Leitsatz (amtlich)
Aus einer Verzögerung der Berufsausbildung infolge Fehlens von Ausbildungsplätzen ergibt sich kein Anspruch auf Waisenrente für Zeiten nach Vollendung des 25. Lebensjahres; darin liegt kein Verstoß gegen das GG.
Normenkette
AVG § 44 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1964-04-14; RVO § 1267 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1964-04-14; GG Art. 2 Fassung: 1949-05-23, Art. 3 Fassung: 1949-05-23, Art. 12 Fassung: 1949-05-23, Art. 20 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 08.09.1982; Aktenzeichen III ANBf 57/81) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 14.09.1981; Aktenzeichen 10 An 96/81) |
Tatbestand
Der im Dezember 1955 geborene Kläger begehrt die Weiterzahlung der Waisenrente über den Zeitpunkt der Vollendung des 25. Lebensjahres hinaus für weitere 15 Monate, weil sich der Abschluß seines Medizinstudiums wegen der für dieses Fach geltenden Zulassungsbeschränkungen um den genannten Zeitraum verzögert habe.
Der Kläger erhielt seit August 1973 Waisenrente. Nach dem Abitur im Jahre 1975 studierte er, da er das angestrebte Medizinstudium nicht aufnehmen konnte, ab Wintersemester 1975 Chemie. Er gab dieses - von ihm selbst so bezeichnete - "Parkstudium" am 31. März 1976 auf, leistete vom 1. April bis 31. Mai 1976 ein vormedizinisches Pflegepraktikum und übte sodann die Tätigkeit eines Hilfspflegers aus; die Beklagte stellte die Rentenzahlung mit dem Ablauf des 31. Mai 1976 ein. Ab September 1977 besuchte der Kläger eine englische Schule, um die Voraussetzungen für eine Zulassung zum Medizinstudium in England zu erfüllen, worauf die Beklagte die Rentenzahlung ab 1. September 1977 wieder aufnahm. Vom Sommersemester 1978 an studierte er in Deutschland Medizin.
Mit Bescheid vom 24. Oktober 1980 stellte die Beklagte die Zahlung der Waisenrente wegen Vollendung des 25. Lebensjahres ein. Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, das Gesetz sehe eine Zahlung der Waisenrente über das 25. Lebensjahr hinaus in Fällen einer Verzögerung der Ausbildung infolge Studienplatzmangels nicht vor. Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 4 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) ergebe sich nichts anderes, zumal die genannte Vorschrift nur vorübergehend gegolten habe. § 44 Abs 1 Satz 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) stehe auch im Einklang mit dem Grundgesetz (GG).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, die Zeit seiner Tätigkeit als Hilfspfleger stelle entweder eine Zeit der Berufsausbildung dar, für die ein Anspruch auf Waisenrente bestehe, oder eine Zeit der Unterbrechung der Ausbildung, um die sich der Zeitraum des Rentenbezuges über den Zeitpunkt der Vollendung des 25. Lebensjahres hinaus verlängere. Die Vorinstanzen hätten nicht hinreichend aufgeklärt, welcher Art die Tätigkeit als Hilfspfleger gewesen sei. Es sei - zu Unrecht - offenbar angenommen worden, daß es sich dabei um eine Erwerbstätigkeit gehandelt habe, durch die der Unterhalt des Klägers voll und ganz sichergestellt worden sei. Verneine man hier aber das Vorliegen einer Ausbildung, so müsse jedenfalls eine sinnvolle Überbrückung einer Zwangspause zwischen zwei Ausbildungsabschnitten angenommen werden. Eine Versagung der Waisenrente für Zeiten einer Verzögerung der Hochschulausbildung durch einen Mangel an Studienplätzen stehe schließlich im Widerspruch zu Art 2, 3, 6, 12 GG.
Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Waisenrente über den 31. Dezember 1980 hinaus für weitere 15 Monate zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG hat der Zulässigkeit der Berufung (vgl § 146 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) zu Recht bejaht; die Berufung betraf im Zeitpunkt ihrer Einlegung nicht nur Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum, sie betraf weiterhin den Grund des geltendgemachten Anspruchs und damit nicht nur das Ende der Rente (vgl SozR § 146 Nr 1).
Im gegenwärtigen Verfahren ist allein darüber zu befinden, ob dem Kläger ein Anspruch auf Waisenrente für Zeiten nach Vollendung des 25. Lebensjahres zusteht. Nur diesen Anspruch hat der Kläger gegenüber der Beklagten geltendgemacht, nur hierüber hat auch die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid entschieden. Hinsichtlich der Zeit von Juni 1976 bis August 1977, in der die Rentenzahlung eingestellt war, fehlt es an einem Antrag; ein solcher konnte dem Kläger schon deswegen nicht unterstellt werden, weil das von ihm eindeutig zum Ausdruck gebrachte Verlangen voraussetzt, daß die Rente seinerzeit zu Recht eingestellt gewesen ist.
