Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung. Berufungsausschluß. Rechtsmittelklarheit. analoge Anwendung
Orientierungssatz
Eine analoge Anwendung des § 146 SGG auf den Beitragszuschuß zur Krankenversicherung der Rentner ist abzulehnen (ständige Rechtsprechung BSG vom 13.10.1983 11 RAz 1/83 = SozR 1500 § 146 Nr 16). Ohne Gesetzesänderung von der bewährten Rechtsprechung zur Berufungsstatthaftigkeit in Beitragszuschußstreitigkeiten abzugehen, verbietet sich, insbesondere aber auch wegen der Rechtsmittelklarheit. Da die Zulässigkeit von Rechtsmitteln von Zweifeln möglichst freizuhalten ist, bedarf es einer restriktiven, vornehmlich am Wortlaut orientierten Auslegung (So auch GmS OGB vom 16.3.1976 GmS OGB 1/75 = SozR 1500 § 161 Nr 18).
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Streit geht um die Zahlung eines Beitragszuschusses zur Krankenversicherung für bereits abgelaufene Zeiträume.
Der freiwillig krankenversicherte Kläger bezieht von der Beklagten seit 1969 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit, seit Januar 1979 hierzu auch den Zuschuß zu seinen Aufwendungen für die Krankenversicherung. Für die Zeiten ab Januar 1977 verweigerte die Beklagte eine Zahlung, weil der Kläger den Zuschuß erst im September 1983 beantragt habe; sie beruft sich auf Verjährung (Bescheid vom 15. Dezember 1983, Widerspruchsbescheid vom 10. April 1984).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Zahlung von Januar 1977 bis Dezember 1978 verurteilt. Die Berufung gegen das Urteil vom 22. März 1985 hat das Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel entsprechend § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht statthaft sei (Urteil vom 9. Juli 1986). Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) eine analoge Anwendung auf Beitragszuschüsse bisher abgelehnt, doch sei dem nicht zu folgen. In jüngster Zeit habe das BSG zu erkennen gegeben, daß es eine analoge Anwendung des § 149 SGG bei zumindest ähnlicher Interessenlage trotz dessen Ausnahmecharakter für möglich halte. Eine analoge Anwendung von § 146 SGG auf Beitragszuschüsse liege deshalb nahe, weil der Beitragszuschuß vom Rentenanspruch abhängig sei; Rentenansprüche für abgelaufene Zeiträume unterlägen aber dem Berufungsausschluß. Sei der präjudizielle Anspruch nicht berufungsfähig, dann könne es auch der abhängige nicht sein. Nach jetziger Rechtslage komme dem Argument der besonderen wirtschaftlichen Bedeutung des Beitragszuschusses keine wesentliche Bedeutung mehr zu. Eine Regelungslücke liege vor.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 143, 146 SGG. Das SG habe zu Recht die Berufung als zulässig angesehen; damit befinde es sich in Übereinstimmung mit dem BSG. Eine Regelungslücke sei im Gesetz nicht vorhanden.
Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist dahingehend begründet, daß das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Zu Unrecht hat das LSG nicht in der Sache entschieden, sondern die Berufung als unzulässig verworfen. Das hätte nur geschehen dürfen, wenn einer der in den §§ 144 bis 149 SGG aufgeführten Ausschließungsgründe gegeben wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall; die Berufung ist vielmehr nach der Grundregel des § 143 SGG zulässig.
Als Berufungsausschließungsgrund hat das LSG § 146 SGG herangezogen und die Vorschrift entsprechend angewandt. Zu entscheiden ist vom erkennenden Senat nur darüber, ob eine solche Handhabung des Gesetzes vorliegend rechtens ist; die anderen im SGG vorgesehenen Berufungsausschließungsgründe kommen nicht in Betracht.
Das BSG hat von Anfang an ständig entschieden, daß eine analoge Anwendung des § 146 SGG auf den Beitragszuschuß zur Krankenversicherung der Rentner abzulehnen ist (SozR 1500 § 146 Nr 16 und die dort aufgeführten Entscheidungen). Hiervon abzugehen besteht keine Veranlassung. Die insbesondere in SozR aaO und in den Urteilen vom 13. Oktober 1983, 11 RJz 1 und 3/83, welche auf die vom LSG auf Seite 7 angeführten Entscheidungen hin ergangen sind, dargelegten Argumente gelten sämtlich fort. Soweit das LSG hiergegen die schon seinerzeit vorgebrachte Gegenmeinung wiederholt, wird daher eine erneute Stellungnahme nicht für erforderlich erachtet. Zur Klarstellung ist insoweit allerdings darauf hinzuweisen, daß in SozR 1500 § 146 Nr 16 nicht die Rede davon ist, "daß auch eine falsche Rechtsprechung nicht geändert werden könne". Vielmehr ist dort unter Hinweis auf eine damals schon mehr als 15 Jahre bestehende Rechtsprechung zur Ablehnung einer entsprechenden Anwendung des § 146 SGG betont worden, eine solche Rechtsprechung könne nicht ohne zwingende Gründe geändert werden (s hierzu im übrigen BSGE 40, 292, Leitsatz zu 2; USK 1977, 217; Urteil vom 8. Dezember 1983, 2 RU 69/82; BAGE 12, 278); daß sie "falsch" sei, ist damit keinesfalls zum Ausdruck gebracht.
