Leitsatz (redaktionell)

Nach dem Sinn und Zweck des SGG § 96, im Rahmen einer gebotenen Prozeßökonomie eine schnelle und zweckmäßige Streiterledigung herbeizuführen, sollen alle Bescheide, die den Prozeßstoff und rechtshängige Ansprüche nachträglich beeinflussen, in dem schon anhängigen Rechtsstreit miterfaßt und beurteilt werden. Ein Rentenentziehungsbescheid, der wegen Ausheilung des anerkannten Schädigungsleidens erteilt wurde, beeinflußt einen rechtshängigen Streit um die Feststellung weiterer Schädigungsfolgen und um die Rentengewährung.

Die Ausdehnung der schon bestehenden Rechtshängigkeit auf den neuen Verwaltungsakt tritt gemäß SGG § 96 nicht erst durch entsprechende Anträge des Klägers, sondern kraft Gesetzes ein.

Das, was der Kläger mit seinen Anträgen hinsichtlich des neuen Verwaltungsaktes begehrt, gehört zum Streitgegenstand.

Eine uneingeschränkte Berufungsrücknahme erfaßt den ganzen Streitgegenstand. Nimmt der Kläger die Berufung zurück, so findet das Verfahren dadurch auch insoweit seine Erledigung, als er im Berufungsverfahren den neuen Verwaltungsakt angefochten hat.

 

