Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 30. Januar 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Der 1914 geborene Kläger wurde 1935 Berufssoldat. Wegen einer Lähmung im rechten Unterarm, des Verlustes der rechten Niere und anderer Wehrdienstbeschädigungen erhält er eine Kriegsbeschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 v.H. Seit 1948 war er als Angestellter bei dem Finanzamt Itzehoe tätig; er erhielt zuletzt eine Vergütung nach BAT VII Fallgruppe 2, sein Aufgabengebiet entsprach dem eines Beamten des mittleren Dienstes. Im Dezember 1970 wurde er arbeitsunfähig krank geschrieben; seit Juli 1971 erhält er keine Vergütung mehr und lebt nach einem Krankengeldbezug bis Mai 1972 nur noch von seiner Kriegsbeschädigtenrente. Im Januar 1971 beantragte der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 24. März 1971 ab.
Die Klage führte in den Vorinstanzen zur Verurteilung der Beklagten zur Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Landessozialgericht (LSG) ist davon ausgegangen, daß der Kläger, der noch an Folgen einer Magenresektion und vor allem an Herz- und Kreislaufbeschwerden leidet, aus medizinischer Sicht nur noch halbschichtig Angestelltentätigkeiten sowie leichte körperliche Arbeiten vorwiegend im Sitzen verrichten kann. Nach einer von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) eingeholten Auskunft sei für den Kläger jedoch der Arbeitsmarkt im Bundesgebiet im Sinne der Beschlüsse des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (BSG 30, 167; 192) praktisch verschlossen. Die Unkündbarkeit seines Arbeitsverhältnisses nach dem Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) sei dabei ohne Bedeutung. Der Kläger sei seit Dezember 1970 ununterbrochen arbeitsunfähig, er arbeite nicht mehr und erhalte auch keine Vergütung. Zudem stelle es einen zur Kündigung berechtigenden wichtigen Grund dar, wenn ein an sich unkündbarer Angestellter unabsehbar lange arbeitsunfähig sei oder die ihm obliegende Tätigkeit überhaupt nicht mehr ordnungsmäßig verrichten könne. Keine Bedeutung komme auch dem Umstand zu, daß das Arbeitsverhältnis nach § 59 Abs. 1 BAT erst mit der Erteilung eines Bescheides über die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit ende. Es handele sich hier um eine Schutzvorschrift, die nicht dazu benutzt werden dürfe, einen Rentenbescheid hinauszuzögern oder gar Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit mit der Begründung zu verneinen, das Arbeitsverhältnis bestehe noch fort.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
unter Aufhebung der Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 30. Januar 1974 und des Sozialgerichts (SG) Itzehoe vom 10. Februar 1972 die Klage abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 24 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Das LSG habe verkannt, daß niemandem, dem ein Arbeitsplatz dauernd und nicht nur aus besonderem Entgegenkommen des Arbeitgebers zur Verfügung stehe, der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei. Daß dem Kläger aus wichtigen Gründen gekündigt werden könne, treffe nicht zu; der Arbeitgeber habe das vom LSG angenommene Kündigungsrecht so lange nicht, als er den Arbeitnehmer bei Anlegung eines besonders strengen Maßstabes und ohne einseitige Abstellung auf organisatorische Bedürfnisse noch sinnvoll beschäftigen könne; das Fehlen einer solchen Beschäftigungsmöglichkeit im gesamten Bundesgebiet sei nicht nachgewiesen. Der Vorwurf eines Mißbrauches der Vorschrift des § 59 BAT sei nicht gerechtfertigt. Lägen nämlich die Voraussetzungen der Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vor, so müsse der Versicherungsträger den Rentenanspruch ohne Rücksicht auf die genannte Tarifvertragsvorschrift anerkennen; gerade diese Voraussetzungen seien aber hier nicht erfüllt.
Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. In der Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger seine Klage auf die Zeit nach dem 7. Juli 1971 beschränkt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger hat für die allein noch streitige Zeit ab 8. Juli 1971 Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, Nach § 24 Abs. 2 AVG ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit an gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Das LSG hat hierzu zwar festgestellt, daß der Kläger nach seinem Leistungsvermögen noch halbschichtig Angestelltentätigkeiten und leichte körperliche Arbeiten vorwiegend im Sitzen verrichten kann. Es hat dieses Leistungsvermögen aber für unbeachtlich gehalten, weil dem Kläger der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei.