Ein Anspruch auf Zahlung der Waisenrente für Zeiten nach Vollendung des 25. Lebensjahres steht dem Kläger, wie das LSG zutreffend entschieden hat, nicht zu. Nach § 44 Abs 1 Satz 3 AVG setzt ein solcher Anspruch voraus, daß die Schul- oder Berufsausbildung durch Erfüllung der gesetzlichen Wehr- oder Ersatzdienstpflicht verzögert worden ist. Einen derartigen Dienst hat der Kläger nicht geleistet; für eine erweiternde oder entsprechende Anwendung der in § 44 Abs 1 Sätze 2 und 3 AVG getroffenen Regelungen auf Fälle des Fehlens eines Ausbildungsplatzes ist nach dem eindeutigen Wortlaut und dem Sinn des Gesetzes kein Raum (vgl SozR 2200 § 1262 Nr 22, § 1267 Nr 25). Diese Regelungen begegnen entgegen der Ansicht des Klägers auch keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.
Soweit der Kläger eine Verletzung von Art 3 Abs 1 GG darin erblicken zu können meint, daß der Gesetzgeber zwischen Fällen einer Verzögerung der Ausbildung durch Erfüllung der Wehr- oder Zivildienstpflicht einerseits und denen einer Verzögerung infolge des Fehlens von Studienplätzen differenziert hat, verkennt er, daß zwischen den beiden Fallgruppen wesentliche, die Differenzierung rechtfertigende Unterschiede bestehen. Der Wehrdienstleistende kommt einer für ihn mit beträchtlichen Opfern verbundenen staatsbürgerlichen Verpflichtung nach, durch deren Erfüllung der Bestand des Gemeinwesens in Frieden und Freiheit gesichert wird. Entscheidend ist hier nicht die Bedarfslage einer noch in Ausbildung befindlichen Waise, sondern die Belastung, die dem Einzelnen zugemutet werden muß, damit verfassungsmäßige Ordnung und Friede erhalten bleiben. Gerade weil die Erfüllung der Wehrpflicht allen zugute kommt, aber nicht von jedem gefordert wird, erscheint es schon im Hinblick auf die im Allgemeininteresse liegende Bewahrung und Förderung der Wehrbereitschaft geboten, denen, die zum Wehrdienst herangezogen werden, in Gestalt der sogenannten verlängerten Waisenrente einen Ausgleich für die Verzögerung der Schul- oder Berufsausbildung zu bieten. Wenn der Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht die Erfüllung der Zivildienstpflicht gleichgestellt worden ist, so ist das schon deswegen nicht zu beanstanden, weil der Gesetzgeber dazu offenbar durch die die Annahme von Willkür ausschließende Erwägung, eine solche Gleichstellung sei verfassungsrechtlich geboten, bestimmt worden ist. Demgegenüber liegt in der Verzögerung der Ausbildung wegen des Fehlens eines Ausbildungsplatzes kein Opfer, das dem Betroffenen im Interesse der Allgemeinheit abverlangt wird; es fehlt auch an einem Tatbestand, der dem gleichgeachtet werden könnte. Selbst wenn man es grundsätzlich als Aufgabe des Staates ansieht, jedem die von ihm erstrebte Ausbildung zu ermöglichen, kann nicht gesagt werden, daß derjenige, dem der gewünschte Ausbildungsplatz nicht nachgewiesen werden kann, damit ein der Allgemeinheit zugute kommendes Opfer bringt, das einen Ausgleich gerade in Gestalt der verlängerten Waisenrente bedürfte; er leistet auch nicht einen Dienst, der als Ersatz des Wehrdienstes konzipiert ist und diesem gleichgestellt werden kann.
Bei seinem Vergleich mit einem sog Parkstudenten übersieht der Kläger, daß ein solcher Vergleich allein im Rahmen des Problems von Bedeutung sein kann, ob für die Zeit einer durch den Mangel von Ausbildungsplätzen bedingte "Zwangspause" Waisenrente zu zahlen ist (vgl dazu SozR § 1262 Nrn 12, 22); auf diese Frage kommt es aber hier nicht an.
Der Kläger wird auch nicht, wie er meint, durch § 44 Abs 1 AVG unter Verletzung von Art 2, 12, 20 GG gehindert, "seine Berufsausbildung in freier Selbstbestimmung zu planen" und "genötigt, sinnlose und sozial unnütze Ausbildungsgänge in Anspruch zu nehmen". Es ist nicht ersichtlich, inwiefern der Kläger durch eine Fortführung seines "Parkstudiums" eine - hier allein in Betracht kommende - Fortzahlung der Waisenrente über das 25. Lebensjahr hinaus hätte erreichen können. Abgesehen davon ist es eine zwar unerwünschte, aber kaum ganz zu vermeidende Nebenwirkung der Bereitstellung von Leistungen wie der Waisenrente, daß sie zu einem dem wohlverstandenen Interesse der Allgemeinheit wie des Einzelnen widerstreitenden Verhalten verleiten können; darin liegt jedoch weder ein Zwang zu einem solchen Verhalten noch eine Benachteiligung derer, die der Verlockung nicht erliegen. Eine Verfehlung des Zieles öffentlicher Leistungen bietet unter keinem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt Anlaß, solche Leistungen auch dort zu gewähren, wo die typische Bedarfslage, der durch ihre Bereitstellung Rechnung getragen werden sollte, unzweifelhaft nicht gegeben ist.
Nach alledem war die Revision mit der sich aus § 193 SGG ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Fundstellen
Haufe-Index 1660980 |
Breith. 1984, 394 |