Normenkette

SGG § 96 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 153 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 102 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 156 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. September 1961 und des Sozialgerichts Münster vom 10. November 1959 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamts Münster vom 27. Juli 1956 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 1957 als unzulässig abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der 1919 geborene Kläger bezog nach dem Bescheid der Reichsbahnversicherungsanstalt Essen vom 26. März 1949 wegen eines Restzustandes nach Dystrophie Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v. H. Der Umanerkennungsbescheid vom 17. April 1951 übernahm Leidensbezeichnung und Grad der MdE entsprechend dem Vorschlag des Facharztes für Chirurgie Dr. B vom 29. Dezember 1950 unverändert. Mit Bescheid vom 21. Juli 1953 stellte das Versorgungsamt (VersorgA) Münster auch noch chronischen Kniegelenkkapsel-Rheumatismus als Schädigungsfolge fest, bezeichnete Unterernährungsfolgen als abgeklungen und gewährte weiterhin Rente nach einer MdE um 30 v. H. Im Einspruchsverfahren hatte der Kläger, der die Fortdauer der Dystrophie-Folgen behauptete, keinen Erfolg. Hiergegen legte er Berufung zum Oberversicherungsamt ein, die als Klage zum Sozialgericht (SG) Münster am 1. Januar 1954 (Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) überging. Auf Grund weiterer fachärztlicher Untersuchungen, welche die Kniegelenke schmerzlos und frei von Reibegeräuschen befunden haben, entzog das VersorgA dem Kläger mit Bescheid vom 27. Juli 1956 ab 1. Oktober 1956 die Versorgungsrente, weil der Rheumatismus ausgeheilt sei. Mit Schriftsatz vom 21. August 1956 wies der Beklagte darauf hin, daß der Neufeststellungsbescheid des VersorgA Münster vom 27. Juli 1956 gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens sei. Im Verhandlungstermin vom 21. September 1956 beantragte der Kläger, unter Abänderung des Bescheides vom 21. Juli 1953 und unter Aufhebung des Einspruchsbescheides vom 10. September 1953 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger wegen der anerkannten Schädigungsfolgen und wegen chronischer Bronchitis im Sinne der Verschlimmerung ab 1. August 1953 Rente nach einer MdE um 50 v. H. zu zahlen. Das SG wies mit Urteil vom 21. September 1956 die Klage ab. Es führte aus, der Bescheid vom 26. März 1949, welcher chronische Bronchitis als Schädigungsfolge abgelehnt hat, sei bindend (§ 85 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -); außerdem habe die Medizinische Universitätsklinik in Münster festgestellt, daß chronische Bronchitis nicht Schädigungsfolge sei. Gegen dieses dem Klägervertreter am 9. Oktober 1956 zugestellte Urteil legte der Kläger am 7. November 1956 Berufung ein. Er beantragte mit Schriftsatz vom 20. März 1957, das angefochtene Urteil aufzuheben, den Bescheid vom 21. Juli 1953, die Einspruchsentscheidung vom 10. September 1953, den Bescheid vom 27. Juli 1956 und den Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1957 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, chronische Bronchitis im Sinne der richtunggebenden Verschlimmerung anzuerkennen und für den chronischen Kniegelenkkapsel-Rheumatismus Rente in rentenberechtigendem Grade zu zahlen. Zur Begründung des Antrags führte der Kläger aus, daß der Bescheid vom 27. Juli 1956 gemäß §§ 96, 153 SGG Gegenstand der Berufung sei. Das Landessozialgericht (LSG) holte den ärztlichen Schlußbericht über den Kuraufenthalt des Klägers im Solbad R. vom 30. Oktober bis 27. November 1956 ein. Danach bestand bei Aufnahme eine diffuse Bronchitis und ein chronischer Gelenkrheumatismus. Im Auftrag des LSG erstattete der Facharzt für Orthopädie und Chirurgie Dr. M in E.-S. am 8. April 1958 ein Gutachten. Der Gutachter stellte fest, daß heute ein krankhafter Befund rheumatischer Art an den Gelenken und unteren Gliedmaßen nicht bestehe, eine wesentliche Befundänderung nicht eingetreten sei und eine MdE nicht gegeben sei. Das LSG zog ferner den Entlassungsbericht der Rheumaklinik des Sol- und Thermalbades im St.-J.-Haus in W.-E. vom 30. August 1958, in welchem der Kläger vom 25. Juli 1958 bis 20. August 1958 behandelt wurde, bei. In der Verhandlung vom 20. November 1958 zog der Kläger im Einverständnis mit seinem Prozeßbevollmächtigten die Berufung zurück. Nachdem der Widerspruch gegen den Rentenentziehungsbescheid vom 27. Juli 1956 erfolglos war (Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1957) erhob der Kläger auch am 9. Februar 1957 Klage. Er beantragte, den Bescheid vom 27. Juli 1956 und den Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1957 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, wieder Kniegelenkkapsel-Rheumatismus als Schädigungsfolge anzuerkennen. Der Beklagte machte geltend, daß der angefochtene Bescheid gemäß den §§ 96, 153 SGG durch die Rücknahme der Berufung des Klägers rechtsverbindlich geworden sei. Mit Schriftsatz vom 7. April 1959 brachte der Kläger vor, daß der Sitzungsniederschrift nicht zu entnehmen sei, daß die beiden anhängigen Streitsachen nach §§ 96, 153 SGG verbunden worden seien. Auf seinen während des Klageverfahrens gestellten Antrag vom 7. April 1959 lehnte die Verwaltungsbehörde mit Bescheid vom 31. Juli 1959 den Erlaß eines Zugunstenbescheides gemäß § 40 Verwaltungsverfahrensgesetz - VerwVG - ab. Der Kläger beantragte, den Entziehungsbescheid vom 27. Juli 1956 aufzuheben. Das SG hob mit Urteil vom 10. November 1959 den Bescheid vom 27. Juli 1956 und den Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1957 auf und verurteilte den Beklagten, Rente ab Entziehung nach einer MdE um 30 v. H. weiterzugewähren. Der Entziehungsbescheid vom 27. Juli 1956 sei in das Streitverfahren, das durch Urteil des SG Münster vom 21. September 1956 beendet worden sei, nicht einbezogen worden. Er sei auch nicht im Berufungsverfahren Gegenstand dieses Verfahrens gewesen. Durch die Rücknahme der Berufung seien daher der Entziehungsbescheid vom 27. Juli 1956 und der Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1957 nicht bindend geworden. Die Klage sei somit zulässig. Die Voraussetzungen für eine Rentenentziehung (§ 62 BVG) lägen nicht vor. Der Kniegelenkrheumatismus sei eine Fehldiagnose gewesen. Die Beschwerden seien auf eine Bandscheibenverschleißerscheinung zurückzuführen. Da keine wesentliche Änderung eingetreten sei, könne § 62 BVG nicht angewandt werden.

