Entscheidungsstichwort (Thema)
MdE-Bewertung bei Oberschenkelamputation
Orientierungssatz
Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz dahingehend, daß Oberschenkelamputierte regelmäßig zu 60 vH erwerbsbeschränkt sind; vielmehr muß für jeden Einzelfall geprüft werden, ob die Voraussetzungen des RVO § 1254 vorliegen.
Normenkette
RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17
Tenor
Unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Schleswig vom 9. Mai 1955 wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der am 16. März 1901 geborene Kläger war von Beruf Transportarbeiter. Im Jahre 1944 mußte ihm infolge einer Kriegsverwundung das linke Bein in der Mitte des Oberschenkels amputiert werden. Er bezieht eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70 v.H.. Auf seinen Antrag wurde ihm durch Bescheid der Beklagten vom 15. April 1948 die Invalidenrente gewährt. Diesem Bescheid lag das Gutachten des Dr. Wicke vom 7. März 1947 zugrunde. Dieser Gutachter schätzte auf Grund der erhobenen Befunde - Oberschenkelamputation bei einer Stumpflänge von 25 cm - die Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers auf 70 v.H.. Die von der Beklagten veranlaßten Nachbegutachtungen in den Jahren 1949 und 1951 führten zu den gleicher Ergebnissen. Nach Änderung der Beinprothese arbeitete der Kläger von April 1951 bis Anfang 1954 bei der Gemeinde Bistensee als Straßenaufseher für eine monatliche Entschädigung von 25 bis 35 DM. Bei einer erneuten Begutachtung des Klägers am 3. November 1953 stellte der Facharzt für Chirurgie Dr. S außer dem Verlust des linken Beines in der Mitte des Oberschenkels eine Dupuytren'sche Kontraktur des Ringfingers der rechten Hand mit Streckbehinderung dieses Fingers fest und vertrat die Ansicht, daß der Kläger infolge Gewöhnung und Anpassung an den Beinverlust mittelschwere Arbeit im Sitzen fortgesetzt und im Stehen mit Unterbrechung verrichten könne. Demzufolge nahm die Beklagte eine wesentliche Besserung an, verneinte Invalidität und entzog dem Kläger durch Bescheid vom 13. November 1953 die Invalidenrente mit Ablauf des Monats November 1953. Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Berufung ein, die nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes als Klage auf das Sozialgericht überging. Dieses hob den Entziehungsbescheid durch Urteil vom 17. September 1954 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger die Invalidenrente über den 30. November 1953 hinaus weiter zu gewähren. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte Berufung bei dem Landessozialgericht Schleswig ein.
Der von dem Landessozialgericht als ärztlicher Sachverständiger gehörte Facharzt für Chirurgie Prof. Dr. J, Kiel, hielt den Kläger für fähig, leichte und mittelschwere Arbeiten im Sitzen und im Stehen mit Unterbrechung zu verrichten. Die Kontraktur am rechten Ringfinger sei von unwesentlicher Bedeutung und einer operativen Korrektur leicht zugänglich.
Das Landessozialgericht wies durch Urteil vom 9. Mai 1955 die Berufung mit der Begründung zurück, daß der Kläger nicht in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld wettbewerbsfähig in Erscheinung zu treten. Infolge der technischen Entwicklung des Oberschenkelkunstbeines in den letzten 30 Jahren sei heute zwar davon auszugehen, daß ein Oberschenkelamputierter nach guter Versorgung mit einem Kunstglied sich den veränderten Verhältnissen nach Ablauf einer angemessenen Frist derart angepaßt habe, daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit grundsätzlich auf 60 v.H. einzuschätzen sei, so daß Invalidität bei Zugrundelegung der Zweidrittelgrenze nicht mehr gegeben sei. Dagegen sei Invalidität bei Anwendung der Halbgrenze in der Regel in einem solchen Falle anzunehmen. Nur wenn der Versicherte durch längere, wirtschaftlich nutzbringende Arbeitsleistung bewiesen habe, daß er sich auf dem allgemeinen Arbeitsfeld zu behaupten vermöge, sei er als fähig zum Erwerb der gesetzlichen Lohnhälfte anzusehen. Dies sei jedoch bei dem Kläger nicht der Fall. Seine Beschäftigung sei als ausgesprochene Invalidentätigkeit zu bewerten. Der Kläger sei daher auch weiterhin als invalide zu betrachten und nicht mehr in der Lage, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld mehr als die Hälfte des ortsüblichen Lohnes zu erwerben.
Das Landessozialgericht hat die Revision gegen dieses Urteil zugelassen. Es wurde der Beklagten am 16. Juli 1955 zugestellt. Sie legte am 2. August 1955 - unter Stellung eines Antrages - Revision ein und begründete sie am 11. August 1955.