Die Hinweise des LSG auf mittlerweile eingetretene Rechtsprechungstendenzen sowie Gesetzgebungsentwicklungen hindern ebenfalls nicht, an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten. In den vom LSG aufgeführten Urteilen vom 24. Oktober 1984 (SozR 1500 § 149 Nr 7) und vom 5. Februar 1985, 6 RKa 3/84, hat der 6. Senat des BSG in Streitigkeiten des Kassenarztrechts wegen Arzneimittelregresses die Berufung in entsprechender Anwendung von § 149 SGG für unzulässig angesehen. Dies hat er damit begründet, daß die Interessenlage derjenigen ähnlich sei, die der Gesetzgeber in § 149 SGG bewertet habe. Im weiteren hat er hervorgehoben, bei der Prüfung, ob die beiden für eine Analogiemöglichkeit zu vergleichenden Sachverhalte "gleich" bzw "ähnlich" seien, sei die Grenze dort zu ziehen, wo durch die analoge Anwendung die Regelungsabsicht des Gesetzgebers vereitelt werden würde; sei es auch nur zweifelhaft, ob der Unterschied nicht doch so groß sei, daß eine Gleichstellung die gesetzliche Wertung in Frage stellen könnte, sei für eine Analogie kein Raum. Hiermit hat der 6. Senat hinlänglich verdeutlicht, daß seine - zu § 149 SGG ergangene - Entscheidung auf eine spezielle Fallgestaltung zugeschnitten und zu beschränken ist, zumal er ausdrücklich darauf hingewiesen hat, von keiner anderen Entscheidung des BSG, auch nicht von der eigenen in SozR Nr 27 zu § 144 SGG, abgewichen zu sein, auf die sich der erkennende Senat in BSGE 46, 167, 169 = SozR 1500 § 146 Nr 8 für die Ablehnung der analogen Anwendung des § 146 SGG berufen hat. Das LSG kann mit dem 6. Senat in SozR 1500 § 149 Nr 7 auch nicht seine Annahme stützen, der erkennende Senat schließe - zu Unrecht - bei einer Ausnahmevorschrift jedwede Möglichkeit einer Analogie aus. Weder lassen sich die Ausführungen in BSGE 46, 167, 169 dahin verstehen noch hat der 6. Senat dies aaO, zudem im die Begründung tragenden Teil der Entscheidung, angenommen; er betont im Gegenteil, die betreffende Wendung könne objektiv nicht bedeuten, daß bei Ausnahmevorschriften eine Analogie ausgeschlossen wäre. Zu dem in SozR 1500 § 146 Nr 16 vom erkennenden Senat herangezogenen Urteil des 6. Senats vom 27. November 1959 (BSGE 11, 102 = SozR Nr 16 zu § 144 SGG) schließlich bringt das LSG keine neuen sachdienlichen Erkenntnisse vor; es können nicht Begriffe des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches mit in diesem lange vor Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches ergangenen Urteil verwendeten Begriffen gleichgesetzt werden (vgl im übrigen den erkennenden Senat in SozR 1500 § 144 Nr 27, Bl 47 Mitte).
Die prozessualen Folgen des Umstandes, daß der Anspruch auf den Beitragszuschuß das Bestehen eines Rentenanspruchs voraussetzt, hat der Senat in SozR 1500 § 146 Nr 16 bereits im einzelnen bedacht. Daß es nach der Fassung der Berufungsausschließungsgründe der §§ 144 bis 149 SGG keine Seltenheit ist, wenn der eigentlich streitige vorgreifliche prozessuale Anspruch nicht berufungsfähig ist, wohl aber ein davon abhängiger weiterer Anspruch, ist mittlerweile vom BSG auch zu der Neuregelung der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes in § 45 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) und der Erstattung erbrachter Leistungen (§ 50 SGB 10) schon wiederholt bestätigt worden (SozR 1500 § 146 Nrn 18 und 19; neuerlich Urteil vom 29. Oktober 1986 - 7 RAr 89/85 -). Die Rechtsänderung durch das SGB 10 hat zwar, worauf das LSG zutreffend hinweist, eine Gewichtsverlagerung auch im Hinblick auf die Statthaftigkeit der Berufung zur Folge. Diese kann aber weder dazu führen, § 146 SGG entgegen dem eindeutigen Wortlaut auszulegen noch die Rechtsprechung des BSG zum Berufungsausschluß in der Rentenversicherung aufzugeben. Das gleiche gilt - im umgekehrten Sinne - für die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Berufung bei Beitragszuschüssen zur Krankenversicherung. Der Gesetzgeber hat eine Änderung des § 146 SGG trotz der einen Wandel gegenüber dem früheren Rechtszustand bringenden Regelung in den §§ 45 ff SGB 10 bisher nicht für erforderlich gehalten. Ohne Gesetzesänderung von der bewährten Rechtsprechung zur Berufungsstatthaftigkeit in Beitragszuschußstreitigkeiten abzugehen, verbietet sich schon aus diesem Grunde, insbesondere aber auch wegen der Rechtsmittelklarheit. Da die Zulässigkeit von Rechtsmitteln von Zweifeln möglichst freizuhalten ist, bedarf es einer restriktiven, vornehmlich am Wortlaut orientierten Auslegung (SozR 1500 § 161 Nr 18).
Da somit die Berufung nicht ausgeschlossen ist, hätte eine Sachentscheidung ergehen müssen. Sie wird nachzuholen sein und auch die Entscheidung über die Kosten der Revisionsinstanz zu enthalten haben.
Fundstellen