Das LSG wies mit Urteil vom 20. September 1961 die Berufung des Beklagten als unbegründet zurück. Es führte aus: Die Zurücknahme der Berufung vom 12. November 1958 (muß heißen: 20. November 1958) habe den Entziehungsbescheid vom 27. Juli 1956 nicht berührt. Der Bescheid sei zwar Gegenstand des Berufungsverfahrens nach der Auffassung aller Beteiligten gewesen. Der Entziehungsbescheid sei aber auch schon Gegenstand des Klageverfahrens gewesen, weshalb das SG über diesen Bescheid durch Urteil vom 21. September 1956 hätte mitentscheiden müssen. Den durch die Unterlassung begangenen Verfahrensfehler hätte das LSG durch Zurückverweisung oder durch Sachentscheidung auch über den angefochtenen Bescheid beheben können. Durch die Berufungszurücknahme sei aber der Kläger nicht des gegen den Entziehungsbescheid zulässigen Rechtsbehelfs verlustig gegangen. Aus der Berufungsrücknahme sei ein solcher Verzicht nicht zu entnehmen. Das SG habe daher noch über die bei ihm anhängige Klage gegen den Bescheid vom 27. Juli 1956 zu befinden gehabt und deshalb auch sachlich darüber entscheiden müssen. Da eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG nicht eingetreten sei, habe das SG auch mit Recht die Bescheide und Widerspruchsbescheide aufgehoben. Die bloße abweichende medizinische Deutung der Beschwerden als Folgen eines ausgeprägten Knick-Senk- und Spreizfußes sowie eines Bandscheibenschadens rechtfertige nicht eine Neufeststellung. Der angefochtene Verwaltungsakt könne auch nicht in einen Berichtigungsbescheid nach § 41 VerwVG umgedeutet werden, weil die sachlichen Voraussetzungen für eine Berichtigung fehlten. Rückblickend sei eine rheumatische Erkrankung im Zeitpunkt der Anerkennung nach dem Gutachten vom 19. Juni 1951 möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich gewesen. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Das Urteil ist dem Beklagten am 13. Oktober 1961 zugestellt worden.

Der Beklagte hat gegen das Urteil mit einem am 9. November 1961 eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und diese innerhalb der Revisionsbegründungsfrist begründet. Er beantragt,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20. September 1961 und des SG Münster vom 10. November 1959 abzuändern und die Klage als unzulässig abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20. September 1961 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte rügt, das LSG habe die bestehenden Prozeßhindernisse verkannt und damit die §§ 96, 79, 80, 103, 106, 128 SGG, § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), § 77 SGG, § 24 VerwVG, §§ 274 Abs. 2 und 307 der Zivilprozeßordnung (ZPO) in Verbindung mit § 202 SGG verletzt.

Der streitige Entziehungsbescheid vom 27. Juli 1956 sei Gegenstand des vorausgegangenen Streitverfahrens gewesen, das durch die Rücknahme der Berufung im zweiten Rechtszuge beendet worden ist. Der Bescheid hätte daher nicht mehr zum Gegenstand des gegenwärtigen Streitverfahrens gemacht werden dürfen. Dem stehe die Einrede der Rechtshängigkeit und der Rechtskraft bzw. der bindend entschiedenen Sache entgegen. Wegen dieser prozeßhindernden Einrede und mangels Rechtsschutzinteresses müsse die Klage als unzulässig abgewiesen werden (§ 274 Abs. 2 Ziff. 4 ZPO i. V. m. § 202 SGG; §§ 77, 141 SGG).

Die Wirkung des § 96 SGG trete kraft Gesetzes ein (BSG 11, 146); die uneingeschränkte Berufungszurücknahme beziehe sich daher auf den Streitgegenstand, soweit er im Entziehungsbescheid vom 27. Juli 1956 und im Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1957 geregelt ist. Das LSG widerspreche sich und verstoße auch gegen die Logik, soweit es den Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. Juli 1956 auf der einen Seite für unzulässig halte, auf der anderen Seite aber in Bezug auf diesen Bescheid ausführe, der Kläger sei des zulässigen Rechtsbehelfs nicht verlustig gegangen. Sei aber der Widerspruch nicht zulässig, könne auch das Klageverfahren nicht zulässig sein. Die Wirkung des § 96 SGG sei der Vereinbarung durch die Beteiligten entzogen.

Schließlich habe das LSG nicht von Amts wegen den Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Streitverfahren erforscht und dadurch gegen §§ 103, 106, 128 SGG verstoßen. Die Rücknahme der Berufung beziehe sich auf beide rechtshängigen Bescheide und habe bewirkt, daß die Bescheide vom 21. Juli 1953 und 27. Juli 1956 bindend geworden seien. Dies habe das LSG verkannt, indem es über den Bescheid vom 27. Juli 1956 erneut entschieden habe.

Der Kläger hat sich zum Revisionsvorbringen nicht geäußert.

Die Revision des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt; die nicht zugelassene Revision ist statthaft, weil der Beklagte mit Erfolg einen wesentlichen Mangel des Verfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) rügt, den er unter anderem darin sieht, daß das LSG § 96 SGG verletzt habe. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor.

Nach § 96 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt, der nach Erhebung der Klage und vor Ende des Berufungsverfahrens ergeht, Gegenstand des Verfahrens, wenn er den mit der Klage angefochtenen Verwaltungsakt abändert (beeinflußt). Die schon bestehende Rechtshängigkeit wird auf den neuen Verwaltungsakt ausgedehnt (BSG 11, 146).

Der Bescheid vom 27. Juli 1956 und der Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 1957 waren Gegenstand des durch die Berufungsrücknahme beendeten vorausgegangenen Berufungsverfahrens. Die Bescheide waren nicht erst durch die Berufungsanträge des Klägers, welcher im Berufungsverfahren die Aufhebung dieser Bescheide beantragt hat, sondern bereits gemäß § 96 SGG kraft Gesetzes Gegenstand des Verfahrens in dem Sinne geworden, daß die Rechtshängigkeit erweitert worden ist. Denn aus prozeßökonomischen Gründen ist den Beteiligten nach § 96 SGG die Bestimmung des Prozeßgegenstandes entzogen.

Das LSG ist, wie auch die Revision nicht verkannt hat, zutreffend davon ausgegangen, daß der Bescheid vom 27. Juli 1956 in das damals anhängige Streitverfahren einbezogen worden ist. § 96 SGG setzt voraus, daß das den Erstbescheid vom 2. Juli 1953 betreffende Verfahren bei Erlaß des Zweitbescheides vom 27. Juli 1956 noch anhängig war. Diese Voraussetzung war erfüllt, weil der Zweitbescheid vor dem Urteil erster Instanz vom 21. September 1956, das die Klage abgewiesen hat, erlassen und zugestellt worden war. Der Zweitbescheid, welcher die Versorgungsrente entzog, erfüllt auch die weitere Voraussetzung, daß er den Erstbescheid abändert oder ersetzt; denn wie das Bundessozialgericht mehrfach ausgesprochen hat, ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn der spätere Bescheid den Kläger im Hinblick auf sein Prozeßziel, also den Streitgegenstand, noch mehr beschwert (BSG 4, 24; 5, 13, 158; 10, 103, 107; 11, 147; Miesbach, Die Abänderung und Ersetzung des angefochtenen Verwaltungsakts während des sozialgerichtlichen Verfahrens, Verlag Chmielorz, Wiesbaden).

Der Sinn und Zweck des § 96 Abs. 1 SGG ist, im Rahmen einer gebotenen Prozeßökonomie eine schnelle und zweckmäßige Streiterledigung herbeizuführen. Danach sollen alle Bescheide, die den Prozeßstoff rechtshängiger Ansprüche nachträglich beeinflussen (BSG 5, 162), in dem schon rechtshängigen Rechtsstreit miterfaßt und beurteilt werden. Der Streit um die Feststellung von Schädigungsfolgen und Gewährung einer Versorgungsrente wird von dem mit Bescheid vom 27. Juli 1956 geregelten Gegenstand (Entziehung der Versorgungsrente wegen Ausheilung des chronischen Kniegelenkkapsel-Rheumatismus) nachträglich beeinflußt.

