Leitsatz (amtlich)

Ein verschlossener Arbeitsmarkt kann nicht wegen eines vom Versicherten innegehabten Arbeitsplatzes ausnahmsweise für ihn als offen angesehen werden, wenn der Versicherte den Arbeitsplatz nur in Auswirkung der Sonderbestimmung des MTA § 59 (BAT) innehat.

 

Normenkette

AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; MTA § 59

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 31. August 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Der 1913 geborene Kläger ist seit 1945 Angestellter beim Arbeitsamt N, seit 1973 in Vergütungsgruppe VII MTA. Er bezieht, vornehmlich wegen Versteifung des linken Schultergelenks, eine Kriegsbeschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. . Im März 1971 beantragte er Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 28. Juli 1971 ab.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab April 1971 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es ist davon ausgegangen, daß der Kläger aus gesundheitlichen Gründen täglich nur noch vier bis viereinhalb Stunden leichte Arbeiten - allerdings ohne einseitige Körperhaltung, Nässe, Zugluft und Zeitdruck und mit der Möglichkeit zu kurzen Pausen sowie Einnahme von Schonkost - verrichten könne. Dieses verbliebene Leistungsvermögen könne der Kläger jedoch nicht mehr realisieren; denn nach Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit sei ihm in den in Betracht kommenden Büroberufen der Arbeitsmarkt im Sinne der Beschlüsse des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 praktisch verschlossen. Dem stehe nicht entgegen, daß sich der Kläger in einem nach § 53 Abs. 3 MTA (= § 53 Abs. 3 BAT) unkündbaren Arbeitsverhältnis befinde. Seine Vollbeschäftigung beim Arbeitsamt beruhe nur noch darauf, daß bei Berufsunfähigkeit das Arbeitsverhältnis gemäß § 59 MTA (= BAT) nicht vor Zustellung des Rentenbescheides ende; an sich sei ein ganztägiger Arbeitseinsatz für den Kläger unzumutbar und gefährde seine Gesundheit. Halbtags aber könne der Kläger nach der Auskunft des Arbeitsamtes und der Aussage des Personalleiters nicht beschäftigt werden.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung des § 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Nach ihrer Meinung ist der Arbeitgeber verpflichtet, in seinem Organisationsbereich dem Kläger einen geeigneten Arbeitsplatz zuzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Zurückweisung der Revision.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Dem Kläger steht für die Zeit ab April 1971 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu.

Nach § 23 Abs. 2 AVG ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich oder geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Hierzu hat das LSG festgestellt, daß der Kläger nach seinem Leistungsvermögen zwar als Verwaltungsangestellter und in vergleichbaren Büroberufen an sich noch halbtags tätig sein und daß er bei einer solchen Erwerbstätigkeit auch noch den halben Verdienst einer gesunden Vergleichsperson erzielen könnte. Das LSG hat jedoch dieses dem Kläger verbliebene Leistungsvermögen für unbeachtlich gehalten, weil ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei.

Diese Ansicht hat das LSG auf Feststellungen gegründet, die es Auskünften der Bundesanstalt für Arbeit entnommen hat. Die Beklagte hat gegen diese tatsächlichen Feststellungen keine Verfahrensrügen erhoben; sie sind daher für den Senat bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Hiernach hat das LSG den Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger im Sinne der Beschlüsse des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 als verschlossen ansehen dürfen.

Unter den Beteiligten ist insoweit nur streitig, ob das beim Kläger noch bestehende Arbeitsverhältnis den Arbeitsmarkt für ihn dennoch offen erscheinen läßt. Die Beklagte will hier an die Rechtsprechung (BSG 19, 147, 149; 30, 167, 185) anknüpfen, die einen verschlossenen Arbeitsmarkt verneint, wenn der Versicherte einen seinem geminderten Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz tatsächlich innehat (vgl. hierzu auch Urteil des 1. Senats vom 12. Dezember 1974 - 1 RA 33/76). Im vorliegenden Fall hat der Kläger zwar noch einen Arbeitsplatz inne, auf dem er Erwerbseinkünfte erzielt. Das kann aber dennoch nicht dazu führen, daß der Arbeitsmarkt wegen dieses noch innegehabten Arbeitsplatzes für ihn als offen angesehen wird. Denn daß der Kläger einen solchen Arbeitsplatz noch innehat, ist allein eine Auswirkung der Sondervorschrift des § 59 MTA (BAT). Diese tarifvertragliche Bestimmung läßt bei bestehender Berufsunfähigkeit das Arbeitsverhältnis zum Schutze des Arbeitnehmers erst mit Ablauf des Monats, in dem der Rentenbescheid zugestellt wird, enden. Eine Berufsunfähigkeit kann demzufolge nicht umgekehrt wegen des noch bestehenden Arbeitsverhältnisses verneint werden. Anderenfalls würde der Zweck des § 59 MTA (BAT) in sein Gegenteil verkehrt.

Eine andere Frage ist es, ob der Arbeitgeber des Klägers diesem einen seinem geminderten Leistungsvermögen entsprechenden Halbtagsarbeitsplatz zuweisen dürfte und müßte. Hier ließe sich an in der bisherigen Rechtsprechung entwickelte Rechtsgedanken anknüpfen, die Ausfluß des auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben sind. So hat der Große Senat des BSG in BSG 30, 167, 185 einen offenen Arbeitsmarkt außerdem bejaht, wenn ein Versicherter die Einnahme eines seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Arbeitsplatzes ohne triftigen Grund ablehnt. Dem ist der Fall gleichgestellt worden, daß die Arbeitsverwaltung dem Versicherten bei entsprechendem Bemühen einen geeigneten Teilzeitarbeitsplatz vermittelt hätte (SozR Nr. 111, 115 zu § 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Im Hinblick hierauf wäre zu fragen, ob sich der Kläger nicht entgegenhalten lassen muß, daß er sich nicht ausreichend um die Zuweisung einer mit Entgeltzahlung verbundenen Halbtagstätigkeit im Gesamtbereich der Arbeitsverwaltung bemüht habe.

Das ist jedoch zu verneinen. Der Senat verweist insoweit auf sein Urteil vom gleichen Tage in der Sache 11 RA 50/74. Auch im vorliegenden Falle hätte der Kläger, um eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zuweisung einer geeigneten Halbtagstätigkeit durchzusetzen, Klage zum Arbeitsgericht erheben müssen. Da der Ausgang dieses Rechtsstreits jedoch ungewiß gewesen wäre, konnte das von ihm nach Treu und Glauben nicht verlangt werden.

Somit war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649497

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