Sie rügt die Verletzung der Amtsermittlungspflicht und die unrichtige Anwendung des § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Landessozialgericht. Dieses habe es unterlassen, Einzelerhebungen darüber anzustellen, ob die Voraussetzungen der Invalidität bei dem Kläger vorliegen, habe sich weiterhin unzulässigerweise auf einen Erfahrungssatz des Inhalts gestützt, daß Oberschenkelamputierte in der Regel 60 v.H. erwerbsbeschränkt seien, obwohl es einen solchen Erfahrungssatz nicht gebe.
Sie beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 9. Mai 1955 und das Urteil des Sozialgerichts vom 17. September 1954 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 9. September 1955 als unbegründet zurückzuweisen und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Er ist der Ansicht, daß die Gründe des angefochtenen Urteils richtig seien. Im übrigen habe sich sein Zustand seit der Rentenberechtigung nicht gebessert, so daß die Rente nicht entzogen werden dürfe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat. Sie ist auch begründet.
Das Landessozialgericht ist ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß § 1293 Abs. 2 RVO in dem Gebiet der ehemaligen britischen Zone auf Grund von Ziff.1 der Sozialversicherungsdirektive Nr. 3 noch gilt. Diese Auffassung entspricht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 9.2.1956 - 1 RA 5/55 -, dem sich der erkennende Senat bereits angeschlossen hat). Die Invalidenrente konnte daher entzogen werden, wenn eine neue Prüfung ergab, daß der Kläger nicht invalide war.
Das Landessozialgericht hat jedoch nicht genügend beachtet, daß bei der Feststellung der Voraussetzungen des § 1254 RVO in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob diese Voraussetzungen bei dem einzelnen Versicherten vorliegen. Es ist vielmehr von einem allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts ausgegangen, daß Oberschenkelamputierte nach ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung bei Fehlen sonstiger Leiden, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliege, 60 v.H. erwerbsbeschränkt und damit nach der heute maßgebenden Fassung des § 1254 RVO invalide seien.
Es erscheint zwar im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (z.B. AN. 21, 334; EuM. 33, 46; EuM. 47, 366 - vgl. auch Bayer. LVA. Amtsbl. 50, 24; Breith. 48, 64; 52, 1004) zulässig, für bestimmte typische Sachverhalte auch bei der Beurteilung der Frage des Vorliegens von Invalidität Erfahrungssätze aufzustellen, wobei jedoch zu beachten ist, daß der Invalidenversicherung eine auf bestimmte Hundertsätze abgestellte Bewertung fremd und daher unzulässig ist (vgl. Verb. Komm. § 1254 RVO Anm. 32). Es ist aber mit dem Reichsversicherungsamt (EuM. 21, 234) nachdrücklich vor der Anwendung eines "schablonenhaften Verfahrens" zu warnen. Ein Erfahrungssatz wird sich nur aufstellen lassen, wenn von einer zeitlich und sachlich völlig ausreichend gesicherten Erfahrung ausgegangen werden kann, die bei einem dem Inhalt des Satzes entsprechenden typischen Sachverhalt hinsichtlich der Frage der Beurteilung der Invalidität stets zu demselben Ergebnis führen muß. Den von dem Landessozialgericht aufgestellten Erfahrungssatz, Oberschenkelamputierte könnten unter den geschilderten Umständen regelmäßig nicht mehr die Hälfte des Vergleichslohns erwerben, gibt es jedoch nicht, da für derartige Beschädigte die Erwerbsfähigkeit erfahrungsgemäß gerade an dieser kritischen Grenze liegt. Nach der Lage des Einzelfalls wird diese Grenze teils unterschritten, teils überschritten werden.
Da das Landessozialgericht unzulässigerweise von einem nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen ist, war seine Entscheidung fehlerhaft. Es hätte für den Einzelfall Erhebungen anstellen müssen, ob die Voraussetzungen des § 1254 RVO vorliegen. Bei dieser Feststellung kommt es nicht nur auf die Leiden des Versicherten, sondern auch auf seine körperliche und geistige Konstitution und auf sein Alter an. Auch ist zu klären, welche Tätigkeiten ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes nach den ihm verbliebenen Kräften und Fähigkeiten noch zugemutet werden können, ob es solche Tätigkeiten in dem Wirtschaftsgebiet, in dem er wohnt, gibt, und ob er in der Lage ist, durch eine solche Tätigkeit die Hälfte dessen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.
Das angefochtene Urteil mußte daher nach § 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden. Der erkennende Senat konnte nicht selbst in der Sache entscheiden, da es an ausreichenden Feststellungen unter Beachtung der angeführten Grundsätze mangelt.
Die Kostenentscheidung ist dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen