Leitsatz (amtlich)
Wege zur Nahrungsaufnahme innerhalb der Betriebsstätte stehen ebenso im den Unfallversicherungsschutz begründenden inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Beschäftigung wie derartige Wege, die über das Betriebsgelände hinausgehen.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1
Verfahrensgang
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 10.11.1988; Aktenzeichen S 11 U 797/87) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Unfalls des Klägers als Arbeitsunfall.
Der Kläger war bei einem Bauunternehmen als Schlosser beschäftigt. Am 16. September 1986 geriet er innerhalb des Betriebsgebäudes auf dem Weg zur Einnahme einer Mittagsmahlzeit aus dem Gleichgewicht, stürzte und schlug mit dem linken Knie auf einer Kante der Treppe auf, die zum betrieblichen Vesperraum im ersten Stockwerk führte. Dabei zog er sich einen Schrägbruch der linken Kniescheibe mit sekundärer Nervenstörung zu, der operative Versorgung und wiederholte stationäre Heilbehandlung erforderte.
Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte eine Entschädigung ab, weil der Kläger keinen Arbeitsunfall erlitten habe. Im Gegensatz zu Wegen, die vom Betrieb aus unternommen würden, um außerhalb des Betriebsgeländes Essen einzunehmen, seien solche Wege innerhalb des Betriebsgeländes regelmäßig nicht durch die Unfallversicherung geschützt (Bescheid vom 27. März 1987). Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat dagegen die Beklagte verurteilt, den Unfall des Klägers als Arbeitsunfall zu entschädigen (Urteil vom 10. November 1988). Der Kläger habe einen Arbeitsunfall nach § 548 Abs 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) erlitten, weil er auf einem versicherten Betriebsweg verunglückt sei. Der innere Zusammenhang dieses Weges mit der betrieblichen Arbeit sei jedenfalls nicht schwächer als derjenige auf Wegen vom Betrieb zur Essenseinnahme außerhalb des Betriebsgeländes. Unfallversicherungsrechtlich sei der geltend gemachte Weg vergleichbar mit den unumstritten unfallgeschützten Wegen auf dem Betriebsgelände zur Verrichtung der Notdurft.
Mit der - vom SG zugelassenen und mit Zustimmung des Klägers eingelegten - Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat einen Arbeitsunfall erlitten (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Das hat das SG zutreffend erkannt.
§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO setzt voraus, daß sich ein Arbeitsunfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist (Wertung), und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat (haftungsbegründende Kausalität). Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit, hier der Betriebstätigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO), bestehen, der sogenannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSG SozR 2200 § 548 Nr 82; BSGE 63, 273, 274). Diese Voraussetzung ist erfüllt. Der Weg, auf dem der Kläger verunglückte, stand rechtlich wesentlich im inneren Zusammenhang mit seiner Betriebstätigkeit.
Das SG hat für den Senat bindend festgestellt (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), daß der Kläger am 16. September 1986 auf dem Betriebsgelände im Freien gearbeitet hatte. In der Mittagspause wollte er im Vesperraum des Betriebes, der im ersten Stockwerk des Betriebsgebäudes lag, eine Mahlzeit einnehmen. Dazu durchquerte er die Werkstatt und ging zu der Treppe, die zum Vesperraum führte. Als er sich im Gehen umdrehte, geriet er ins Schwanken und stürzte auf eine Kante der Treppe.
