, das dem Kläger die Waisenrente dem Grunde nach zusprach, zurückgewiesen. Dies trifft jedenfalls zu, soweit durch die Beschränkung der Revision nur noch über die Gewährung der Waisenrente vom 1. Oktober 1950 ab nach den Vorschriften des BVG zu entscheiden war. Die insoweit eingeschränkte Revision des Beklagten mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden.
Auf die Anträge des gesetzlichen Vertreters des Klägers, der ebenfalls die Zurückweisung der Berufung beantragt hatte, kam es demnach nicht mehr an. Es konnte daher dahingestellt bleiben, ob das Jugendamt oder der in der mündlichen Verhandlung erschienene Stadtvormund PXXXXXXX selbst im Hinblick auf § 166 SGG den Kläger vor dem BSG. vertreten konnte. Auch wegen der Kosten konnte diese Frage dahingestellt bleiben, nachdem der Stadtvormund PXXXXXXX namens des Klägers auf eine Kostenerstattung verzichtet hatte. Daraus ergibt sich auch die auf § 193 SGG beruhende Kostenentscheidung.
Fundstellen