War aber der Neufeststellungsbescheid vom 27. Juli 1956 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 1957 von dem gegen den Erstbescheid vom 2. Juli 1953 rechtshängigen Verfahren gemäß § 96 SGG erfaßt worden, so hat die durch die uneingeschränkte Rücknahme der Berufung eingetretene Erledigung des Rechtsstreits zur Folge, daß es einmal bei dem erstinstanzlichen Urteil (Klageabweisung) verbleibt und sodann aber auch, daß das Verfahren auch insoweit erledigt wird, als der Kläger die im anhängigen Berufungsverfahren einbezogenen Zweitbescheide vom 27. Juli 1956 und 15. Januar 1957 angefochten hat. Denn hinsichtlich dieser Zweitbescheide suchte der Kläger im Berufungsverfahren entsprechend dem Inhalt seiner Berufungsanträge zu erreichen, daß diese Bescheide durch das Berufungsgericht aufgehoben werden. Die Aufhebung dieser Bescheide mit dem damit versorgungsrechtlich angestrebten Ziel rechnet daher zum Streitgegenstand (Miesbach aaO S. 55; BVerwGE 7, 325; Groschup in DVBl 1961 S. 841). Im Ausmaß dieses Streitgegenstandes und damit auch hinsichtlich der Anfechtungsklage gegen den Zweitbescheid hat durch die Berufungsrücknahme das Streitverfahren geendet (§ 156 Abs. 2 SGG). Da das erstinstanzliche Urteil auf Klageabweisung lautet, sind mit der Berufungsrücknahme die den Kläger belastenden Erst- und Zweitbescheide bindend geworden (§§ 77, 141 SGG). Dieser Erfolg tritt ipso iure ein. Die in der ZPO enthaltenen Vorschriften über die Berufungsrücknahme sind hier nicht anwendbar (SozR SGG § 156 Bl. Da 1 Nr. 1). Das entgegen dieser Bindung fortgesetzte Verfahren im ersten und zweiten Rechtszug war daher unzulässig, weil ihm teils die Rechtskraft des Urteils vom 21. September 1956, im übrigen aber die Bindung der Bescheide (§ 24 VerwVG; § 77 SGG) entgegenstand. Das unter Nichtbeachtung dieses Prozeßhindernisses eingeleitete und durchgeführte gerichtliche Verfahren des LSG, das bindend gewordene Verwaltungsakte sachlich geprüft hat, verstößt gegen das Gesetz. Das LSG hat verkannt, daß die Wirkung des § 96 SGG unabhängig vom Willen der Beteiligten kraft Gesetzes eintritt und mangels Vorbehalts die Berufungsrücknahme den ganzen Streitgegenstand erfaßt. Die Anträge des Klägers in der Berufungsschrift vom 20. März 1957 beweisen, daß sich der Kläger des Umfangs des Streitgegenstandes (einschließlich der geltend gemachten Rechtswidrigkeit der Zweitbescheide) bewußt war (vgl. Blomeyer, Festschrift für Lent 1957, Verlag Beck, S. 47). Das LSG hätte das schon unzulässige erstinstanzliche Sachurteil des SG Münster vom 10. November 1959 aufheben und die Klage als unzulässig abweisen müssen, wenn es nicht die Sache wegen des Verfahrensmangels an die Vorinstanz zurückverweisen wollte, zumal selbst der Kläger die Zulässigkeit des Verfahrens des SG Münster nach Rücknahme der Berufung mit Schriftsatz vom 14. Januar 1959 bezweifelt hat.

Auf die weiteren Verfahrensrügen des Beklagten, welche die Sachaufklärung des LSG betreffen, kommt es daher nicht mehr an. Der festgestellte Verfahrensmangel, der ein Sachurteil anstelle eines Prozeßurteils zur Folge hatte, ist wesentlich. Die Revision ist daher statthaft; denn auf dieser Gesetzesverletzung beruht das angefochtene Urteil (§ 96 i. V. m. § 162 Abs. 2 SGG). Die Revision ist auch begründet, so daß das angefochtene Urteil aufzuheben war (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Da alle erforderlichen Feststellungen sich bereits aus der Prozeßgeschichte ergeben und die Mängel im aufgehobenen Urteil eine Frage der rechtlichen Beurteilung der Wirkung des § 96 SGG und § 77 SGG sind, konnte der Senat in der Sache selbst entscheiden. Infolge der Berufungsrücknahme und der damit eingetretenen Bindung der Bescheide vom 27. Juli 1956 und 15. Januar 1957 mußte nach Aufhebung des Berufungsurteils auch das Urteil erster Instanz vom 10. November 1959 aufgehoben werden und die Klage gegen die bezeichneten Bescheide als unzulässig abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2387451

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