Die hier zu beurteilende unfallbringende Handlung des Klägers ist sachlich durch zwei voneinander zu unterscheidende Beziehungen mit seiner Betriebstätigkeit und seinem Beschäftigungsverhältnis verknüpft. Der Kläger legte zum einen einen Weg zurück, der durch die Notwendigkeit geprägt war, persönlich auf dem Betriebsgelände anwesend zu sein und dort seine betrieblichen Tätigkeiten zu verrichten. Indessen würde diese eine Beziehung allein nicht ausreichen, um rechtlich wesentlich den inneren Zusammenhang zwischen dem Weg und der Betriebstätigkeit zu begründen. Denn der Weg sollte zu einer eigenwirtschaftlichen und deshalb regelmäßig unversicherten Tätigkeit führen. Die Nahrungsaufnahme und der Aufenthalt am Ort der Nahrungsaufnahme ist in der Regel eine dem persönlichen und daher dem unversicherten Bereich zuzurechnende Betätigung (BSG SozR Nr 26 zu § 543 RVO aF; BSG, Urteil vom 23. Juni 1982 - 9b/8 RU 18/81 - in HVGBG RdSchr VB 143/82 = USK 82217; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 11. Aufl, S 481c). Dasselbe gilt auch für das Verrichten der Notdurft, deren versicherungsrechtliche Problematik das SG zu Recht vergleichsweise herangezogen hat. Auch diese Tätigkeit gehört zu den zahlreichen anderen Verrichtungen, ohne die eine ordnungsgemäße Arbeitstätigkeit nicht möglich ist, die aber trotzdem grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind (BSG, Urteil vom 27. August 1981 - 2 RU 47/79 - in HVGBG RdSchr VB 234/81 = USK 81220). Aber Essen, Trinken und das Verrichten der Notdurft während der Arbeitszeit (Arbeitsschicht) sind im Gegensatz zu bloßen Vorbereitungshandlungen vor der Arbeit dadurch gekennzeichnet, daß sie regelmäßig unaufschiebbare, notwendige Handlungen sind, um die Arbeitskraft des Versicherten zu erhalten und es ihm damit mittelbar zu ermöglichen, die jeweils aktuelle betriebliche Tätigkeit fortzusetzen. Wege, die zu diesen Zwecken zurückgelegt werden, sind von dem mittelbar betriebsbezogenen Handlungsziel geprägt. Das Zusammentreffen beider betriebsbezogener Merkmale, das letztgenannte notwendige Handlungsziel und die Betriebsbedingtheit des Weges zur Nahrungsaufnahme, bewirkt nach ständiger Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA) und des Bundessozialgerichts (BSG) den wesentlichen inneren Zusammenhang zwischen dem Betrieb und einem nach oder von der Nahrungsaufnahme außerhalb des Betriebes unternommenen Weg. Deshalb besteht auf solchen Wegen Unfallversicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO (= § 543 Abs 1 RVO aF; BSGE 4, 219, 223 mwN; BSG, Urteil vom 26. April 1973 - 2 RU 213/71 - in USK 73105; BSG SozR 2200 § 550 Nr 28; Brackmann aaO S 481i I).
Aus demselben Grund wird auf Geschäftsreisen für alle Wege nach und von der Essenseinnahme Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 RVO angenommen. Diese Wege stehen deswegen alle im inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, die den Versicherten in die fremde Stadt geführt hat (BSGE 63, 273, 274; 50, 100, 101).
Dasselbe gilt für die Verrichtung der Notdurft. Auch auf dem Weg zu einem Ort auf der Betriebsstätte selbst, an dem die Notdurft verrichtet werden soll, hat die Rechtsprechung seit jeher Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO angenommen, weil der Versicherte durch die Anwesenheit auf der Betriebsstätte gezwungen ist, seine Notdurft an einem anderen Ort zu verrichten, als er dies von seinem häuslichen Bereich aus getan haben würde (BSG, Urteile vom 12. Oktober 1973 - 2 RU 190/72 - in USK 73204, und vom 27. August 1981 - 2 RU 47/79 - aaO mwN; Brackmann aaO S 481h III).
Dementsprechend können Wege auf dem Betriebsgelände oder innerhalb der Betriebsstätte zur Nahrungsaufnahme nicht anders beurteilt werden (Brackmann aaO S 481f). Ihr innerer Zusammenhang zum Betrieb ist qualitativ derselbe wie bei Wegen zur Nahrungsaufnahme auf Geschäftsreisen oder zur Verrichtung der Notdurft auf der Betriebsstätte. Das gilt für jeden einzelnen Punkt, der in den Vergleichsfällen zur Erkenntnis des inneren Zusammenhangs mit dem Betrieb geführt hat. Der Versicherte ist durch seine betriebsbedingte Anwesenheit auf dem Betriebsgelände gezwungen, seine Nahrung an einem anderen Ort einzunehmen, als er dies von seinem häuslichen Bereich aus getan haben würde.
Im Ergebnis ist die Rechtsprechung schon bisher von diesen rechtlichen Zusammenhängen ausgegangen. Dort, wo scheinbar entgegenstehendes formuliert worden ist oder Fragen dieser Art offengelassen worden sind, beruht die jeweilige Entscheidung nicht auf solchen abweichenden Formulierungen oder der abweichenden Beantwortung dieser offengelassenen Fragen (BSG SozR 2200 § 548 Nrn 20, 73, 86; BSG, Urteil vom 29. Mai 1984 - 5a RKnU 3/83 - in HV-Info 1984, Nr 15 S 57 = USK 84115).
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 1990, 1064 |
JuS 1990, 769 |