Diese Ansicht hat das LSG auf Feststellungen gegründet, die es einer Auskunft der BA entnommen hat. Die Beklagte hat gegen diese tatsächlichen Feststellungen keine Verfahrensrügen erhoben; sie sind daher für den Senat bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Hiernach hat das LSG den Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger im Sinne der Beschlüsse des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 als verschlossen ansehen dürfen.
Unter den Beteiligten ist insoweit nur streitig, ob das beim Kläger noch bestehende Arbeitsverhältnis den Arbeitsmarkt für ihn dennoch offen erscheinen läßt. Die Beklagte will hier an die Rechtsprechung (BSG 19, 147 [149]; 30, 167 [185]) anknüpfen, die einen verschlossenen Arbeitsmarkt verneint, wenn der Versicherte einen seinem geminderten Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz tatsächlich innehat (vgl. hierzu auch Urteil des 1. Senats vom 12. Dezember 1974 – 1 RA 33/74 –). Sie übersieht jedoch, daß dabei nur an Arbeitsplätze gedacht ist, auf denen der Versicherte auch tatsächlich Erwerbseinkünfte erzielt. Eine Verweisung auf bloß „formale” Arbeitsplätze wäre mit der den Beschlüssen des Großen Senats zugrunde liegenden konkreten Betrachtungsweise unvereinbar. Einen Arbeitsplatz mit tatsächlich gezahltem Arbeitsentgelt hat der Kläger aber nur bis Juni 1971 innegehabt.
In BSG 30, 167, 185 hat der Große Senat einen offenen Arbeitsmarkt allerdings außerdem bejaht, wenn ein Versicherter die Einnahme eines seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Arbeitsplatzes ohne triftigen Grund ablehnt. Dem ist der Fall gleichgestellt worden, daß die Arbeitsverwaltung dem Versicherten bei entsprechendem Bemühen einen geeigneten Teilzeitarbeitsplatz vermittelt hätte (SozR Nr. 111, 115 zu § 1246 RVO). In Fortführung dieser Rechtsgedanken, die letztlich nur Ausfluß des auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben sind, wäre deshalb zu fragen, ob sich der Kläger nicht entgegenhalten lassen muß, daß er sich nicht ausreichend um die Zuweisung einer mit Entgeltszahlung verbundenen Halbtagstätigkeit im Gesamtbereich der Finanzverwaltung bemüht habe.
Der Senat hat auch das verneint. Insoweit mag die Beklagte zwar recht haben, daß der Arbeitgeber des Klägers diesem gegenüber eine Beschäftigungs- und Fürsorgepflicht hat (vgl. BAG AP Nr. 10 zu § 615 BGB mit Anm. von Hueck; Nr. 27 zu § 611 BGB – Fürsorgepflicht –; Nr. 1 zu § 626 BGB – Krankheit –) und daß er hiernach dem Kläger, zumal dieser Schwerbehinderter ist, einen geeigneten Halbtagsarbeitsplatz zuweisen müßte, sofern ein solcher vorhanden oder zu schaffen ist. Die vom LSG eingeholte Auskunft der Oberfinanzdirektion hat jedoch dargelegt, daß diese eine Halbtagsbeschäftigung des Klägers in ihrem Bereich nicht für möglich hält, wie das schon der Kläger dem SG erklärt hatte. Infolgedessen wäre der Kläger, dem bereits ein Durchschauen der Rechtslage nicht ohne weiteres zuzutrauen ist, genötigt, den Klageweg zum Arbeitsgericht zu beschreiten. Der Ausgang eines solchen Rechtsstreits wäre aber schon deswegen unsicher, weil die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Voraussetzungen, unter denen ein früher ganztägig beschäftigter, jetzt aber nur noch zur Teilzeitarbeit fähiger Arbeitnehmer vom Arbeitgeber die Zuweisung eines Teilzeitarbeitsplatzes verlangen kann, noch nicht ausreichend geklärt hat (vgl. BAG AP Nr. 1, 2 zu § 55 BAT; Nr. 3 zu § 611 BGB mit Anm. von Zeiss). Unter diesen Umständen konnte und kann vom Kläger eine Klageerhebung beim Arbeitsgericht nach Treu und Glauben nicht verlangt werden.
Wie zu entscheiden wäre, wenn die Beklagte dem Kläger bei der Verfolgung seiner Rechte durch Herantreten an den Arbeitgeber, Erteilung von Rechtsrat oder Vorlage der Prozeßkosten Hilfe geleistet bzw. angeboten hätte, kann hier dahinstehen.
Somit war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Dr. Buss, Heyer, Dr. Zimmer
Fundstellen